Rudolf Gottschall
Im Banne des Schwarzen Adlers
Rudolf Gottschall

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Sechstes Kapitel.

In Thaliens Reich.

Lange konnte Arthur sich über den Eindruck des letzten Besuches nicht beruhigen; mit verführerischem Reiz erschien ihm die hohe Mädchengestalt in allen ihren Bewegungen, mochte sie vor der Madonna niederknieen, oder mit freundlichem Gruß ihm die Hand reichen, von solchem Adel der Schönheit, als wäre sie von dem Meißel des Bildhauers gestaltet. Hatte sie doch diesmal die entstellende Tracht der Mode abgelegt, diese Umhüllungen, welche als ebensoviele Verkrustungen der angeborenen Schönheit erscheinen mußten, und in einer Zeit, in welcher der Sinn für dieselbe unter einem abgeschmackten Schnörkelwesen fast verschwunden war, hatte Arthur für alles Feinere, für jeden frischen Lebenshauch sich die wärmste Empfänglichkeit gewahrt. Doch noch mehr als dieser 100 Reiz edler Formen hatte ihn die Wärme, die leidenschaftliche Hingebung des Mädchens ergriffen; er wußte, daß sie ihn glühend liebe, daß sie von ihm aus Verhältnissen gerettet werden wollte, die mit dumpfem Druck auf ihr lasteten. Gleichwohl war es ihr selbst unmöglich, sich von dem Bann derselben zu befreien; die Heiligen und die Königin mit dem Heiligenscheine waren allmächtig in ihrer Seele. Und hätte er jeden Wunsch ihr erfüllt, um sie zu besitzen: diesen einen konnte er ihr nimmer gewähren, sich nie einer Wandlung seiner Ueberzeugungen schuldig machen.

So oft er die zierlich durchbrochenen Domthürme sah, so oft er von der Ziegelbastion das malerische Bild der Breslauer Kircheninseln in sich aufnahm, fühlte er eine fast unwiderstehliche Sehnsucht, hinüberzueilen, sie noch einmal zu sehen, zu sprechen; es war ihm, als wenn ihre flehentlichen Wünsche sich an ihm festklammerten, ihn hinüberziehen wollten, als müßte er sie retten aus dem Netz von Intriguen, in das sie verstrickt war, aus Demüthigungen und Verführungen, die er aus ihren dunklen Reden heraus geahnt hatte.

Dann aber trat der heißen Sehnsucht die unerbittliche Einsicht gegenüber, daß in der That ein geistiger Abgrund unausfüllbar zwischen ihnen gähnte, daß ihre im tiefsten Kirchenbann gefesselte Seele sich 101 nicht für ein freies Leben gewinnen lasse, daß hier nichts übrig bleibe, als ein entschiedener Bruch. Auch im Hinblick auf seine Familie war ihm dies schmerzlich; er trat dem Wunsche seines greisen Vaters entgegen; der Ausgleich des Rechtsstreites durch eine versöhnende That der Liebe mußte ja von ihm um so dringlicher ersehnt werden, je mehr es den Anschein gewann, als ob der Prozeß zu Ungunsten der Seinigen entschieden werden würde. Doch was war ihm dies alles gegen Manneswerth einer festen Ueberzeugung? Es war ihm unmöglich, gegen den König von Preußen die Waffen zu ergreifen. So blieb ihm nichts für das schöne Mädchen der Dominsel, als ein Gefühl wehmüthiger Trauer; denn sie war für ihn und wie es schien, auch für sich selbst, für das Glück des Lebens verloren.

Und als er so vor dem inneren Sinne alle die Schiffbrüchigen vorüberziehen sah, die der Sturm des Lebens an die Klippen geworfen, da trat auch das Bild der bleichen Marie wieder vor ihn hin, auch dasjenige des ehrwürdigen Eremiten; er fühlte die Sehnsucht, von ihm zu hören, ihn womöglich zu sehen und zu sprechen. Was hatte Sigismund von Reideburg für ihn gethan? Obgleich er nach den Vorgängen im Locatelli'schen Saale ein Gefühl der Abneigung gegen den Oberamtsassessor empfand, so war dieser doch der 102 einzige, der ihm über alle diese Fragen Auskunft ertheilen konnte, und er beschloß, ihn aufzusuchen.

