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Einundzwanzigstes Kapitel

Wie Sophie werchet in ihrer Seele, und wie es beim Doktor innerlich spukt

Sophie hatte die Offenheit über Mittag leid getan; «wenn er nur jetzt nicht meint, ich wolle ihn zu meinem Vertrauten machen und die Herzensergießungen fortsetzen!» dachte es. Zudem wollte es lieber alleine sein, wenn die Eltern heimkamen; mochten sie Nachricht bringen, welche sie wollten, so brauchte es sich nicht zu genieren.

Es mußte lange darauf warten und stand, es weiß kein Mensch wie oft, unter die Haustüre, ehe es das Schlittengeläute hörte. Der Papa kam alleine und brachte gute Nachricht. Der Doktor war noch schwach, aber die Anfälle waren nicht wieder gekommen, und Käthi selbst hatte die Mama gebeten, dazubleiben, nit um ihm abzuwarten, sondern nur, damit er minder Längizyti habe u nit immer a die Donnstigs Zwilchkutte denke, wo öppe krank sein könnten. Er syg e Grüsel, es wüß ke Mönsch, was es mit ihm heyg, aber mach er ume so u fahr furt, so werde man sehen, wie es gehe, aber schuld daran wolle es dann nicht sein, seine Sache habe es getan, wie öppe nit mängs se ta hätt, wenn ihm scho ke Mönsch drfür dank und es bi allne dr wüst Hung si muß.

Sophie ließ der Doktor herzlich grüßen und ihm sagen, es solle doch ds Jowägers Bricht machen, daß es ihm besser gehe, und sie auch von ihm grüßen, besonders die Jungen. Dr Jung hätte ihm einen großen Dienst geleistet, und er sei verständiger als man es ihm ansehe.

Dieser Auftrag wurmte Sophie, es wußte nicht warum; es ärgerte ihns, daß man es ihnen apart sollte sagen lassen, daß er besser sei, vernehmen würden sie es ja ohnehin. Die Leute würden doch denken, was da für ein apart Gläuf und Gschick sei. So in einem Meitschiherz regt sich gar Manches, es begreift es selbst nicht; wo die Herzen aber gut, stark und treu sind, da wird dasselbe über Nacht verwerchet und verwunden; wenn am Morgen die Sonne aufgeht, spiegelt sie sich in einem wieder lauter gewordenen Herzen.

Als am folgenden Morgen der Pfarrer fragte: «Hast du es ds Jowägers sagen lassen?» antwortete Sophie: «Nein», aber es gedenke gleich nach dem Frühstück selbst zu gehen, mit Schrecken hätte es gesehen, daß sie mit den Eiern fast aus seien, vielleicht daß sie ihm geben könnten oder sagen wer hätte.

Es war ein kalter Morgen, wie schwerer Rauch schien des Mundes Hauch, es knarrte der Schnee unter den Füßen, glitzerte und funkelte wie ein Diamantenfeld, eng ward die Nase und kalt, und zwischen einem zarten Jungfernnäschen und einer alten Branntweinnase war fast kein Unterschied mehr. Gäb wie Sophie in sein braunes, etwas fadenschyniges Mäntelchen sich hüllte, gäb wie gschwind es trippelte, ein erfrornes Näschen brachte es doch zu Jowägers hinauf, wo man mit Freude und Verwundern ds Herre Söphi daherkommen sah. Es werd welle cho säge, wies am Dokter gang, und es werd ni sövli bös sy, sust chäm es nit selber, und brav seys von ihm, daß es sich selbst gmühe mög, u syg no so chalt. Freundlich ward Sophie von Meyeli unter der Türe schon empfangen und brauchte nicht lange zu hoschen und zu warten. «Herr Jemer, chömet Ihr, Jumpfere, i der Kälti; nei aber, gschwing chömit yche! Chömit i dHingerstube, si ist o warmi, un i dr vordere hey mr dSchnyder, u da wüsset Dr wohl, wie das usgseht, wenn die am ene Ort sy.»

Wie üblich sagte Sophie, es wolle sich nicht aufhalten, es wolle nur ausrichten, was der Vetter Rudi befohlen, dem Jakobli noch zu danken und ihnen sagen zu lassen, es gehe recht ordentlich, er hoffe, bald wieder zweg zu sein. In der freundlichen Stube, in welche die Morgensonne schien, mußte Sophie absitzen, um sich zu wärmen, wie Meyeli sagte. Es wolle geschwind den Mann rufen, es werd ne freue, z'ghöre, daß es em Dokter gut gang; er heyg ihm seither geng es Gwüsse drus gmacht, daß er nit mit ihm bis hey syg. Meyeli benutzte die Gelegenheit, ein Brot zu holen und eine Flasche mit süßem, angemachtem Brönz, wie in den meisten Häusern zu finden ist, und Sophie mußte, es mochte sich wehren wie es wollte, davon einige Schlückchen kosten, mußte es rühmen und fragen, wie sie es ansetzten.

