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Neuntes Kapitel

Seit langer, langer Zeit welkte Nellos Mutter, die noch so junge Mutter dahin. Was war ihr Leiden? Man wußte es nicht, vielleicht war es die Krankheit der Pflanzen, die man in ein Land und unter einen Himmel versetzt, wo sie verurteilt sind, bald zu sterben. Überdies klagte die Zigeunertochter über nichts als über Kälte, eine Kälte in ihrem Gebein, die sie nicht zu vertreiben vermochte, und die sie selbst im Sommer unter all den Tüchern, in die sie sich hüllte, mit plötzlichem, nervösem Zusammenschauern überfiel. Umsonst braute ihr die »Kopfnuß« Säfte von Kräutern, die sie am Wegrain gepflückt hatte, und die, wie sie sagte, sie erwärmen würden. Umsonst versuchte ihr Gatte in den Orten, wo man Vorstellungen gab, sie zum Arzte zu führen; sie verweigerte alles mit einer dumpfen, murrenden Gereiztheit und fuhr fort, an den allgemeinen Strapazen teilzunehmen, immer bleicher werdend und mit immer größeren Augen.

Eines Tages indessen hatte sie nicht mehr die Kraft, an ihrem Tischchen auf der Schaubühne bis zum Ende auszuharren und das Geld einzunehmen. Und an einem anderen Tage erhob sie sich nicht mehr, versprach aber, am nächsten Tage wieder aufzustehen. Doch sie erhob sich auch am nächsten Tage nicht, noch an den folgenden Tagen. Ihr Gatte wollte vor einem Gasthause ausspannen und sie pflegen lassen; doch sie widersetzte sich dem mit einem gebieterischen Kopfschütteln und zeichnete mit dem Nagel ihres Daumens in die Wand des Wagens ein großes Viereck neben der Stelle, wo sie ihren Kopf auf das Kissen gelegt hatte: den Umriß eines Fensterchens.

Seit dieser Zeit erfreuten sich die Augen der Kranken, die in ihrem Bette lag und mitreiste, an dem Anblick der Landschaften, die der Wagen durchwanderte.

Schweigsam und stumm, hatte sie kein Wort für ihren armen, greisen Gatten, der seine Tage am Fuße ihres Bettes verbrachte, auf einem alten Koffer eines römischen Prälaten sitzend, der seine italienischen Pantomimen enthielt, und in eine Schwermut versunken, die an Geistesschwäche streifte. Auch für die anderen hatte sie kein Wort mehr; sie erreichten von ihr nicht einmal, daß sie ihre Blicke für einen Moment von dem Fensterchen abwandte. Nur die Gegenwart ihres Jüngsten, in den kurzen Augenblicken, wo man das unruhige, selbstsüchtige Kind bestimmen konnte, still auf einem Schemel zu sitzen, vermochte sie aus ihrem ewigen Hinbrüten zu erwecken. Solange er bei ihr war, ließ die Mutter, ohne daß ihre Hände oder ihr Mund sich ihm zuwandten, ihren Blick wie eine verzehrende Flamme auf ihm ruhen.

Man versuchte alles, was der Kranken Freude machen konnte. Man wusch ihr fast alle zwei oder drei Tage die kleinen Gardinen an den Fenstern, damit sie stets recht weiß wären; man pflückte ihr Feld- und Waldblumen, die sie gern in einem Glase neben ihrem Kopfkissen stehen hatte, und die Truppe legte zusammen, um ihr eine Bettdecke von Daunenfedern mit schönem, rotseidenem Überzug zu kaufen, das einzige, wofür sie mit einem Anflug wilden Glückes, das aus ihr marmornes Antlitz trat, dankte.

Der Wagen zog nach wie vor durch das Land, und die Kranke wurde immer schwächer; man mußte ihr jetzt den Kopf zu dem Fensterchen ausrichten, sonst sank er ihr tief in das Kissen zurück.

Eines Nachmittags war sie so krank, daß der alte Bescapé ausspannen ließ und die Truppe sich anschickte, auf dem Felde zu kampieren. Als die Kranke an der Ruhe ihres Körpers merkte, daß die Fahrt unterbrochen war, rief sie ein Wort aus ihrer fernen Heimat, ein Wort der Zigeunersprache, eine kurze Silbe, zischend wie ein Peitschenhieb, das »vorwärts« bedeutete. Und sie wiederholte dieses Wort alle Minuten, bis man wieder angespannt hatte.

Tagelang, eine gewisse Anzahl von Tagen noch, blickte die Zigeunerin, starr und doch unbestimmt, beharrlich durch die Fensteröffnung auf die Natur, die hinter dem Wagen zurückfloh. Sie verschwamm in der Ferne, ward undeutlich und verschwand in tanzenden Linien bei den Stößen des Wagens auf den schlechten Wegen.

Die Augen der Sterbenden, schon trübe, konnten sich nicht trennen von den weiten Ebenen, der Waldestiefe, den besonnten Hügeln, dem Grün der Bäume und dem flutenden Blau der Ströme; sie konnten sich nicht losmachen von dem klaren Lichte, das vom Himmel zur Erde herabfällt, dem Licht, das außerhalb der Häuser leuchtet ... Sie war eine Frau, die, einst vor Gericht vernommen, sich von dem Kruzifix abgewandt hatte und in das Licht eines offenen Fensters des Gerichtssaales getreten war, mit den Worten: »Bei dem, was zwischen Himmel und Erde ist, schwöre ich, mein Herz zu öffnen und die Wahrheit zu reden.« Und noch im Todeskampf wollte sie bis zum letzten Augenblick ihres Nomadenlebens das Licht über sich haben, das zwischen Himmel und Erde ist.

Eines Morgens mußte die Maringotte in der Provinz Brie bei einer kleinen Kirche haltmachen, deren Unterbau renoviert wurde. Gerade vor dem Wagen glänzte im Schein der Morgensonne wie eine Bühnendekoration die Goldtapete des alten Chores, der stehen geblieben war, und mitten zwischen den roten, kalkbespritzten Gesichtern der Maurer und den Überresten alter Särge sprang auf den Gerüsten im Morgenschein ein baumlanger Pfarrer mit rundem, umflortem Hut und endlos langem, an den Taschen ausgebleichtem Priesterrock umher. Sein Gesicht, seit acht Tagen unrasiert, hatte eine spitze Nase und helle, durchdringende Augen. In dem Augenblick, wo der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, wandte Stepanida ihren Blick plötzlich von dem Fenster ab und heftete ihn lange auf ihren Jüngstgeborenen in wilder Zärtlichkeit. Dann, ohne ein Wort, eine Liebkosung, einen Kuß, ergriff sie Nellos Händchen, legte es in die Hand seines älteren Bruders, und ihre schon erkalteten Singer fügten die Hände der beiden Brüder zusammen, so fest, daß auch der Tod sie nicht trennen wird.

finis


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