Zu Hause fand er den vielbeschäftigten Beamten nicht, was in diesen unruhigen Zeiten, wo das Oberamt einer auf beweglichem Sumpf hin- und herschwankenden Insel glich, nicht befremden konnte; man sagte ihm indeß, der Assessor sei in später Abendstunde bei Locatelli zu treffen, und Arthur begab sich dorthin, als der Thürmer vom Rathsthurme die neunte Stunde blies.

Er fand ihn nicht in den Räumen, wo zahlreiche Gäste sich bei dem Weinglase versammelt hatten; doch war Herr von Reideburg kein Fremdling hier; so wenig zartfühlend es Arthur fand, daß er grade hier, wo seine Brautschaft ein so trauriges Ende gefunden, seine Abendvergnügungen suchte. Der Wirth selbst eilte rasch, den Junker anzumelden, in das gesonderte Zimmer, welches Sigismund in Pacht genommen zu haben schien, und kehrte zurück mit der Antwort, der Besucher werde willkommen sein.

Als Arthur sich der Thüre näherte, tönte ihm ein schallendes Gelächter aus dem Zimmer entgegen, bei welchem mehrere helle Frauenstimmen die höheren Octaven vertraten. Eintretend erblickte der Junker dann bei rothfunkelnden Ungarflaschen und Gläsern eine sehr heitere Gesellschaft; Schauspielerinnen und 103 Schauspieler im Costüm saßen auf Sesseln und Sophas umher, Sigismund mitten unter ihnen. Seine Nachbarin war eine voll aufgeblühte reifere Schönheit in antiker Gewandung, in welcher unsere Leser alsbald die rathgebende Freundin des Assessors, die üppige Kleopatra, erkannt hätten, welcher inzwischen durch die Gunst des Oberamts die Führerschaft der Breslauer Truppe anvertraut war.

»Da kommt die Avantgarde,« rief Sigismund mit frohem Lachen, »nun kann die Potsdamer Wachtparade nicht mehr fern sein. Nichts für ungut, setze Dich hier in unseren heiteren Kreis; wir sind hier vollkommen neutral und laden unsere Mörser!« Er zog Arthur auf einen Sessel neben sich, von dem ein Schauspieler rücksichtsvoll aufgestanden war, und schenkte ihm ein Glas Tokaier ein.

»Ich störe hier,« sagte Arthur, »ich habe ein Anliegen an Dich.«

»Von Geschäften nachher! Das ist hier verbotene Waare! Beim Nachhausegehen stehe ich zu Diensten! Dergleichen ist für's Straßenpflaster, auf dem man ohnedies schon von den Hühneraugen zu leiden hat. Hier herrscht nur das Vergnügen! Du siehst hier die Blüthe der Breslauer Kunst, ich brauche Dir blos diese Namen zu nennen, und Du wirst das Gefühl haben, als wärest Du in einen Lorberhain getreten.«

104 Sigismund stellte die vier Damen und zwei Herren dem Junker vor, welcher von den ersteren mit einem ehrfurchtsvollen Knix begrüßt wurde.

»Wir bilden hier eine kleine Gemeinde,« fuhr Sigismund fort, »die sich aus der langweiligen Welt in das Reich der neun Musen und der drei Grazien geflüchtet hat. Diese himmlischen Frauenzimmer trösten uns in einer Zeit, in der's vor lauter Anstand nicht auszuhalten ist. Wir sind hier für's olympische Negligee – und Du wirst mir zugeben, daß es besser kleidet, als der Reifrock und das Toupet. Damen und Herren erscheinen hier in dem Costüm, das sie selbst für das kleidsamste halten; wir ziehen natürlich keine Folgerungen, die bis in das Paradies zurückreichen.«

Eine kleine Ballet-Schäferin, die dicht an Edens Grenze weilte, konnte bei dieser Bemerkung ein Kichern nicht unterdrücken.