Dazu kam Jakobli, erzählte die ganze Geschichte noch einmal und erzählte auch, um ds Herre Söphi Freud zu machen, er wolle wetten, unter Tausenden seien nicht zwei wie dr Dokter. Während es ihn zusammengezogen fast wie eine Weidenrute, habe er noch an seine Frau gesinnet; er werde denkt ha, wenn er sterben sollte, so könnte niemand mehr sagen, was er gesehen. Er habe ihm gesagt, sie sei bös zweg, und ausgelegt warum, und kein Mensch habe ihm etwas davon gesagt, es hätte gar niemere daran gesinnet, und doch sei es punktum so gewesen, wie er gesagt. Meyeli wollte immer ablenken, pressierte ds Herre Söphi mit Brönz, konnte aber doch nicht sich enthalten zu sagen, das werde es dem Herr Doktor nie vergessen, daß er noch an ihns gesinnet, e sellige Herr und äs, es eyfalts Burefraueli, es muß geng und geng dra sinne.

Es wurde ds Herre Söphi ganz kalt wieder trotz der warmen Stube, und an der Nase biß es es ärger als früher draußen, im Halse ward es geschnürt, daß kaum der Atem herauf mochte, und das Herz tat ihm so weh, so herzinniglich weh, daß es mit der Hand darnach fuhr, es hielt und drückte. Also Rudi hatte nicht an ihns gedacht, sondern an die da; einer jungen, hübschen Frau strebten seine letzten Gedanken zu, der da, die ihm gegenüber saß!

Sophie hielt an sich wie ein starkes Mädchen, weder bittere Worte noch bittere Tränen entfielen ihm, wohl aber die frühere Freundlichkeit; es fühlte, lange hielt es es hier nicht aus. Es brach mutz ab, vergaß die Eier, und auf die Frage, warum es plötzlich so pressiere, es sei ja nicht einmal erwarmet, sagte es, es werde ihm fast wunderlich, es müsse an die Luft, und eingefallen sei ihm plötzlich, daß es der Köchin nicht gesagt, was sie zu Mittag kochen solle, so müsse es heim. Mit einer Hast machte es sich los und eilte fort, daß es dem Meyeli schwer auffiel. «Han ih mi ächt öppis vrfehlt?» fragte Meyeli, «aber ih wüßt doch schier nit mit was, aber si ist plötzlig so wunderligi worde und het es Pressier gha, daß ih nit wüsse cha, was das bidüte söll.» «Gmühy di nit!» sagte Jakobli, «es wird sy, wie si gseit het, si wird ds agmacht Brönz nit möge erlyde, ih has früher o so gha, un ih ha scho vo meh Lüte ghört, dies o so heyge.»

Oft stand Sophie still das Feld ab, drückte die Hand auf die Brust, die auf einmal so enge ward, zog den Atem mühsam hinauf, wehrte den hervorquellenden Tränen, dem andringenden Schluchzen, und in der Gedanken wirbelndem Gewirre stand groß und schwarz: also damals dachte er nicht an dich, sondern an eine Andere. Wer es weiß, was es ist, wenn man sieht, daß der letzte Blick eines Sterbenden einen sucht, der letzte Händedruck einem wird, das letzte Wort einem giltet, der letzte Gedanke einen mitnimmt in die andere Welt hinüber, und wie dem Geliebtesten das Letzte giltet, der letzte Gedanke es hinübernimmt, ja, wie die Sage sagt, der scheidenden Seele das Recht gibt, dem abwesenden Geliebten den letzten Gruß selbst zu bringen und das Zeugnis, daß sie ihn im Tode nicht vergessen, der mag Sophiens Weh ermessen, als es vernahm, wo Rudis Gedanken weilten, als er an des Grabes Pforten sich wähnte.

Ein flüchtiger Kuß, ein mutwillig Augenspiel, neckische Worte, wie brennen die das Feuer der Eifersucht nicht an in liebenden, erregbaren Herzen; aber wie wenig haben sie meist zu bedeuten, hinterlassen keinen Eindruck, und mit Strömen von Liebe löscht der Geliebte der Geliebten Eifersucht. Aber nach dem letzten Blick gibt es keinen Blick mehr, und nach dem letzten Gedanken kömmt kein neuer Gedanke mehr und trägt die verlassene Geliebte hinüber ins ewige Gedenken; was mit dem letzten Gedanken gegangen ist, das bleibt dem Geliebten in Ewigkeit. So ist diese Untreue, die vielen so unbedeutend scheint, die größte, die bleibendste, sie zeuget von des Herzens wahrer Meinung, und sie bleibet in Ewigkeit. Und Sophie war nicht das Bild, das er mit hinübergetragen hätte; bei Sophie war seine Seele nicht, als er zu scheiden meinte!

Das wars, was so weh dem armen Mädchen machte, das Herz ihm abdrücken wollte. Aus dem Weh erzeugt sich zumeist der Zorn gegen die, von denen das Weh kömmt, auch er quoll bei ds Herre Söphi auf, warum sollten wir es verhehlen, war es doch ein Menschenkind wie ein anderes, Zorn über Rudi. «So hätte ich ihn nicht geglaubt», dachte Sophie, «habe ihn immer für besser als die Andern gehalten, aber er ist wie alle. Ich hätte es nicht geglaubt, daß er auch so wüst wäre; aber was weiß man, zu trauen ist keinem, und son e Dokter, wieviel Anlaß hat er nicht! Aber schlecht ists allweg von ihm, und noch dazu eine Frau, die Mann und Kind hat.»

