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Das Vertrauen, die Freundschaft und der Glaube, die jüngere Kinder bisweilen ihren älteren Geschwistern entgegenbringen, die Hingabe ihres Herzens in naiver Bewunderung an ein Wesen ihres Blutes, das in ihren Augen zum Muster und Idealgeschöpf wird, an dem sie sich mit geheimer Liebe bilden, dem sie nachzustreben bemüht sind: das waren die Gefühle Nellos gegen Gianni; nur mit mehr Leidenschaft, mehr Begeisterung, mehr Fanatismus als bei allen jüngeren Geschwistern aus dem Erdenrund. Für ihn war nur das gut, was sein älterer Bruder tat. Für ihn war nur das wahr und glaubwürdig, was dieser sagte, und man sah den Jüngeren, wenn der Altere sprach, mit den Runzeln der Aufmerksamkeit und des Nachsinnens über den Augenbrauen zuhören. »Gianni hat's gesagt!« war seine stete Redensart; damit wollte er sagen, daß das Wort seines älteren Bruders, wie für ihn, für die ganze Welt ein Evangelium sein müsse. Nellos Glaube an Gianni war unbeschränkt. Einst wurde er von einem kleinen Akrobaten einer Konkurrenzgesellschaft, der größer und stärker war als er, durchgeprügelt; und als sein Bruder zu ihm sagte: »Morgen nimmst du diese Bleikugel, siehst du, in die Hand, gehst gerade auf ihn los, gibst ihm so einen Faustschlag ins Gesicht, und er liegt am Boden,« da nahm er am folgenden Tage die Kugel in die Faust, gab seinem Feinde den Schlag und warf ihn nieder. Diesen Faustschlag hätte Nello aber ebensogut dem Rabastens versetzt wie dem boshaften Bengel, hätte Gianni es ihm geheißen. 5o trieb er es in allem. Einmal, als Gianni in einer Anwandlung zu spaßen, was selten vorkam, den Bruder beschuldigte, er habe dem Pudel Lariflette die Hufeisen abgerissen, wurde Nello, nachdem er sich lange verteidigt hatte, durch das ernste Beharren des Bruders auf seiner Behauptung an der eigenen Überzeugung irre; er ging und suchte an den Pfoten des Pudels nach den Nägelspuren, und als ihn die anderen wegen seiner Leichtgläubigkeit verhöhnten, entgegnete er, eigensinnig weitersuchend: »Gianni hat's gesagt!«
Man durfte seinen Gianni nicht antasten. Eines Tages kam Nello in Tränen heim. Sein Bruder fragte nach dem Grunde seines Kummers; er erwiderte schluchzend, er habe gehört, wie man schlecht über ihn geredet habe, und als Gianni darauf bestand, daß er ihm die Worte wiederholte, bekam der Knabe beim Aussprechen der Schimpfworts über seinen Bruder vor Wut einen Krampfanfall.
Wenn Nello heimkehrte, war seine erste Frage: »Ist Gianni da?« Der Jüngere schien ohne den Älteren nicht leben zu können. Im Zirkus sah man ihn beständig um Giannis Beine her; er wollte bei allen Produktionen seines Bruders mit irgendeiner Nichtigkeit beteiligt sein und nötigte diesen alle Augenblicke, ihn mit der Hand sanft beiseite zu schieben und zu entfernen. In der übrigen Zeit, wo er sich bei seinem Bruder befand, hing er beständig mit seinen Augen an ihm, mit jenen langen, wie gebannten Blicken, in denen sich die bewundernde Sympathie der Kinder kundgibt, und mit jenem Anschauen, worin einen Augenblick alle Unruhe der ersten Jugend erstirbt. Und wenn ihn in Giannis Abwesenheit irgend etwas betrübte oder erfreute, so war sein erstes Wort zu dem Nächststehenden: »Das muß ich Gianni sagen!« So sehr lag ihm daran, alles mit seinem Bruder zu teilen.
Gianni füllte einen so großen Teil der Gedanken seines jüngeren Bruders aus, daß dieser selbst in seinen Träumen nie etwas allein tat. Stets war er mit seinem Bruder zu gemeinsamem Handeln verbunden.
Der Tod der Mutter hatte das Zwillingsleben der beiden Brüder am Tage wie in der Nacht wohl noch enger geknüpft, und eine der größten Freuden für Nello war es, jetzt, wo Gianni in der Maringotte schlief, des Morgens in sein Bett zu kriechen und unter den Zärtlichkeiten und der Kurzweil des Erwachens an seiner Seite zu liegen, wie es schon ältere Knaben so gern bei der Mutter tun.
