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Erstes Kapitel

Auf freiem Felde, am Fuße eines Zollpfahles, Kreuzten sich vier Straßen. Die erste führte an einem modernen Schlosse im Stile Ludwigs XIII. vorüber, wo es eben zum Diner läutete, und stieg in langen Windungen zum Gipfel eines steilen Berges empor. Die zweite, mit Nutzbäumen besetzt, ging nach zwanzig Schritten in einen schlechten Feldweg über und verlor sich zwischen Hügeln, deren Abhänge mit Weingärten bedeckt waren, während die Höhen brach lagen. Die vierte zog sich an Sandgruben hin, die von eisernen Sandsieben und Bretterkarren mit zerbrochenen Rädern angefüllt waren. Diese Straße, auf welche die drei anderen mündeten, führte über eine Brücke, die unter den Fuhrwerken dröhnte, zu einer kleinen Stadt, die sich auf Felsen emporstufte, jenseits eines breiten Flusses, der in einer Schleife durch Obstgärten strömte und den Rand einer Wiese bespülte, die sich bis zu dem Kreuzweg hindehnte.

An dem noch hellen Himmel zogen Vögel raschen Fluges einher, mit kurzen, schrillen Rufen gute Nacht sagend. Kühle senkte sich auf die Schatten der Bäume, und die Furchen der Wege nahmen eine violette Färbung an. Von Zeit zu Zeit hörte man noch das Ächzen einer müden Wagenachse. Tiefe Stille stieg von den öden Feldern auf, die bis zum nächsten Tage vom menschlichen Treiben verlassen waren. Selbst die Wellen des Flusses waren nur noch um einen Zweig, der hineintauchte, erkennbar; das Wasser schien seinen raschen Fluß zu verlieren, als ob die Strömung sich im Dahinfluten ausruhte.

Da kam auf der gewundenen Straße, die sich den Berghang herabzog, unter dem Klirren einer defekten Hemmvorrichtung ein seltsamer Lastwagen herab, von einem kurzatmigen Pferde gezogen. Es war ein riesiger Wagen mit einem breiten, orangefarbenen Streifen auf seinem verrosteten Zinkdache, vorn mit einem kleinen Vordache versehen, an dem ein Efeustock aus einem ausgeflickten Kochtopf emporwuchs, von jedem Stoße des Wagens geschüttelt. Diesem Wagen folgte ein sonderbarer, grüner Karren, dessen gedecktes Oberteil sich über zwei großen Rädern erweiterte und ausbauchte, ähnlich wie die breiten Flanken der Dampfschiffe, in denen sich die Kajüten der Passagiere stockweise übereinander befinden.

Am Wegekreuz sprang ein kleiner, alter Mann mit grauen Haaren und zitternden Händen vom ersten Wagen ab, und während er ausspannte, erschien eine junge Frau unter dem efeuumrankten Vordache. Sie hatte über den Oberkörper einen großen, karierten Schal geworfen, während ihre Schenkel und Waden, nur mit Trikot bekleidet, wie nackt aussahen. Ihre über der Brust gekreuzten Hände erhoben sich fröstelnd bis zu den Schultern und zogen das Halstuch fester, während sie, auf einem Beine stehend, mit dem Fuße einen Parademarsch trommelte. Dies trieb sie so eine Zeitlang, den Kopf schräg auf die Schulter geneigt, in der anmutigen Haltung einer Taube. Ihr Profil verlor sich im Schatten, nur auf die Lider fiel Licht, indes sie zärtliche Worte und Liebesausdrücke an ein Wesen richtete, das noch im Innern des Wagens war.

Das Pferd wurde ausgespannt, die Deichsel entfernt, und der Greis setzte mit liebevoller Sorgfalt ein Trittbrett an den Wagen, von dem die junge Frau abstieg, nachdem sie ein schönes Kind mit kurzem Hemdchen in ihre Arme genommen hatte, ein Kind, das größer und stärker war, als man Säuglinge zu sehen gewöhnt ist. Sie schob den Schal zurück und gab ihrem Knaben die Brust, indem sie mit ihren rosa Beinen in kurzen Schritten langsam dem Flusse zuschritt, gefolgt von einer anderen Frau, die hin und wieder den bloßen Körper des Kindchens liebkoste oder sich bückte, um etwas Hundszahn zu pflücken, der einen vorzüglichen Salat gibt.