«Aber sie wird ihm Anlaß gegeben haben», sprach der sich wendende Zorn, «ich weiß wohl, wie viele Weiber sind; sie müssen alle löken, und die scheint auch der Art zu sein, macht sie doch immer ein so kokettes Mieneli, und wenn sie sich nicht darauf verstünde, ihr Mann wäre nicht so an ihr ghanget gleich vom erstenmal, die Täsche, was sie ist, und tut so fromm drzu und so unschuldig. Und will dem Doktor nichts gesagt, er soll alles gemerkt haben, die Täsche, jawolle!»

So brannte lichterloh die Flamme der Eifersucht in Sophie, bis sie in den Strahlen eines höhern Lichtes erloschen. Es kam über Sophie das Gefühl der Ungerechtigkeit, seiner menschlichen Schwäche, der überspannten Forderung, daß es meine, es sollte auf Erden einer Seele ihr Höchstes, alles in allem sein. Hatte es nicht dem Vikar von des Doktors Treue geredet, und wie in seinem Beruf sein Leben aufgehe, hatte ihn deswegen so hoch gestellt, und daß er zuletzt an Meyeli dachte, war das eine Untreue an Sophie, war es nicht viel mehr die Treue bis in den Tod an seinem Beruf, waren es nicht viel mehr Meyelis Zustände, bei denen seine Seele war, als Meyelis Wesen und Holdseligkeit? Meyelis Hülfsbedürftigkeit, machte sie es nicht zu des Doktors Nächstem, dem er in diesem Augenblick noch Hülfe konnte werden lassen? Und über diese Treue, ob der er alles vergaß, sich selbst, Leib und Seele, sollte es zürnen, sollte sie brechen wollen durch Forderungen, die nirgends Grund hätten als in altem, angestammtem Wahn und in der eigenen Eitelkeit und Selbstsucht, sollte ihn lähmen, ihn anders wollen bloß um seinetwillen, sollte sein Götze werden wollen am Platze eines andern Götzen?

Was Sophie vom Doktor wollte und wünschte, war es nicht etwas viel Höheres als dieser Wechsel eines Götzen mit einem andern, war es nicht die Demütigung vor Gott, die Anerkennung, daß derselbe alleine unser Eins und Alles sei, wir nichts ohne ihn und all unser Tun nur dessen Verherrlichung? Sollte es ihm zürnen, daß er noch immer der gleiche war wie von Anbeginn, war es eine Täuschung, wenn er auch jetzt gewesen, wie es ihn von je gekannt; sollte es nicht eben jetzt, wo er sich so getreu geblieben, soweit es ein Mensch im Leben kann, umso inniger in Liebe zu ihm stehen mit treuer Liebe, die eben nicht das Ihre will, zu verklären suchen sein Wesen, zu überwinden seinen Wahn, zu öffnen suchen die Augen der Wahrheit, daß das Heil in der Anbetung liege und nicht in der Selbstvergötterung?

Dieses alles ging aber nicht auf dem Heimwege bloß an Sophie vorüber, lief in einer schnell verlaufenen Stunde in dessen Seele ab, es war ein Wogen und Kämpfen, welches Tage dauerte. Es war einer der Momente in sein Leben getreten und hatte einen Eindruck in seiner Seele hinterlassen, welcher entscheidend wird fürs ganze Leben. Ein solcher Eindruck wird den einen Seelen zum finstern Sack, aus welchem Finsternis um Finsternis strömt, bis es dunkle Nacht geworden ist in der Seele, in andern gestaltet er sich zu einem glänzenden Punkte, welcher immer strahlender wird, alles Finstere verzehrt, die Seele läutert und Tag werden läßt in ihr, wie es auch das Licht ist, welches die Nebel verzehrt und es klar werden läßt zu Berg und Tal.

Dieses innere Werden sah man äußerlich Sophie wenig an, bloß hörte es zuweilen nicht, was man zu ihm sagte, vergaß etwas, welches es sonst nie vergessen, und spitzige, spöttische Worte hörte man keine von ihm. Der Pfarrer betrachtete es mit stillem Ernste, der Vikari aber meinte, jetzt, da sie ihm den Kropf geleert, meine sie, fertig zu sein, aber einmal müsse sie doch noch vernehmen, was er von ihr halte. Je mehr er darüber dachte, was er ihr alles sagen wollte, desto mehr drängte sich ihm Sophiens Bild auf, immer mehr mußte er an sie denken, denken, wenn die eine gute Erziehung genossen hätte, so hätte etwas aus ihr werden können, Naturanlagen hätte sie. Jetzt sei sie doch gar zu ungebildet, und von allem, was eine gute Erziehung bezeichne, sei keine Spur: keine Musik, nicht einmal öppis auf einer Gitarre, kein Zeichnen, und schöne Arbeiten habe er sie auch noch keine machen sehen, keine Idee von Geographie, sie wisse ja nicht einmal, welches die größten Flüsse in China seien. Alles, was sie wisse, habe sie vom Papa gelernt, darum rede sie manchmal, daß man meine, man höre einen alten Pfarrer, und Takt genug hätte sie nicht, zu begreifen, daß so etwas für ein junges Mädchen sich nicht schicke, so theologisches Zeug! Ja, wenn es wahres Christentum wäre, dann wäre es ein anderes! Wenn es noch jetzt ein halbes Jahr das Glück der Töchternschule genießen könnte, noch jetzt könnte was aus ihm werden, die Anlagen wären da.