Mittags und abends, in den Ruhepausen der Truppe, lehrte Gianni sein Brüderchen in den Pantomimenbüchern ihres Vaters lesen. Bisweilen gab er ihm auch eine Geige in die Hand, und dank dem Zigeunerblut, das in seinen Adern floß, begann er ein kleiner Virtuose der Heiden und Waldlichtungen zu werden.
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Tomaso Bescapé war nach Stepanidas Tod in eine merkwürdige Geistesabwesenheit versunken. Man fand ihn stets auf dem Pantomimenkoffer sitzend, am Fuße des Bettes, in dem seine Frau gelegen hatte. Eines Morgens weigerte er sich hartnäckig, aufzustehen, und fortan verbrachte er sein ganzes Leben in seinem Ehebett, gleichsam beglückt durch das, was ein geliebter Körper in den Überzügen und Kissen zurückläßt und was die Wärme eines anderen Lebens von seiner Vergangenheit wieder erstehen läßt. Der arme, schwachsinnige Greis hatte keine andere Zerstreuung mehr, als auf seinem Lager ausgestreckt sein phantastisches Husarenkostüm anzustarren, für das er jeden Tag neue silberne Tressen verlangte.
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Die Krankheit des Vaters zwang Gianni, die Leitung der Truppe zu übernehmen. Aber er war noch sehr jung als Direktor, und ihm fehlte die Autorität Leuten gegenüber, die fortfuhren, ihn als ein Kind zu betrachten. So lange die Mutter lebte und der Vater im Besitz seiner Geisteskräfte war, vermochten sie diese widerspenstige Gesellschaft zu regieren, die Eifersucht, die Abneigungen, den Haß der feindlichen Gemüter fast miteinander auszusöhnen. Stepanida übte durch die Fremdartigkeit ihrer Erscheinung, ihre Wortkargheit, die ruhigen und gebieterischen Befehle ihrer ernsten Stimme und den Blick ihrer tiefen Augen eine Art geheimnisvoller Herrschaft aus, und wenn sie etwas anordnete, wagte niemand, sich zu widersetzen. Und da, wo Stepanida schwieg, griff Bescapé mit der Diplomatie eines alten Italieners ein. Er besaß eine gründliche Kenntnis seines Personals, wußte die dumpfen Antipathien dessen, mit dem er sprach, geschickt zu beschwichtigen und ihnen zu schmeicheln, ließ in jedem Satz ein mio caro einfließen, machte unbestimmte Zusicherungen, eröffnete verlockende Perspektiven, die er recht nahe rückte, flocht wohl auch ein paar Spaße aus seinem Repertoire ein und erreichte auf diese Weise alles, was er wollte; ja, er wußte einen jeden mit seinen Ansprüchen auf unbestimmte Zeit zu vertrösten. Gianni hatte nichts dergleichen von seinem Vater geerbt. Er verstand sich nicht aufs Versprechen, und wenn er bei dem, was er wollte, auf Widerstand stieß, so brauste er auf, jagte den Betreffenden zu allen Teufeln und ließ das, was er verlangt hatte, sofort fallen. Auch fehlte ihm die Geduld, Annäherungen und Versöhnungen herbeizuführen, und ebenso gab er sich keine Mühe, zwischen dem Hanswurst und dem Herkules Frieden zu stiften; er ließ den beiderseitigen Haß sich steigern und zum offenen Kriege auflodern, vieles von den Einzelheiten des Berufes war ihm langweilig, und er griff nicht wie sein Vater bei der Ankündigung der Vorstellungen ein; ihm fehlte die großartige Begabung des alten Bescapé für Sprachen, dank welcher dieser in den kleinsten Orten der entlegensten Provinzen, in denen er sich befand, die Ankündigung in der Mundart der Gegend vornahm – eine Quelle fruchtbarer Einnahme im Süden Frankreichs, über die seine französischen Kollegen, die sehr wenig Sprachtalent hatten, sich grimmig ärgerten.
Auch besaß er nicht das geringste Verwaltungstalent, und der »Kopfnuß«, auf die er sich in Dingen der leiblichen Versorgung der Truppe verließ, fehlte der wirtschaftliche Sinn seiner Mutter und die Art, wie sie sich stets zu helfen gewußt hatte.
Schließlich war Gianni zwar ein guter Kamerad und stets bereit, jedem und allen gefällig zu sein; trotzdem bezeigten ihm die Leute, mit denen er lebte, keine Anhänglichkeit. Sie trugen im Grunde ihres Herzens den dumpfen Verdacht, daß er irgendeinen Plan im Kopfe habe, den er ihnen verhehle. Der Wunsch, fortzugehen, wurde bei ihnen rege, und sie prophezeiten dem jungen Direktor im stillen, daß er es in seiner Direktion nicht weit bringen würde.