Aus dem zweiten Wagen waren Menschen und Tiere gestiegen. Zuerst ein heulender Pudel mit kahlem Fell, der aus Freude darüber, auf der Erde zu sein, einen Augenblick eine wilde Jagd auf seinen Schwanz anstellte. Dann ein paar Hühner, die sich sofort mit freudigem Flügelschlag auf den Wagen setzten. Ferner ein junger Mann, dessen Matrosenjacke über einen Körper ohne Hemd geknöpft war, und der sich querfeldein verlor und auf Abenteuer ausging. Nach ihm erschien ein Koloß, dessen Hals so dick war wie der Kopf, und dessen Stirn ein wolliges Haargestrüpp bedeckte. Dann noch ein armer Teufel in dem kläglichsten Überzieher, den je ein Mensch getragen, einen Tabakrest aus einer Papierdüte schnupfend. Schließlich, als der Karren schon leer schien, kam noch eine wunderliche Gestalt zum Vorschein, deren Mund durch einen schlecht abgewischten Schminkerest bis zu den Ohren zu reichen schien. Mit diesem Munde gähnend, reckte sie sich lange, erblickte den Fluß, verschwand im Innern des Wagens und kam mit einem Werkzeug zum Krebsfischen wieder heraus.

Halb laufend, halb radschlagend, gelangte diese groteske Figur, die einen gänsekotfarbenen Kittel mit schwarzen Figuren und ausgezähnten Rändern trug, nach dem Flußufer. Dort neigte eine alte, geborstene Weide sich über das Wasser, mit Holz und Masern wie aus weißem Stein. In ihrer Höhlung saßen grüne Moose und Haufen braunen Moders, während der Wipfel noch Reiser und Sprossen trieb, von dichten Winden umrankt. An ihrem Fuße hatten die Fischer ein paar Stufen in das abgenutzte Gras getreten. Der Hanswurst kroch platt auf dem Bauche heran und beugte sich über das durchsichtige Wasser, in dessen Spiegel die Lehmfarbe des Ufers und das Rostrot der Wurzeln sehr bald mit dem Blau des tiefen Flußbettes verschmolz. Sein lächerliches Bild jagte ein Rudel Fische in die Flucht, die alsbald wie dunkle Pfeile mit lichtem Gefieder davonschossen.

Die Mutter, ihr Kind an der Brust, betrachtete inmitten der langen Schatten, die sich über den Fluß hinstreckten, die sinkende Sonne am Horizont, die an einem Punkte der Strömung eine tanzende Glutsäule bildete; sie betrachtete die Wellchen, die gebrochen dahinrollten, und den blauen Azur des Himmels und den Purpur des Sonnenunterganges; sie betrachtete mit starren, tiefen Blicken die langbeinigen Spinnen, die auf der spiegelnden Fläche rasch und rastlos dahinglitten ... Und bisweilen sog sie mit leicht geblähten Nasenflügeln den Duft der Minzen am Ufer ein, den ein leichter, sich erhebender Wind herbeiwehte.

»He, Kopfnuß, an den Ofen!«

So rief die gedrungene Herkulesgestalt, die mitten in der Wiese aus einer Kiste saß, die Füße in pelzverbrämten Heldenstiefeln, und mit unendlich zarten und sorgfältigen Bewegungen Kartoffeln schälte.

Die »Kopfnuß« begab sich zu dem Wagen zurück, gefolgt von der Mutter des Kindes, die den Vorbereitungen des Abendbrotes stillschweigend beiwohnte, ohne etwas anzurühren, nur Winke gebend wie in einer Pantomime.

Inzwischen hatte der grauhaarige Alte die beiden Pferde an einem Gitter festgebunden und zog eine scharlachrote Husarenjacke mit Verschnürungen und silbernen Borten an, griff dann zu einer Gießkanne und schlug den Weg nach der Stadt ein.