Als das erstemal der Doktor wieder hinaus kam, empfing ihn Sophie mit weichmütiger Freude. «Was hättest gseit», fragte er, «wenn ich gestorben wäre?» «Briegget hätt ih, Rudi», sagte Sophie und ging hinaus. «So hätte doch jemand um mich briegget», sagte der Doktor, «das ist mehr als ich geglaubt habe.» «Aber Növö, wie redst de doch!» sagte die Frau Pfarrerin, «es ist eine allgemeine Angst um dich gewesen, du glaubst nicht, wie viele Leute gekommen sind, zu fragen, wie es dir gehe.» «Ja, es wird ihnen angst gewesen sein, es gebe ihnen dann niemand mehr die Mittel umsonst; wenn sie denken könnten, es mache es ein Anderer auch, so frügen sie mir wenig nach.» «Eh aber Növö, so mußt du nicht reden, es ist nicht recht; es ist weit und breit niemand so beliebt wie du, es dunkt ein fast, wenn ein paar beieinander seien, so redeten sie von dir.» «Und stürbe ich heute», sagte der Doktor, «so wäre ich morgen vergessen.»

Diese düstere Stimmung trat immer mehr hervor bei ihm. Es war ein gewisses Sattsein des Lebens, eine eigentümliche Mutlosigkeit, welche seiner sich bemächtigte, ein Verzweifeln an sich, an seiner Kunst, an den Menschen. Alles sei eitel und nichts, sagte er, und lohne der Mühe sich nicht; das Höhere, das dem, welches an sich allerdings eitel und nichts ist, Weihe und Wert gibt, das fand er nicht. Körperliche Schwäche mochte eine Ursache dieser Mißstimmung sein. Früher hatte er seinen Körper nicht gefühlt, darum auch nicht geschont, derselbe war ihm gehorsam, versagte ihm keinen Dienst; wohin sein Eifer ihn riß, dahin trug willfährig der Körper die Seele. Nun war es anders, leicht ward er müde, den verstärkten Anforderungen vermochte er nicht nachzukommen; je eifriger der Geist ward, desto schwächer ward das Fleisch. Dieses Gefühl riß ihn zu der größten Ungeduld hin, obgleich er als Doktor am besten wissen sollte, daß Geduld und Schonung alleine die Kräfte nach und nach wieder ersetzen können. «Oh, was ist der Mensch für eine elende Kreatur!» rief er oft aus, «das Tier ist besser daran; lieber sterben als so mühselig da umekrebse und schnaagge!»

Dazu noch ein anderes. Seine Krankheit hatte ihm so recht fühlbar gemacht, wie nötig ihm eine Frau wäre, und nicht nur für sein Haus, sondern auch für sein Herz. Käthi zeigte seine Liebe in Branzen und Schelten, gleichsam unter Blitz und Donner, und das ist nicht die Liebe, welche man auf dem Krankenbett gerne hat. Dort muß die Liebe walten, welche still und freundlich ist, mit Blicken zu reden weiß, alles zu erraten weiß, auch wann ein freundlich Wort an seiner Stelle ist. Sophiens immer klarer zu Tage tretende milde Innigkeit, welche alle Späße, alles Zänkeln ausschloß, tat seinem wunden Herzen so wohl, er erkannte es alle Tage deutlicher, daß er bei Sophie alles finde, um so recht glücklich zu sein, und dieses Glück glaubte er sich versagen zu müssen.

Wie sollte er eine Frau ernähren, da er kaum sich selbst durchzubringen vermochte? Mehrere Jahre hatte er mit großem Erfolg gedoktert, und was erobert? Wenn er einen Rock wollte machen lassen, so mußte er lange mit sich zu Rate gehen, ob es es erleiden möge, und wenn die Drogerierechnungen einliefen, so waren die Mittel wohl gebraucht, aber das Geld dafür nicht da. In diesem Augenblick war er so ernüchtert in seinen Finanzen, daß ein Paar Stiefel zu bezahlen ihn in Verlegenheit gebracht hätte; woher nun die Hochzeitskosten nehmen, woher die Kosten eines vermehrten Haushaltes? Seine Praxis konnte er nicht ausdehnen, seine Kräfte genügten der gegenwärtigen nicht. Sollte er auf einmal aufschlagen, hart werden, Geld fordern, wo er sonst noch welches geschenkt, sollte es von ihm heißen: «Wie doch dr Dokter e Wüste wird, e uvrschante Hung! Jetz gseht me, warum er zerst fast nüt gheusche het, es ist ume gsi, für is z'löke; jetz, won er meint, er heyg is, jetz wird er dr uvrschantist vo alle u het ds Messer zuche, daß es fry ke Art het. Aber ohä, dä ist lätz dra; dem sy mr schlimm gnue, dä erwütscht is nit!»

So, wußte der Doktor, würden die Leute reden; nicht nur wäre von Dankbarkeit, billiger Einsicht keine Rede, sondern sein ganzer früherer Ruhm wäre dahin und damit auch ein großer Teil seiner Praxis. Sollte er nun Sophie hineinziehen in seine Dürftigkeit, es aussetzen einem kümmerlichen Dasein, aus Selbstsucht es seiner freundlichen Lage entreißen auf die Gefahr hin, dasselbe bald zur Witwe zu machen? Denn wenn der Anfall noch einmal kam, so überstund er ihn nicht, das wußte er.