»Außerdem,« sagte Sigismund, »vermeiden wir hier den schleppenden Kurialstyl des Lebens, wir sprechen in Versen, und zwar in den Versen unserer besten Dichter. Dies ist nicht so leicht, wie Du meinst! Von unserer Bühne sind diese Dichter zum großen Theil verbannt; da herrscht die erbärmliche Prosa der Haupt- und Staatsactionen, aus der man keinen 105 einzigen Gedanken herausnehmen kann. Diese Damen und Herren müssen daher ihre Privatstudien machen – und das will viel sagen; denn ein Künstler, der studirt, verdient aufgehangen zu werden, ich meine in effigie und zwar in unserem Fürstensaal neben den berühmtesten Männern – die kein Mensch mehr kennt. Wir studiren Dramen, Gedichte, wir führen bisweilen ein Stück von Gryphius und Lohenstein auf. Das sind andere Werke als die Haupt- und Staatsactionen und der »sterbende Cato,« bei dem man vor langer Weile stirbt. Was mich betrifft, so weißt Du von der Liegnitzer Ritterakademie her, daß ich ein verpfuschter Schöngeist bin und daß ich das Unglück habe, mir alle guten und schlechten Verse zu behalten, die ich je gelesen, was meinen Styl bei dem kaiserlichen Oberamt oft zu schwunghaft macht. Du selbst kannst hier in Prosa sprechen, wir haben bisweilen unsere prosaischen Pausen; doch wenn ich hier die Klingel ertönen lasse, dann beginnt die Herrschaft der Poesie.«

Sigismund klingelte und begann alsbald den dichterischen Reigen mit den Versen des würdigen Breslauer Rathspräses, der in seinen Gedichten oft ein so ungezogener Liebling der Kamönen war. Zu seiner Nachbarin gewandt, die er ohne Weiteres an sein Herz drückte, deklamirte er: 106

Amande, liebstes Kind,. Du Brustlatz kalter Herzen,
Der Liebe Feuerzeug, Goldschachtel edler Zier,
Der Seufzer Blasebalg, des Trauerns Löschpapier,
Sandbüchse meiner Pein und Baumöl meiner Schmerzen,
Du Speise meiner Lust, Du Flamme meiner Kerzen,
Der Complimenten Sitz, Du Meisterin zu scherzen,
Der Tugend Quodlibet, Kalender meiner Zeit,
Lichtputze meiner Noth – und Flederwisch der Sorgen.

Ein schallendes Gelächter begrüßte diese Hoffmannswaldau'schen Verse, welche Sigismund nicht ohne Auslassungen und Gedächtnißfehler vorgetragen hatte.

Kleopatra aber erwiderte schalkhaft, indem sie eine tragische Bombe aus Lohensteins »Ibrahim Bassa« über dem Haupte ihres Verehrers platzen ließ, der sie noch immer umschlungen hielt, und dem sie einzelne Stellen mit scharf hervorgehobener Betonung zuwarf:

Ha Bluthund, ha unmenschlich's Mensch, verzweifelter Tyrann!
Durchteufeltes Gemüth! Erzmörder Solyman!
Erzmörder! Ach! hab' ich
Dich, Tiegerthier, dich Wurm mit meiner Milch gesogen?
Hab' ich Dich, Drache, mich zu fressen auferzogen?
Was stiftest Du, Du Greuel dieser Zeit!
Auf Ibrahims geweihtem Kopf für Leid!
Blitzet, ach! blitzet, ihr Wolken und machet
Von den umfesselnden Lastern mich los!

107 Und mit einem kräftigen tragischen Ruck schleuderte sie das umfesselnde Laster in der Gestalt des Oberamtsassessors in eine Sophaecke.

