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Als Gianni heimkehrte, fand er die »Kopfnuß« in der Tür der Bude auf Posten stehend. Er hatte schon seit einigen Tagen bemerkt, daß sie ihn ansprechen wollte; aber die Worte waren ihr im Munde stecken geblieben, wenn sie reden wollte, »Ach, Sie sind es, Herr Gianni, endlich. Sie sind heute morgen lange ausgeblieben ... Ich wollte ...« Sie hielt inne; dann hub sie mit verlegener Miene wieder an: »Nur zwei Worte, die Sache ist die ... Es heißt, die »wilden Frauen« sind heute beliebt ... das bringt Geld ein ... Da hab' ich gefragt, was dabei zu tun ist ... Es ist nicht so schlimm, meiner Treu, rohe Hühner zu essen ... und ich bin ja auch nicht stolz ... und für Sie würd' ich welche essen ... und auch Zigarren.«
Gianni blickte sie an. Die »Kopfnuß« wurde rot; in das Dunkel ihres lohfarbenen Teints stieg das Geheimnis eines zärtlichen Gefühls für den jungen Direktor, das sie tief in sich verborgen hatte. Das arme Mädchen hatte in ihrer liebenden Hingabe nach einem Mittel gesucht, die Einnahmen der Bescapés zu heben; sie wollte ihren Ehrgeiz als erste Drahtseilkünstlerin der Truppe zum Opfer bringen und in edler Selbstverleugnung auf die letzte und demütigendste Stufe ihres Handwerks hinabsteigen, indem sie rohe Hühner aß.
»Meine arme ›Kopfnuß‹, ich danke dir!« sagte Gianni und schloß sie feuchten Auges in die Arme. »Ja, du liebst die beiden Brüder wirklich! ... Aber ich habe eben den ganzen Bettel verkauft, und schau, dort kommt Le Recousu, um ihn in Besitz zu nehmen ... Es ist selbstredend nur ein Wechsel des Direktors ... Aber wenn du jemals ein Zehnfrankstück nötig hast und noch ein Goldfuchs bei den Bescapés ist, so vergiß nicht, daß es eine Post gibt ... Wohlan! Keine Rührung! Tu mein und meines Bruders Kleider in den Holzkoffer, und zwar rasch, denn wir reisen noch heute ab, sofort ... Und inzwischen will ich Le Recousu die Schlüssel zur Bude übergeben.«
Gianni kehrte nach Verlauf einer Stunde zurück, nahm den Koffer auf seine Schultern, sagte zu Nello, der über die plötzliche Abreise erstaunt war: »Auf, Brüderchen! Nimm den Violinkasten, und flugs zur Eisenbahn nach Paris!«
Noch ein Händedruck an die alten Gefährten, und sie gingen von dannen, beide nach zwanzig Schritten sich in gemeinsamer Bewegung noch einmal umwendend nach der Maringotte, wie Leute, die ihr Elternhaus verlassen und, bevor sie auf ewig von ihm scheiden, den Mauern, in denen sie geboren und in denen die Eltern gestorben sind, mit den Augen ein langes Lebewohl sagen.
*
In der Eisenbahn sagte der ältere Bruder zu dem jüngeren: »Nicht wahr, Brüderchen, du fandest es nicht mehr ergötzlich, ewig durch die Provinz zu ziehen und sich ewig auf Jahrmärkten herumzuplagen?«
»Ich,« entgegnete der Jüngere schlicht, »ich wäre geblieben, wenn du geblieben wärst ... Du gehst fort, ich folge dir ... Gingst du nach Ostindien, so ginge ich auch nach Ostindien ... und wirklich, selbst wenn ich glaubte, du wärst nicht bei Vernunft, ich tät' es doch.«
»Ja, ich weiß es,« fuhr der Ältere fort; »darum waren auch Erklärungen unnötig ... Doch das tut nichts, hier sind sie ... Unsere Geschäfte ... waren nicht glänzend ... Doch das war es nicht, was mich zum Verkauf trieb ... Ich habe Pläne für uns beide im Kopf« ... Gianni trommelte einen Augenblick zerstreut mit den Fingern auf die Holzbank der dritten Klasse. Dann fuhr er fort: »Also wir werden heute abend in Paris sein ... Morgen will ich versuchen, daß wir ein Engagement im Zirkus bekommen ... Dort werden wir weiter sehen.«
Nach diesen Worten hüllte sich Gianni bis nach Paris in die Wolken seiner Pfeife, indes Nello, von dem Wechsel kindlich erfreut und stolz auf die Aussicht, im Zirkus aufzutreten, vor Glück unruhig und redselig wurde und seine dicken, schlagflüssigen Nachbarn in Leinenblusen durch sein Schwatzen, sein Hinauslehnen zum Fenster, sein Ein- und Aussteigen auf jeder Station im Schlummer störte.