Aber war das nun nicht fürchterlich, mit Wissen und Kunst es nicht einmal so weit gebracht zu haben wie ein munterer Bauernknecht, dem mehr als fünfe zählen ein Hexenwerk ist, der getrost ein Weib nimmt und getrost alle Jahre ein Kind zur Taufe trägt und in den Fehljahren zwei? Muß es nicht zu maßloser Maßleidigkeit führen, wenn man der Welt alles opfert im edelsten Sinne, und die Welt gibt einem nichts dafür als höchstens einen leeren Dank, solange man kein Geld fordert? Nirgends bringt man es hin; während man allen hilft, könnte man verhungern, und niemand würde fragen: «Bist öppe hungerig?» Weibern und Kindern kann man das Leben retten und hat nicht einmal Brot für ein eigenes Weib und eigene Kinder! So ein Knubel von Käusi, der von nichts weiß als von Kühen und Stieren, vom Schweiße armer Kinder sich mästet, sich lieber ein Stück aus dem Hintern beißen ließe als eine wohltätige Handlung begehen, so einen Knubelkäusi konnte er doktern in Lebensnot, und wenn er zehn Batzen forderte, so vergrännte derselbe sein Maul bis an die Ohren, und während er mit Berzen in den schlechtesten Walliserbätzlein die zehn Batzen herzählte, sagte er: «Ih hoffe jetz, es heygs; ih vrmöcht nit, viel chrank z'sy, vo wege Doktere ist e türi Sach.»

Und wenn er fortgeht, denkt der Knubelkäusi bei sich: «Sie sind bim Hagel alle Fötzle, es bringt kene nüt drvo; wenn ih hundert Bube hätt, Dokter müßt mr kene lehre, ds Geld lieber a Zeys tue, hür aber viertusig Pfung!» und somit hebt er die Beine einige Zoll höher, und wenn er das nächstemal den Doktor sieht, so macht er ihm ein noch einmal so hochmütiges Gesicht: «Ja, lue mi ume a», steht darauf geschrieben, «ih bi notti en angere als son e Fötzel wie du!» Diese Gschrift kann der Doktor alle Tage lesen auf Gesichtern, wo die Hände, welche dazu gehören, nicht schreiben können, kann lesen: «Hest ke Geld, u we mr di nit erhaltete, su vrrebeltist», und dagegen hat er nichts zu setzen, er kann ja nicht heiraten, vermag die Hochzeitkleider kaum, geschweige dann eine eigene Kuh. Da soll man sich trösten mit dem innern Bewußtsein, mit dem Bewußtsein seines höhern Wertes, seiner geistigen Überlegenheit!

Ja, das ist ganz recht, ganz schön, das geht so lange als man hat, was man will, oder was man bedarf, so lang als man nicht leiblich und peinlich den Mangel an Materie zu fühlen beginnt, so lange ists herrlich, zu reden von dem Bewußtsein, von geistigem Gefühl, von höherer Auffassung und innerem Genügen. Am warmen Kamin zum Beispiel bei einer Pfeife Tabak und einem guten Glase kann man es ertragen, wenn man gegenüber sitzenden Gesichtern es eben ansieht: «Red ume, bist doch e Lappi, schwätz ume; 's ist gut, daß de nüt z'bifehle hest, vrsteyhst doch hell nüt, u öppe no nie het me ghört, daß de öppe Geld usgleue oder öppis gkauft oder öppis gerbt heygist.»

Aber in der Lage des Doktors, bei seiner körperlichen Schwäche und seinem vermeintlichen Unvermögen, zu heiraten, bei dem Verhältnis der Arbeit zur Ernte (Burepraxis: es steinigs Acherli), dem Gefühl, daß in Zukunft das Tun sich nicht mehren, die Ernte abnehmen müßte, in dieser Lage mußte dieses alles lähmend auf dem Doktor lasten und, wie gesagt, eine Maßleidigkeit erzeugen, wo man lieber heute als morgen sterben möchte, derjenigen gleich, die einen überfällt, wenn man müde ist zum Tode, man lieber sterben möchte als noch einen Schritt tun. Ja, es ist schön, wenn man sagt, der Mensch solle Gott gleich sein, solle seine Pflicht tun, nach Lohn nicht fragen, solle sich innerlich erheben über die äußere Welt, am eigenen Bewußtsein sich satt fressen, daß man alle Glückseligkeitslehre verdammt, der Mensch müsse nach Grundsätzen handeln, unbekümmert darum, fahre er damit Gott oder dem Teufel zu, das ist gar schön, auf dem Papier nämlich.