Lauter Jubel begrüßte die verwegene That der Bandenführerin, und sie belohnte sich selbst dafür, indem sie ein volles Glas Tokaierausbruch mit einem Zuge leerte.

Da erhob sich die niedliche Schäferin, sprang auf den Stuhl und begann Paul Flemmings Tanzlied:

Laßt uns tanzen, laßt uns springen!
Denn die wollustvolle Heerde
Tanzt zum Klange der Schalmeien.
Hirt und Heerde muß sich freuen,
Wenn im Tanz auf grüner Erde
Böck' und Lämmer lieblich ringen,
Laßt uns tanzen, laßt uns springen,
Laßt uns laufen für und für.

»Daphne soll tanzen,« rief der Assessor, »wofür haben wir das Ballet! Sie deklamirt mit ihren Füßchen besser, als andere mit ihren Lippen. Wir bauen ihr eine Bühne – rückt die Tische zusammen!«

Alle stellten Gläser und Flaschen beiseite, nahmen einen großen in der Ecke stehenden Schenktisch zu Hilfe und bauten ein Tanzgerüst, an dessen vier Ecken vier Flaschen aufgestellt waren, welche die gewandte Tänzerin nicht berühren durfte. Daphne bestieg das 108 Podium. Das Ballet war damals mehr Pantomime als wirbelnde Kunstfertigkeit der Füße und Beine, und Daphne suchte auch ihre Aufgabe mehr durch anmuthige Stellungen und sinnreiches Geberdenspiel zu lösen. Zuletzt aber, als die von dem Gott verfolgte Nymphe sich zu retten suchte, erschien das Podium für ihre blitzschnellen Bewegungen nicht geräumig genug; längere Zeit gelang es ihr, sich im Gleichgewicht zu halten und im Sturm und Wirbel mit den flatternden Gewändern die zerbrechlichen Grenzpfeiler ihres sylphidischen Reiches zu verschonen. Doch als der unsichtbare Sonnengott sie immer leidenschaftlicher verfolgte, da gerieth ihr Füßchen an die Tokaierflasche, deren rothe Flut auf das Atlasgewand der ersten Liebhaberin sich ergoß, und als Daphne durch eine erschrockene Bewegung nach rückwärts vor dem angestifteten Unheil die Flucht ergriff, verlor sie das Gleichgewicht und stürzte in Arthurs Arme, der sich von der süßen Last so rasch als möglich zu befreien suchte.

Aus dem allgemeinen Tumult tönten am vernehmlichsten die Schmähreden der in ihrem theuersten Besitz verletzten Liebhaberin, der sich mit heftigen Geberden eine eifersüchtige Chloë anschloß, welche die Lorbern der Daphne nicht schlafen ließen. Die anderen wurden durch den Unfall in neue Heiterkeit versetzt, die sich in schallendem Gelächter äußerte.

109 »Diese Daphne verdient in der That, in einen Lorber verwandelt zu werden,« rief Sigismund; doch erst als er der Liebhaberin ein neues Kleid versprach, wurde der Lärm beschwichtigt. Indeß kam es nicht mehr zu einem ruhigen Verein; man rückte die Tische, man stand in Gruppen umher, und Arthur hoffte auf ein baldiges Ende dieses lärmenden Künstler-Kränzchens, um bei Sigismund sein Anliegen vorbringen zu können.

Doch noch einmal erhob dieser die Klingel; noch einmal regneten die Citate herüber und hinüber, und Arthur mußte trotz seiner Ungeduld sowohl die Geistesgegenwart und Gewandtheit in diesem poetischen Federballspiel, wie die Kenntniß der schlesischen Dichter bewundern, welche sich die Mitglieder des Vereins angeeignet hatten und welche damals keineswegs mehr in weiteren Kreisen zu finden war. Sigismund selbst ergriff das Wort und sprach zu Arthur gewendet:

Betrübtes Schlesien, bestürztes Vaterland,
Was hast du, das der Grimm der Seuchen nicht verzehrt,
Das der geschwinde Blitz der Schwerter nicht verheert!

und sprang dann rasch von Gryphius zu Abschatz über:

Nun ist es Zeit zu wachen,
Eh' Deutschlands Freiheit stirbt,
Und in dem weiten Rachen
Des Krokodills verdirbt.

