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Als Wilhelm heute mittag fortgegangen war, hatte sich Anna – froh, ein bißchen allein sein zu können – in die Ecke beim Stammtisch gesetzt und sich mit einer Näharbeit beschäftigt. Sie kam damit nicht gerade vorwärts, die Finger waren nicht flink genug, und auch die Augen strengten sich bei dieser »pusseligen« Arbeit zu sehr an.
Dann sanken ihr die Hände in den Schoß, und die Blicke wanderten umher in dem Raum, der um diese Zeit von Gästen leer war. Durch die hochgelegenen Fenster fiel ein etwas totes Licht herein – auf die weißgescheuerten Tische, die sandbestreuten Dielen, den Schanktisch und den Vorrat an Würsten, die dort an der Decke hingen.
Ein Zug der Befriedigung glitt über ihr Gesicht: Die Gäste brauchten es gar nicht zu sagen, sie wußte es ganz allein, daß dieser düstere, muffige Kellerraum eine Goldgrube geworden war. Ja, sie hatte wohl eine glückliche Hand, »et flutschte«, wo sie anpackte, wie Tante Marie sagte. Aber hatte sie sich nicht ordentlich abgerackert, verstand sie es nicht, auf dem Markt einzukaufen und gut zu kochen, ja – das wollte sie ja gewiß nicht bestreiten, von der »ollen Lemken« draußen in Schöneberg hatte sie wohl etwas gelernt.
Seitdem nun da drüben der Neubau war und auch die Maurer zum Frühstück und Mittagstisch kamen, konnte sie es kaum noch schaffen. »Ick müßte ja zehn Arme und zehn Beene haben«, pflegte sie zu sagen, wenn die Gäste zu ungestüm wurden. Na ja – und nun jetzt, in der Verfassung, konnte sie doch nicht so rennen und traben. Das Ticken der Uhr machte sie schläfrig, und um nicht einzunicken, versuchte sie, ihre Gedanken auf das zu richten, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. Aber sie hatte eigentlich nur immer die eine Vorstellung, daß der Oleander, der oben vor der Kellertür stand, begossen werden müßte, »ooch der Jummiboom wird schön vatrocknet sind«, dann wehrte sie im Halbschlaf eine aufdringliche Fliege ab, und dann, ja dann war sie wohl eingedruselt.
Sie fuhr zusammen, als jetzt jemand holterdipolter die Kellertreppe herunterkam und in die Gaststube stolperte. »Meen Jott, Mensch, ham Se ma aschrocken«, kreischte sie und preßte die Hand auf die Brust, und aus ganz verstörten Augen blickte sie auf den alten Hausierer, der ebenfalls ganz atemlos war und sich vergeblich bemühte, ein Wort hervorzubringen.
»Schöne junge Frau, wat hat Ihnen der olle Hausierer jesacht? Selber wollt er'n reicher Mann werden un det Los for sich behalten, weil es det letzte war mit der Glückszahl in der Mitte. Nischt Falsches hat er jesacht! Se ham fünftausend Taler in de Lotterie jewonnen!«
Anna hatte die Empfindung, als wäre ihr ganz sacht, dann schneller, immer schneller der Boden unter den Füßen weggezogen. Unwillkürlich breitete sie die Arme aus. »Tante Ma–riiie!« gellte sie in langgezogenem Schrei, dann wurde es ihr schwarz vor den Augen, die Beine knickten ihr ein, und dem alten Hausierer glückte es gerade noch, die Ohnmächtige beim Hinstürzen aufzuhalten.
»Det jroße Jlück hat se überwältigt«, murmelte er, schob ihr eine Unterlage unter den Kopf und lief, so rasch es seine alten Beine vermochten, in den Hof, um Hilfe herbeizuholen. Dort hatte man den Schrei wohl gehört, aus allen Fenstern steckten die Hausbewohner die Köpfe heraus, nur Tante Marie, die friedlich in ihrer Laube saß, hatte nichts gemerkt. Nun wurde aber auch sie durch das Stimmengewirr aufmerksam, und als sie den Portier auf sich zueilen sah, rief sie wie zur Entschuldigung: »Ja doch, ja doch, ick komm ja schon, ick komm ja schoon!« – – – – – Und dann sah man nachher vor der »unterirdischen Tante« und den Türen der Nachbarhäuser ganze Gruppen erregter Frauen, die die ungewöhnlichen Vorgänge besprachen.