Ganz anders ist die menschliche Natur, die ist nicht stark an und durch sich selbst, ihrer Schwachheit muß zu Hülfe gekommen sein, in ihrem Elende muß sie getröstet werden, am Stabe höherer Hoffnungen aufgerichtet. Das hat Gott in seiner Gnade getan, hat uns die Erde gezeigt als eine Insel im Weltenmeere, als ein St. Helena, wo wir in dem Fluten der Materie anlegen, uns erholen, neue Kräfte, Speise und Trank sammeln sollen zur fernern Reise ins neue, ins verheißene Land, hat uns den Trost gegeben, daß unserm Sehnen nach reiner Seligkeit ein freudiges Ziel gesetzt sei, daß das geistige Erheben kein trostloses sei, sondern ein Steigen auf der Leiter, die zum Himmel führt, daß das Entbehren der Materie keine Strafe sei, sondern eine Fügung Gottes, das Ertragen einer Last eine Übung der Kräfte sei, nicht eine Ungerechtigkeit, – denn auf dem Wege unseres Heilandes gleiche alles droben, jenseits sich aus, jedes Rätsel werde gelöst, und jeder finde, was er verdient bei Leibesleben.

Diese Lehre ist freilich eine Krücke, aber solange wir schwache Menschen teilweise Sklaven der Materie sind, bedürfen wir dieser Krücke, und die Edelsten, Höchsten bedürfen ihrer am meisten, das Tier, der Knubelkäusi, der im Bewußtsein seiner Stiere und Kühe, seiner paar tausend Pfund lebt, bedarf ihrer am wenigsten, denn wir sind und bleiben halt Menschen, solange wir hier weilen, und zu etwas Anderem wird uns keine Theorie machen, weder eine Rousseausche noch eine Hegelsche noch irgendeine allerneuste.

Ein sehr merkwürdiges Beispiel dieser Wahrheit ist eben der Kommunismus unserer Zeit, er ist ein Kind der Verwerfung der sogenannten Glückseligkeitslehre: man solle nicht ans Jenseits denken, sondern seine Pflicht tun, eben weil sie Pflicht sei, man solle geistig sich emanzipieren, ohne zu fragen warum, es sei an sich Selbsten schön. So hat man allmählig das Jenseits wegstibitzt, die Fortdauer nach dem Tode weg disputiert; was aber geblieben ist, das ist: erstens die menschliche Natur, welche was haben will, deren Gott die Materie ist, und zweitens die Lehre, daß Bildung, Geist, Kultur, Aufklärung, geistige Emanzipation, und wie das Zeug mehr heißt, erst den Menschen zum Menschen mache und so ein Gebildeter, Gegeisteter, Kultureter, Aufgeklärter, Emanzipierter unendlich mehr sei als so ein dummes Menschenkind, das weder in einer Sekundarschule gewesen sei noch in einer Töchternschule, besonders einer bürgerlichen, weder im Weltschland noch auf einem Kaffeehaus oder gar auf Reisen.

Nun sind so Viele Kulturete geworden, und Emanzipierte geben lateinische und griechische Letzgen oder wursten die Sprachlehre oder können Bücher schreiben und sollten eigentlich schneidern, sind gegeistet über alle und haben nichts, haben nichts diesseits und haben kein Jenseits, sie haben es selbst über Bord geworfen, es beschwerte ihr Schifflein zu stark; sie wollen doch etwas, denn sie haben trotz der Kultur die menschliche Natur, die was will, so gut wie der gemeinste Schweinsjunge. Trotz allem ihrem Bewußtsein, ihrem Innern, ihrem erhabenen Standpunkte wollen sie doch was haben, und zwar in der wunderbarsten Ironie nicht etwas für den Geist in unserm geistigen Jahrhundert, wo man angeblich um des Geistes willen das Christentum für veraltet erklärt hat, sondern sie wollen was haben für ihre Zähne, für ihren Bauch.

Es ist eine furchtbare Ironie, welche mit Allgewalt diese Allgegeistigsten zu ihren schweinischen Gelüsten zwingt, es soll der Welt der Wert dieses geistigen Bubentums handgreiflich gezeigt werden. Gäb was die um sich bögeln, aufbegehren, bäumelen: «Gib her, Bauer, Aristokrat, verfluchter Hund!» will ihnen den sogenannten geistigen Hunger niemand stillen mit Mädchen, Weibern, Bratwürsten und Bauernhöfen, man läßt sie brüllen und aufbegehren. Und nun, was macht dieses geistige Halunkentum? Es kehrt die Bildung um, wie man einen Spieß umdreht; wie man sonst mit der Bildung ein wirkliches geistiges Wachstum bezweckte, eine Emanzipation des Geistes von der Materie, eine Annäherung an Gott, ein Wachstum zur neuen Wohnung beabsichtigte, so scheint das neue Halunkentum die Bildung als ein Mittel zu betrachten, der Materie sich zu bemächtigen (nicht über sie sich zu erheben), sie unter die Zähne und von da in den Bauch zu führen, zu betrachten als eine Art von Mäusefalle, in welcher man aber statt Mäuse Weibervolk und Braten fängt und Rheinwein samt Zeug zu währschaften Hosensäcken.

Sie stellte erst ganz sachte die Fallen auf: Staatsgüter für alle Staatsbürger, Rechtsamene für alle, die nichts hatten, Maßguttere für durstige Offiziere, Haberkasten für dicke Schimmel, welche man von der Eidgenossenschaft bezahlt haben wollte, Pfarrereinkommen für magere Schulmeister, Burgergüter für schlechte Burger und noch schlechtere Hintersäßen, große Einkommen für weite Mäuler, und in diese Falle lockte man mit dem feinsten Gifte, das niemand merkte, das aussah, als käme es vom Himmel her, mit Theorien, die klangen wie Sphärenmusik, wie Schulmeistergesang, wie das herrliche Klingen am Zürcher Sängerfeste oder wie mit Speck die Mäuse, mit Ehrenbechern, Lorbeerkronen, moralischen Ehrentiteln und hyperboräischen Lobpreisungen in allen Zeitungen – mit exegi monumentum aere perennius, das heißt mit einem schlechten Artikel auf schlechtem Papier, der länger nicht währt als einen Tag.