110 Und Arthur, der sich so geradezu herausgefordert sah, glaubte bei dem dichterischen Turnier doch nicht ein vielleicht gering geschätzter Zuhörer bleiben zu müssen; er antwortete, indem er die Verse, die Christian Günther auf den Prinzen Eugen gedichtet hatte, auf Friedrich anwandte:

Nur drauf, du Kern der deutschen Treu'!
Nur drauf, du Kern aus Hermanns Hüften!
Beweise, wer Dein Ahnherr sei,
Und krön' ihn auch noch in den Grüften.
O Prinz, o großer Prinz, wie weit,
Wie weit entfernst Du Dich dem Neide,
Und auch sogar der Möglichkeit,
Daß etwas Deinen Kranz beschneide.

»Bravo!« rief Sigismund händeklatschend, »mit dieser kräftigen Verherrlichung des Landesfeindes wollen wir unsere heutige Sitzung schließen. Nächstens Probe von Ibrahim Bassa, meine Herren und Damen! Kleopatra wird für die Costüme sorgen, wir spielen, und sollten alle Mörser auf unseren Wällen dazu donnern.«

Man trennte sich unter allerlei poetischen Scherzen; die Künstler und die Künstlerinnen hüllten sich dicht in ihre Mäntel, Arthur schloß sich an Sigismund an, Kleopatra schien auch auf der Straße die unzertrennliche Begleiterin des Assessors.

111 »Du wünschtest mich zu sprechen? Was führt Dich denn eigentlich in so bedrohlicher Zeit nach Breslau? Unter Euern Heuscheuern und Viehställen lebt es sich jedenfalls sicherer und bequemer.«

Arthur glaubte eine eingehendere Antwort wegen der fremden Begleiterin vermeiden zu müssen und zögerte auch mit den Anfragen, die er an Sigismund richten wollte; doch dieser, der es bemerkte, sprach ihm ermuthigend zu: »Sage nur ruhig alles, was Du auf dem Herzen hast. Kleopatra ist militärfromm, sie hört nicht, was sie nicht hören soll und wenn es mit Posaunenstößen verkündigt würde; außerdem ist sie meine Freundin, sie trägt einen ganzen Strickbeutel mit Geheimnissen herum und auf Eins mehr oder weniger kommt es nicht an.«

»Wohl,« erwiderte Arthur, »ich beginne mit einer unliebsamen Frage. Was ist aus dem bleichen Mädchen geworden, das ich aus der Oder gerettet habe, und welches Dir bei Locatellis eine so erregte Scene spielte?«

»Hm,« entgegnete Sigismund nachdenklich, »es ist mir allerdings nicht angenehm, von dieser thörichten Jungfrau zu sprechen, die sich Unmögliches in den Kopf gesetzt hatte und sich an jenem Abend wie eine Irrsinnige benahm. Niemand weiß, wo sie geblieben 112 ist.; hier ihre Freundin Kleopatra nur hat sie noch einmal gesehen.«

»Und wo?« frug Arthur voll Antheil.

»Darf ich sprechen?« sagte die Directrice, deren Vollmondsgesicht aus der Kapuze des Mantels, die sie über den Kopf geschlagen, mit einem keineswegs schüchternen Ausdruck hervorsah.

