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Die beiden Brüder hatten ihr kleines Mahl beendet, als der jüngere zu dem älteren sagte: »Gianni, bevor ich bis in die Champs-Elysées komme, will ich mal in den Zirkus gehen.«
Gianni dachte an den schmerzlichen Eindruck, den solch ein Abend auf seinen Bruder machen müßte, und antwortete ihm:
»Gut, wenn du willst ... doch in ein paar Tagen.«
»Nein, heute abend, heute abend will ich hin, ja heute,« entgegnete Nello in dem bezwingenden Ton, mit dem er früher die Unentschlossenheit seines Bruders besiegt hatte, wenn er etwas gern wollte.
»Also gehen wir,« sagte Gianni resigniert. »Ich will jemand in der Molkerei bitten, uns eine Droschke zu holen.«
Er half seinem Bruder, sich ankleiden; doch als er ihm seine Krücken reichte, konnte er sich nicht enthalten, ihm zu sagen:
»Du hast dich heute schon arg angestrengt, du solltest lieber einen anderen Tag gehen.«
Nello schmollte mit halb lächelnder, halb zärtlicher Miene, wie ein Kind, das seine Laune nicht getadelt haben möchte.
Im Wagen war er vergnügt, gesprächig, voll heiteren Frohsinns. Er scherzte: »Na, gesteh's nur, es ärgert dich, mich so munter zu sehen.«
Sie kamen vor dem Zirkus an. Gianni nahm seinen Bruder in die Arme, hob ihn aus dem Wagen, und nachdem er seine Krücken genommen, gingen beide nach dem Eingang.
»Noch nicht,« bat Nello plötzlich. Beim Anblick des Gebäudes mit den strahlenden Lichtern und der schallenden Musik, die daraus hervordrang, war er mit einemmal wieder ernst geworden.
»Gut, noch nicht, hier sind Stühle; setzen wir uns einen Augenblick.«
Es war ein Tag gegen Ende Oktober, wo es immerfort geregnet hatte, und man jetzt am Abend noch nicht wußte, ob es nicht weiterregnete; einer jener Pariser Herbsttage, an denen Erde, Himmel und Häuser in Regen zu zerfließen scheinen und abends die Laternen auf dem Bürgersteige tanzen, wie Lichter auf einem Flusse. In der einsamen Allee schwammen in der nassen Ferne zwei oder drei schwarze Schattengestalten. Schmutziges Laub, von den Windstößen emporgewirbelt, trieb den Brüdern entgegen, und rings um ihre Füße warfen die runden Schatten von zahllosen eisernen Stuhlsitzen auf den feuchten Boden das Bild einer unheimlichen Krabbenschar, wie man sie am unteren Rand einer Seite in einem japanischen Album emporklettern sieht.
Plötzlich erschallte im Innern des Zirkus ein lauter Applaus, ein Beifallssturm der Menge, der wie das Krachen einer Unmenge von Tellern klang, die von der Zirkusdecke auf die Ränge herabschmetterten.
Nello fuhr zusammen, und sein Bruder sah, wie seine Augen sich auf die beiden Krücken richteten, die neben ihm standen.
»Schau, es regnet,« sagte Gianni.
»Nein,« erwiderte Nello, wie ein Mensch, der gedankenverloren antwortet, ohne hinzuhören.
»Nun, Brüderchen, wollen wir nicht endlich hineingehen?« fragte Gianni nach ein paar Minuten.
»Nein, mir ist die Lust vergangen ... Ja, ich würde mich schämen vor den anderen ... Ruf eine Droschke ... Wir wollen nach Hause fahren.«
Während der Rückfahrt war es Gianni unmöglich, seinem Bruder ein Wort zu entlocken.
*
Nello hatte jetzt Tage völliger Entmutigung, an denen er sich weigerte, zu gehen, wo er den ganzen Tag aus seinem Bett hingestreckt lag und erklärte, daß er sich nicht wohl fühlte.
Gianni nahm ihn mit zu dem Chirurgen, der ihn behandelt hatte. Er gab Nello abermals die Versicherung, daß er ohne Krücken würde gehen können, eines Tages, in einiger Zeit ... Doch aus unbestimmten Andeutungen, zweifelnden Fragen, aus einem jener Selbstgespräche, wie die Männer der Wissenschaft sie mit sich zu halten pflegen, aus Bemerkungen über das Festwerden des Fußwurzelgelenks, über die Schwierigkeit, das rechte Bein künftig im Fußgelenk zu biegen, nahm Nello nach den Ternes die Befürchtung mit, nicht mehr springen zu können, nicht mehr die Übungen machen zu können, welche die Biegsamkeit und Gelenkigkeit des unteren Teiles der Beine erfordern.
Allmählich schlich sich bei beiden Brüdern, ohne daß sie sich darüber aussprachen, der verzweifelte Gedanke ein, daß das Werk und das Glück, ihres Lebens, die Gemeinsamkeit ihrer Neigungen und ihrer körperlichen Gewandtheit, bald ein Ende haben werde. Und dieser Gedanke, anfangs nur wie ein Blitz, ein schlimmer, flüchtiger Zweifel, den sie alsbald mit der ganzen liebenden und hoffenden Kraft ihrer gegenseitigen Zuneigung abgewehrt hatten, gewann im Laufe der Tage, die keine Besserung brachten, in ihrem Innern den Halt und die Dauer einer Überzeugung. Unmerklich und stufenweise vollzog sich im Geiste der Brüder dieser düstere Umschwung, ganz wie in einem Hause, in dem eine tödliche Krankheit herrscht. Anfangs will sie weder der Sterbende noch der Lebende an seiner Seite für tödlich halten; aber mit dem, was jede Woche an Beunruhigung hinzubringt, mit dem, was auf den Gesichtern der Menschen zu lesen ist, was die Andeutungen der Ärzte erraten lassen, was die Träume düsterer Stunden und das Grübeln schlafloser Nächte ins Gedächtnis rufen, mit alledem, was die Unwissenheit fortnimmt, was in der Stille des Zimmers »Tod! Tod!« raunt, verwandelt sich allmählich durch eine lange Reihe herber Erfahrungen und niederdrückender Ahnungen die unbestimmte, flüchtige Besorgnis der ersten Zeit zur absoluten Gewißheit für den Sterbenden wie für den, der ihn sterben sieht.