Die Fallen stellten sie auf, aber das Ding geht zu langsam, Schmeißfliegen vermögen nicht Erfolge länger als einen Tag zu erwarten, von wegen morgen sind sie schabab und haben von all dem Ding nichts. Darum mußten sie Treiben und Hetzen anstellen, wußten sie zu plazieren auf alle Bühnen der ganzen Welt, ja sie brachten es dahin, daß ehrbare Großräte sich solche Treibjäger selbsten vor die Nase stellten und wahrlich in unmenschlicher Dummheit und in göttlichem Selbstbekenntnis, indem sie mit sehenden Augen die kommunistischen Projekte nicht sehen, sie für aristokratische Nebel halten, daß sie nicht wüßten, warum es zu tun sei, und was die Glocke geschlagen.

Eine sehr eigene Wahrnehmung mag hier wohl eine nicht ungeeignete Stelle finden. Eine alte Schwachheit der Menschheit ist es, den Höhern sich anzuschließen, in ihrer Herablassung sich geehrt zu fühlen und in gieriger Hast ihre Moden und Meinungen sich anzueignen; diese Schwachheit ist im Grunde nichts als der höchste, aber vom Teufel zur Schwachheit verdrehte Trieb im Menschen, der Trieb nach oben. Aber dieses Oben ist eben weit oben über den Sternen und nicht in einem irdisch hochgestellten Haupte, und wäre es auch ein gekröntes, zu suchen.

Nun kam allgemach und langsam wie die östreichische Landwehr die Menschheit an die Marchen, wo sie die christliche Lehre, wenn nicht begriff, so doch zur Geltung kommen ließ, daß die Seele mehr sei als der Leib. Das ward nun dem Teufel gefährlich, aber nicht immer dumm, stellte er sich plötzlich selbst auf die March und rief auf weltsch: « En avant, concitoyens, en avant, mes frères!» von wegen so was versteht man auf weltsch besser als auf deutsch. Aber er kommandierte nun nicht, daß jeder aus geistiger Niedrigkeit sich emporarbeiten solle, sondern daß man alle, welche um leiblicher Güter willen höher als die andern seien, entweder einen Kopf kürzer mache oder die Güter ihnen nehme, damit alle gleich würden. Er reiset also die Menschen wieder ans Leibliche hin, verrücket das Ziel aus ihren Augen, und das gleiche Manöver treibt er fort und fort bis auf den heutigen Tag und immer unter des Geistes Feldgeschrei, nur brüllt man es zu Zeiten wieder lauter.

Dahin nun hat man es allerdings gebracht, daß Aufklärung, Bildung, Theorie Stichwörter, Trümpfe geworden sind, mit denen man alles stechen zu können meint, was diese Wörter alles in sich fassen, nicht Geist absolut, sondern wieder in merkwürdiger Ironie Zeitgeist, will aber für diesen Zeitgeist die gleiche Stellung zum Menschen in Anspruch nehmen, die man ehedem dem Heiligen Geist eingeräumt hatte.

Die Apostel dieses Geistes haben sich ein großes Ansehen zu geben gewußt, gelten als vornehm, und die, zu welchen sie sich herablassen, die fühlen sich hoch geehrt und sperren ds Maul auf wie dürre Meienstöcke, wenn es regnet. Sie lassen sich nämlich hauptsächlich zu denen herab, welche die Geister nicht prüfen können, welche gerne von jeglichem neuen Winde sich hin und her wehen lassen, und namentlich, wenn er ihr Fleisch kitzelt, die sehr zum blinden Glauben geneigt sind, wenn dieser Glaube mit ihren Lüsten Brüderschaft zu machen weiß. Sie bemächtigen sich Kinder und Jünglingen, füllen sie mit Eitelkeit und lästern das Alter, sie bemächtigen sich der Räte, die wenig wissen und viel vorstellen möchten, der Kapazitäten, die keine sind, aber große Gelüsten haben, der Magnaten, die dick sind, aber mager im Geldseckel; die alle füllen sie mit Zeitgeist wie Luftballons mit Gas, blasen hinten, was sie mögen, und zeigen vornen einen Zauberspiegel, in welchem der Zeitgeist alles niederhaut, was im Wege steht, und wären es Berge unserer Jungfrau gleich; sie steigen aber auch nieder zu den Handwerkern und zeigen, was für Schlösser die Geldkisten der Reichen haben, zu den Armen und lassen merken, daß die Bauernhöfe teilbar seien, und daß es kehrum gehe in der Welt.