Das Himmelsblau war verblichen und nahezu farblos, mit etwas Gelb im Westen, etwas Rot im Osten, und einige langgestreckte, dunkelbraune Wolken streiften den Zenit wie Bronzebarren, von diesem verblassenden Himmel senkte sich unmerklich ein grauer Schleier herab, der die Dinge im Zwielicht so ungewiß erscheinen läßt, sie zweifelhaft und unbestimmt macht und die Formen und Umrisse der entschlafenden Welt in der Spätdämmerung auslöst – das sanfte und traurige Schauspiel des unmerklichen Hinsterbens des Lichtes. Nur in der kleinen Stadt mit den bleichen Häusern zuckte in den Gläsern der Laterne vor der Brücke noch ein letzter Tagesschimmer; aber schon hob sich das Dach der großen Kirche mit den schmalen Spitzbogenfenstern in düstrem violett von dem fahlen Silber des Sonnenunterganges ab. Und die Felder erschienen nur noch wie ein unbestimmter Raum, der Fluß hatte erst eine tiefgrüne Färbung, dann einen Schieferton angenommen; jetzt war er nur noch ein farbloses Rauschen, in das die Schatten der Bäume große verschwommene Flecken von chinesischer Tusche warfen.

Inzwischen wurden die Vorbereitungen zum Abendbrot lebhaft betrieben. Ein kleiner Herd war auf der Wiese nahe am Fluß ausgestellt; irgend etwas kochte darin, vermengt mit den Kartoffeln, die der Herkules geschält hatte. Drei- oder viermal hatte der Hanswurst Krebse in einen Kessel geworfen, die beim Hineinfallen an dem Kupfer ein krabbelndes, plätscherndes Geräusch machten. Der Alte in der Husarenjacke kehrte aus der Stadt zurück, die Gießkanne mit Wein gefüllt. Die »Kopfnuß« setzte ausgebrochene Teller auf den Teppich, auf dem die Akrobatenkunststücke stattfanden, und die Männer der Truppe hatten sich ringsherum träge hingestreckt und ihre Messer aus den Taschen gezogen.

Die Nacht brach herein. Nur ein feuriger Punkt blinkte noch in der Stadt am Ende der Hauptstraße an einem einzelnen Hause.

Plötzlich tauchte aus einem der Gärten der junge Mann hervor, die Brust nackt, in seiner Matrosenjacke ein sich sträubendes Tier haltend. Als man dieses erblickte, erhellte eine leichte, fast grausame Freude das Antlitz der in Trikot gekleideten Frau. Es war, als ob sie an etwas zurückdächte, als ob Bilder aus ihrer Vergangenheit vor ihr auftauchten.

»Erde!« gebot sie, in die Hände klatschend, mit einer tiefen Altstimme, einer Stimme mit seltsamen, betörenden Kehllauten.

Und alsbald sah man sie mit katzenartiger Geschicklichkeit, ohne sich weh zu tun, den lebenden Igel in eine Lehmkugel einbacken, während der Alte mit trockenem Reisig ein mächtig lohendes Feuer anzündete.

Die Truppe begann zu essen. Die Männer tranken in der Runde herum aus der Gießkanne. Die »Kopfnuß« aß stehend, ein Auge auf den Herd behaltend und bisweilen nach der herumgereichten Schüssel greifend. Die Frau im Trikot hatte ihr Kind neben sich auf eine Ecke des Teppichs gelegt und aß, keinen Blick von ihm wendend, als ob ihre Augen in das geliebte Körperchen eindringen wollten. Die Mahlzeit verfloß schweigsam, wie jedes Mahl hungriger, müder Leute, die zudem unter Bäumen, am Ufer eines Flusses lagern und durch die Vorgänge einer Sommernacht, das Schwirren der Nachtvögel, das Springen der Fische und das Funkeln der Sterne abgelenkt werden.

»Mein Platz!« murrte der Hanswurst, indem er den Mann mit dem schäbigen Überrock, den Posaunenbläser der Truppe, roh beiseite stieß. Dann begann er gefräßig zu essen. Eine Zeitlang kam vom dunkeln Himmel ein Klingen herab, wie von einer fernen Kristallglocke, ein langsames Läuten in himmlischen Klangwellen, ein wehmütiger Engelgesang, in die Abendluft ausgegossen, das nach dem Aufhören noch weiter zu tönen schien.