»Gewiß,« erwiderte Sigismund, »man hat Dich ja aufgefordert! Nur nicht zu bescheiden! Das ist eine Tugend, für welche ich einer Schauspieldirectrice nie die Concession verschafft hätte.«

»Das arme Mädchen!« begann Kleopatra, welche zufrieden war, die Schleusen ihrer Beredtsamkeit öffnen zu können. »Ich war ihr herzlich gut, obschon sie stets eine Träumerin war und alles schrecklich ernsthaft nahm. Daran ist sie auch zu Grunde gegangen; denn das Leben ist nicht danach angethan, daß man sich's zu sehr zu Herzen nimmt.«

»Bravo, Kleopatra!« unterbrach sie Sigismund spöttisch; »auch die Liebe muß man sich nicht zu Herzen nehmen.« »Still, Spötter,« sagte die Freundin, indem sie den Assessor vertraulich an dem locker hängenden Pelzmantel schüttelte. »Ich war mit ihr lange Ein Herz und Eine Seele – und sie hatte auch Talent, das heißt, eine große Künstlerin wäre sie nie geworden.«

113 »Trotz eines so glänzenden Vorbildes,« warf Sigismund ein.

»Das arme Ding stand niemals über ihren Rollen;« sagte Kleopatra, »sie ging darin auf mit Leib und Seele. Das war eine Thorheit! Ein solcher Schauspieler ist wie ein schlechter Kutscher; er kann den Pferden nicht zur rechten Zeit in den Zügel fallen. Wer nicht die Schleusen der Leidenschaft mit solcher Ruhe aufziehen kann, wie die Schleusen eines Wasserfalles und während es für's Publikum tost und donnert, sich selbst den unerschütterlichen Gleichmuth bewahrt, der ist für die Kunst verloren. Und als gar ihr Herz von einer unseligen Leidenschaft ergriffen wurde –«

»Liebe Kleopatra,« unterbrach Sigismund die selbstgewisse Sprecherin, »es sind das alte Geschichten, über denen längst Gras gewachsen ist und welche Du gar nicht wieder hervorzuscharren brauchst. Erzähle nur diesem Lebensretter hier, wo Du Marie zuletzt gesehen; er will doch nicht umsonst in's Wasser gesprungen sein, und wissen, wo seine Gerettete geblieben ist. Jedenfalls hat der Taucher seine Perle schlecht bewahrt.«

Arthur war entrüstet über die Herzlosigkeit Sigismunds, doch erschien es ihm überflüssig, den 114 Unverbesserlichen zurechtzuweisen, umsomehr, als ihn die redefertige Kleopatra nicht dazukommen ließ.

»Es war an jenem Abend, an welchem die Verlobung unseres Freundes mit der Nichte des Syndikus bei Locatelli gefeiert wurde. Wir waren nicht dazu eingeladen, denn was sollten wir umherwandernden Künstler in so vornehmer Gesellschaft! Wir sind ja die Ausgestoßenen, denen man die Pforten der Salons verschließt. Unsere besten Freunde vergessen uns plötzlich bei solchen Gelegenheiten. Doch wir sind edler gesinnt; wir vergessen sie nicht, und so hatten wir unser Kränzchen in eine andere Wirthschaft verlegt, da Locatellis Räume durch das Fest für uns unzugänglich geworden waren, und die Verlobungsfeier in engstem Kreise fröhlich begangen.«

»Es ist mißtönend meinem Ohr, soviel von dieser Feier sprechen zu hören,« warf Sigismund ein.

»Wir entgingen,« fuhr Kleopatra fort, »dadurch allerdings der dramatischen Scene, welche Marie so geschickt arrangirt hatte, doch wenn Ihr alle glaubt, daß sie nachher einsam durch Nacht und Nebel geirrt, und vielleicht endlich in der Oder ein Grab gesucht habe, so irrt Ihr Euch. Nicht lange darauf fuhr sie in einer glänzenden Equipage –«

»Unmöglich!« rief Arthur aus.