In Schrift und Wort predigen sie allen, daß Pfaffen und Aristokraten fort müßten und sie ans Brett, und seien sie am Brett, so könne jeder glauben und tun, was er wolle, und das sei die höchste Kultur und Aufklärung. Soll in unserer Zeit das Alte wieder neu werden, der Engel des Lichts, vom Hochmut verführt, Gott vom Throne stoßen, Gott sich gleichmachen wollen, fehlspringen, in die tiefste Tiefe fallen, zum Teufel werden? Denn was ist all diese Lehre anders als die Lehre, daß, wen es gelüste, eine Sau sein zu wollen, nur eine sein solle; Bessers könne niemand tun als das, was ihn gelüste, Bessers hätte niemand zu erwarten, und wer es nicht tue, der hätte es verpaßt. Es ist die Lehre von der Emanzipation des Fleisches, jetzt in der Zeit des Geistes die Lehre, daß das Fleisch in vollem Rechte sei, der Geist nur dafür zu sorgen hätte, daß das Fleisch habe, was ihns gelüste, es aber auch so genieße, daß es ihm selbst, dem Fleische, nicht weh tue; es ist nichts als die Lehre, daß der Hase weiden könne im nächsten Klee, nachlaufen könne jeder Häsin, die ihm entgegenläuft, fressen oder laufen lassen seine Jungen nach Belieben, aber das alles nicht mehr aus Instinkt, sondern aus Theorie, alles nach dem Zeitgeist, so daß der Mensch und das Tier das gleiche tun und alle Aufklärung und Bildung und Kultur den Menschen in tausendjährigem Kreislauf zu der Theorie zurückgeführt, daß er am besten tue, wenn er tue wie ein Vieh.

Das ist die zeitgeistige Reaktion gegen das Christentum, und merkwürdig ist es, daß sie hauptsächlich von Juden ausgeht; diese Juden sind Vollblutjuden, halbblütige und viertelsblütige, und weil sie Palästina zu trocken und steinicht finden, möchten sie aus der ganzen Christenheit ein Palästina machen. Und merkwürdig bleibt, wie unsere neue Welt, junge Leute und junge Ansprüchlinge durch die Herablassung der neuen Apostel sich geehrt finden und Ratsherren und Handwerksbursche aus Leibeskräften in ihr Horn blasen, welches aber bei den verschiedenen Mäulern, die blasen, auch verschiedene Töne gibt. Merkwürdig ists, wie Ratsherren, Agenten, Gumene, Handwerksbursche, Straßenarbeiter und sechskreuzerige Drescher das Herz im Busen schwellen, brennen fühlen, wenn so ein Apostel unter sie fährt wie ein Gergesener unter die Schweine, wie sie horchen, wie sie ihm lauschen, und wie sie dann in Ratssälen und Kneipen wieder ausposaunen, was sie in vertraulichen Stunden eingesogen, und wie sie sich meinen damit und brüsten und verächtlich vom Höchsten reden, aber mit Respekt von ihrem eigenen Saugeist, und wie sie sich brüsten und stolzieren von wegen ihrer Freundschaft mit jenen Fleischpredigern und dem Geiste, den sie im Leibe haben; habens wie Knaben, sehen die papiernen Zöpfe nicht, die ihre eigenen Kameraden ihnen an den Rücken gehängt, und sehen nicht, wie sie, sie mögen tun, wie sie wollen, nichts schreiben können als «Mene, Mene, Tekel, Upharsin!«

Manche alte Sage, welche man als Märlein verachtet hatte, hat die neue Naturforschung zur Wahrheit gemacht; ist es vielleicht ebenfalls der Geschichte vorbehalten, die Wahrheit zu konstatieren, daß, wer auf das Fleisch säe, vom Fleische das Verderben ernte? Die Sache wäre deutlicher auszudrücken gewesen, hätte aber anzüglich scheinen können.

Zu dieser Schule gehörte jedoch unser Doktor nicht, von diesem Umbiegen der Kultur ins Tiertum hatte er noch keinen Begriff, er stand bloß auf der Höhe der Männer des Altertums, die, wenn sie zur Erkenntnis kamen, die Welt genüge ihnen nicht, oder sie seien von der Welt überwältigt, das Schwert sich in die Brust stießen und nie daran gedachten, die Ordnung, an der sie gearbeitet, in Unordnung zu verkehren, um sich zu retten. Der Weichheit, welche im Christentum liegt, der liebenden Hingebung hatte er, in seinem Jahrhundert stehend, sich nicht erwehren können, aber ihr fehlte das Ziel, das Warum, die Weise. Als die Welt ihm nun nichts gab, als seine Kraft schwankte, als seine Kunst ihm nicht einmal ein liebend Weib ernährte, als ihm, der Tausenden geholfen, niemand helfen wollte, den Stachel in seinem Herzen niemand zu sehen schien, da ward er mutlos, die Schwäche der Menschen kam über ihn. Wenn er ging, so dünkte ihn, er gehe knietief in der Erde, wenn er denken wollte, so war gleich eine Bitterkeit oder eine Wehmut da, welche ihm entweder das Wort erstickten oder demselben eine Schärfe, eine Betonung gaben, die niemand begriff als Sophie. Sophie ging bei solchen Reden oft hinaus und weinte, Sophie fühlte, hier lag etwas zugrunde, an das es nicht zu kommen vermochte; denn was der Stimmung zugrunde lag, das zur Sprache zu bringen, das war nicht an Sophie, und je mehr es den Doktor drückte, desto hartnäckiger verbarg es der Doktor.


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