»Und jrade an so'n Tare muß der Mann nich ßu Hause sind, aber det is ja immer so mit die Männa – sonst hacken se een uff die Pelle, und man kann se mit alle Jewalt nich loswerden, und denn, wenn man se braucht, kann man sich de Lunge nach se ausschreien!«
Aber die Frau des Portiers war anderer Ansicht. »Ick wißte nich, wozu man da die Männa bei braucht, ins Jejenteil, bloß wech mit se, die werden sonst janz varickt bei. Meener hat det letztemal, jerade wie et losjing, vor lauter Uffrejung die Fensta jeputzt!«
»Na – und meener erst«, sagte eine andere, »Se werden det janich for mechlich halten, der hat det Schnippseln jekricht und sich mit meene Schere de Haare von'n Kopp jeschnitten.«
»Ick kann ma ja noch besinnen«, bestätigte eine andere, »Ihr Mann sah ja nachher aus wie ne Spinatwachtel, de Kinder schrien et ja hinter ihn her!«
Und diese Unterhaltungen dauerten fort, bis die Dämmerung hereinbrach, der Laternenanzünder durch die Straßen ging und für Beleuchtung sorgte.
Um diese Zeit kam Wilhelm, ahnungslos von dem Umschwung in seinen Verhältnissen, heim. Es war bei Onkel August und Tante Liese nachher noch ganz nett geworden, man hatte das Photographiealbum durchblättert und Karten gespielt, und Tante Liese hatte Wilhelm zu guter Letzt davon überzeugt, daß es das beste wäre, wenn er sich mit seinen Eltern – die nach ihrer Meinung ganz im Recht waren – wieder aussöhnte.
Nun stieg er, noch immer ganz erfüllt von diesem Gedanken, die Kellertreppe hinunter und trat in die Schankstube. Hier hatte Tante Marie keinen leichten Stand gehabt. Unter den vielen Gästen, die sich eingefunden, hatte es so manchen gegeben, der für eine Feier des freudigen Ereignisses gestimmt und auf das nötige Freibier gerechnet hatte. Und wenn Tante Marie auch fleißig eingeschenkt und nicht so peinlich genau wie sonst auf die Bezahlung geachtet, so war sie doch ganz entschieden dagegen gewesen, daß die fidele Stimmung gar zu laut geworden war.
»Se missen doch 'n bißken Rücksicht uff die junge Mutta nehmen, det is doch keen kleenet Stick, so'n strammen Bengel uff die Welt zu bringen!« Und die Verheißung, daß das Ereignis später ja gebührend gefeiert werden würde, hatte schließlich gewirkt, und die »Radaubrieda« waren abgezogen. Nur die guten Bekannten, die selbst für Ruhe und Ordnung waren, tranken am Stammtisch ihre Weiße und erzählten sich gegenseitig, wie es bei ihnen gewesen war, »als der erste vom Klappastorch jebracht worden war« – so, wie es heute nachmittag die Frauen getan, nur daß sie sich dabei in weit günstigerer Beleuchtung zeigten.
Und diese Gesellschaft trat nun, wie auf Kommando, auf Wilhelm zu und gratulierte ihm. Noch begriff er nicht, wurde nicht klug daraus und dachte, es solle ein Witz sein. Seine Augen suchten Anna, aber als er nur Tante Marie erblickte, überkam ihn ein Gefühl, als sei hier wirklich etwas »los«. Und da drängte sich auch Tante Marie schon in den Kreis, zog Wilhelm am Ärmel und führte ihn nach der Hinterstube, schob ihn hinein und schloß schnell die Tür wieder.
Und Wilhelm kam nicht wieder zum Vorschein. Als Tante Marie dann, nun selber neugierig, nachsah, fand sie ihn ganz verweint und mit dickem, rotem Kopf an Annas Bette sitzen.
»Na – Willem, stattste dia freust, sitzte nu so bekleckert da«, sagte die alte Frau gutmütig, »haste dir'n denn schon anjesehen?«
Wilhelms Schultern begannen wieder zu zucken, er vermochte kein Wort hervorzubringen.
»Wie aus de Ogen jeschnitten is'r dia!« sagte Tante Marie.
»Laß'n man, Tante«, sagte Anna, »Willem is schon so jerihrt, mach'n ma bloß nich noch rihrijer, ick bin heite zu schwach, ick kann ihm nich beistehen!«
»Ja, et is merkwirdich mit die Mannsleite, denn tun se – aba ooch alle durch de Bank – als wenn sie Mutta jeworden wären. Denn jeht ihn'n plötzlich 'n Kandelaba uff, denn bejreifen se, wat sonne arme Frau uff sich nimmt mit det Kinderkriejen. Aber vorher – – –«
»Du wirst mir'n noch janz koppschei machen«, sagte Anna vorwurfsvoll – »hör doch schon uff. Und denn, Tante, wat soll denn die traurije Beleichtung, det is doch hia keene Totenfeier! Mach den ollen Schirm von die Lampe wech, det man wat sieht. Wenn ick bloß nich hier so liejen müßte, et juckt ma in de Fingaspitzen.«
»Jawoll, ick werd dia mit Uffstehen«, sagte Tante Marie, »du bist woll nich recht jescheit! Denn kannste dia ooch jleich dein Sarch koofen jehen und die Jrabstelle aussuchen!«