115 »Ich hab' es mit eigenen Augen gesehen,« sagte Kleopatra, »wir waren kaum aus unserem Kränzchen herausgetreten, als wir in eine Wagenburg geriethen, welche mehrere Straßen entlang aufgefahren war; es waren die Wagen der Locatellischen Festgenossen. Sie begannen gerade sich in Bewegung zu setzen, und bei dem Hinundherfahren entstand Verwirrung und Durcheinander. Da kam, mit zwei schäumenden Rappen bespannt, die ein bärtiger Kutscher in prächtiger Livree lenkte, ein Wagen herangebraust, der durch die Stockung verhindert wurde, seinen wilden Lauf fortzusetzen. Während die Rappen sich bäumten, schien es mir, als wolle man in Angst von innen das Wagenfenster öffnen; eine Gestalt erhob sich an demselben, bleich, mit entstellten Zügen; hinter ihr zeichnete sich das Schattenbild eines Mannes ab, der die krampfhaft Bewegte zu beschwichtigen schien. Es war Marie; ich erkannte sie und es schien, als hätte auch sie mich erkannt. Sie rang die Hände und sah mich wie hilfeflehend an – doch was konnten wir thun gegen die wilden Rosse? Auch war in demselben Augenblick die Gefahr vorüber! Denn der Wagenlenker war auf die Mitte der Straße zwischen die zwei Wagenreihen gefahren, und um Haaresbreite zwischen den Rädern zur Rechten und Linken sein Gespann hindurchleitend, mäßigte er nicht einmal das 116 Feuer der ungestüm fortstürmenden Rosse. Alles verschwand wie ein Traumbild. Seitdem haben wir nie wieder von ihr gehört.«

»Seltsam,« sagte Arthur nachdenklich.

»Wäre sie vernünftig geworden,« sagte Kleopatra, »ich hätte sie gern wieder engagirt, denn unsere erste Liebhaberin ist nur für Kraftrollen geeignet; sie entwickelt sich immer mehr in's Herkulische, und die zartesten Stellen donnert sie mit einer Gewaltsamkeit, daß man vor solcher Liebe mit Angst und Schrecken erfüllt wird. Das Mädchen wird überhaupt ein Koloß; ich wasche meine Hände in Unschuld, meine Gage ist nicht Schuld daran. Ich brauche eine Schauspielerin für's Nervöse, für's Weinerliche; es giebt doch immer Mädchen und Frauen, die gerührt sein wollen, schon um ihre neuesten Pariser Schnupftücher zeigen zu können, und Marie war eine Schauspielerin für die Schnupftücher.«

»Lieber Arthur,« sagte Sigismund, »Du hast vielleicht das Mädchen mit sehr dichterischen Augen angesehen. Doch Du überzeugst Dich, ich kann nicht mit Paul Flemming sagen:

Mir ist wohl bei tiefstem Schmerze,
Denn ich weiß ein treues Herze.

Sie macht mir eine rührende Scene, einen Spektakel, daß die Breslauer Monate lang von nichts Anderem 117 sprechen, und fährt dann mit einem Liebhaber in die Nacht hinaus. Stille Wasser sind tief, – lieber einen solchen lauten Wasserfall, wie meine Kleopatra! Die sanften Schwärmerinnen sind alle gefährlich; jedes tiefe Gemüth hat etwas Heimtückisches.«

»Der Schein ist gegen sie,« sagte Arthur, »doch der Schein kann trügen. Wir können nicht verurtheilen, ehe wir wissen, was vorgegangen ist. Wenn Marie so aufgeregt, so in Angst und Verzweiflung erschien, konnte sie nicht auch aus anderen Gründen um Hilfe rufen wollen, um Hilfe vielleicht gegen den Mann an ihrer Seite?«

»Bleiben wir zunächst bei den wilden Pferden,« sagte Sigismund spöttisch, »es ist einleuchtender! Wäre ihr der Liebhaber unbequem gewesen, so hätte sie schon früher um Hilfe rufen können. Doch wie selbstsüchtig die Menschen sind! Unser guter Junker betrachtet diese Marie wie ein zweiter Vater, da er ihr zum zweitenmale das Leben geschenkt hat, und will durchaus keinen Flecken auf ihr haften lassen, nachdem sie durch die Fluten der Oder reingewaschen worden ist.«

»Eine andere Frage, Sigismund,« sprach nun Arthur, der ein Gespräch abzubrechen wünschte, das ihn verletzte, »was ist aus dem Schwenckfelder 118 geworden? Hast Du meinen Wunsch erfüllt und Dich seiner angenommen? Ist er frei?«

»Frei?« rief Sigismund mit behaglichem Lachen, »so rasch geht es bei uns nicht.«

»So rasch?« entgegnete Arthur entrüstet, »wie viele Monate sind dahingegangen, seitdem ich jene Bitte an Dich gerichtet habe.«

»Was sind Monate in einem so verwickelten Falle?« sagte Sigismund, »und außerdem haben wir es mit den Jesuiten zu thun, welche Meister darin sind, eine Sache in den Schneckengang zu leiten und alles immer von Neuem zu verwirren. Vergessen habe ich indeß den alten Mann nicht. Nach langen Verhandlungen ist es uns gelungen, die Akten auf das Oberamt zu bekommen; ich habe sie durchgeblättert; Dein Schützling ist übrigens ein kapitaler Sünder.«

»Und ist denn Aussicht auf seine Freilassung vorhanden?« frug Arthur.

»Möglich, die Herren auf der Burg pariren bisweilen Ordre, wenn wir auf dem Salzring energisch auftreten. An mir soll's nicht fehlen, doch die Zeiten sind ungünstig! Kriegslärm und Aufruhr des Pöbels – alles hat den Kopf verloren! Unsere Archivakten sind schon fortgeschafft, nur was zum Laufenden gehört, liegt in unseren Bureaus. Wer hat jetzt Zeit, sich 119 um Vagabunden zu kümmern, selbst wenn sie so einflußreicher Fürsprache sich erfreuen.«

»Doch ich bitte Dich dringend darum,« sagte Arthur erregt, »das Bild des würdigen Greises hat mich überallhin begleitet; ich glaubte, daß er längst in Freiheit wäre.«

»Ich will morgen mit dem Grafen Schaffgotsch sprechen,« erwiderte Sigismund, »doch unser würdiger Präsident ist jetzt so zerstreut! Ich fürchte fast, daß er bei einem so unwichtigen Gegenstand, jetzt bei der allgemeinen Landesnoth, nicht festzuhalten ist.«

»Und wo ist der Einsiedler gefangen?«

»In der Burg, lieber Freund, unter der Aufsicht der frommen Väter!«

»Ich muß ihn sprechen, Sigismund! Jetzt, da seine Gefangenschaft keine geheime mehr ist, wird mir der Zutritt zu ihm wohl nicht verweigert werden.«

»Nun, es ist immerhin nicht leicht! Komm' morgen auf das Oberamt; ich werde Dir einen Schein ausstellen und, wenn irgend möglich, die Unterschrift unseres Präsidenten dafür gewinnen; ich erzähle ihm irgend ein Märchen, er ist jetzt in so weicher Stimmung, daß er alles glaubt. Dieser Schein wird Dir die Pforten des Gefängnisses öffnen.«

»Ich danke Dir,« entgegnete Arthur, »ich sehne mich darnach, den edlen Mann wiederzusehen.«

120 »Du hast eine merkwürdige Neigung für die dunkeln und verlorenen Existenzen,« sagte Sigismund, »das ist ein Glück; denn diese Neigung kann reichlich befriedigt werden. Wie viele Menschenleben gehen verloren, nach denen keine Seele fragt! Um nichts kümmert man sich weniger – wer hat auch Zeit dazu! Im Krieg zählt man wenigstens die Todten und Verwundeten, im Frieden ist auch das nicht nöthig!«

Arthur drückte dem Assessor zum Abschied die Hand zum Dank für seine Gefälligkeit; aber der wüste Leichtsinn und das herzlose Gebahren desselben war ihm nie mißfälliger gewesen, als an dem heutigen Abend, und er sah ihm kopfschüttelnd nach, als er, seine Kleopatra im Arm, die ihn für die verstoßene Liebe und die verlorene Braut zugleich zu trösten schien, hinter der nächsten Straßenecke verschwand. 121

 


 


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