Der Lehm, in welchem der Igel briet, war zum irdenen Gefäß geworden. Der Herkules zertrümmerte es mit einem Beilhieb, und das Tier, dessen Haut sich mit den Stacheln ablöste, ward unter die Tischgenossen verteilt. Die Frau im Trikot nahm ein Stückchen davon und führte es mit feinschmeckerischem Behagen langsam zum Munde.

Das Kind, das neben der Mutter lag, hatte mit seinen Händchen und Füßchen allmählich alle Teller beiseite gestrampelt und war nun, als Herr und Besitzer des Teppichs, den Bauch in der Luft, mitten darauf eingeschlafen.

Alle genossen den schönen Abend, den das Zirpen der Grillen und das Rauschen des Laubes in den Wipfeln der hohen Pappeln durchbebte, und in dem schläfrigen Hinträumen strichen durch das Dunkel laue Luftwellen über die Gesichter hin wie Liebkosungen und zärtliches Streicheln. Selbst das unheimliche Ausschwirren eines Vogels am Bache, der finster durch ein Dickicht von hohen Nesseln floß, deren Blätter zu dieser Nachtstunde wie von schwarzem Papier aussahen, jagte den beiden furchtsamen Frauen nur einen ganz leisen Schreck ein, der nicht ohne Reiz war.

Mit einem Male trat der Mond zwischen den Bäumen hervor und fiel voll auf das schlummernde Kind, das, wie von seinem weißen Lichte geliebkost, die Anmut seines nackten Körpers in trägen Bewegungen zu entfalten begann. Sein Gesicht lächelte unsichtbaren Dingen zu, während seine geöffneten Finger tolpatschig ins Leere griffen. Dann erwachte es nach Kinderart, und in seinen Bewegungen lebhafter werdend, entwickelte es eine Gelenkigkeit und Elastizität, als hätte es biegsame Knochen. Seine kleine Hand ergriff das rosige Füßchen und führte es zum Munde, als wollte es daran saugen. Es war wirklich ein reizendes Bild, des Pinsels eines Künstlers würdig: dieses gewölbte Köpfchen mit dem blonden, lockigen Flaumhaar, diese klaren Augen mit den tiefen, weichen Höhlen, diese kleine Stumpfnase, die wie an der Mutterbrust plattgedrückt war, dieser Mund mit der trotzigen Schwellung, diese Pausbacken, dieser weiße, rundliche Leib, die prallen Schenkel, die runden Waden, die fleischigen Füßchen und niedlichen Händchen, dieses speckige Fleisch mit den Falten am Nacken, an den Knöcheln, an den Handgelenken, mit den Grübchen an den Ellenbogen, am Gesäß, in den Bäckchen, dieses milchweiße Fleisch, beschienen und bleichdurchsichtig gemacht vom Opallicht des Mondes.

Während die entzückte Mutter ihr Jüngstgeborenes bewunderte, war der junge Bursche in der Matrosenjacke, ein Knie auf den Boden gestemmt, damit beschäftigt, einen Ball auf der Spitze eines Stäbchens aufzufangen und im Gleichgewicht zu halten. Er lächelte seinem Brüderchen einen Augenblick zu und begann dann sein Kunststück von neuem.

Im Schoße der großen Natur und der stillen Nacht kehrten alle unwillkürlich zu den Verrichtungen des Tages und zu ihrem Handwerk zurück, das der Truppe morgen ihren Unterhalt schaffen sollte. In dem Wagen blätterte der Greis, seine Husarenjacke auf dem Rücken, beim Schein einer Kerze in alten Papieren. In einer Ecke auf dem Felde, wohin noch ein wenig Mondschein fiel, übte die »Kopfnuß« mit dem Posaunenbläser, der morgen in einem komischen Intermezzo auftreten sollte, eine Ohrfeigenszene ein. Die Frau brachte dem Neuling bei, wie er die Backpfeifen, statt sie zu empfangen, durch Klatschen in die Hände vortäuschen sollte.

Der Hanswurst seinerseits war zu seinen Krebsangeln zurückgekehrt. Unter der Weide kauernd, deren Zweige sich fächerartig, grau und dünn über seinem Kopfe erhoben, wie die Hälfte eines riesigen, staubigen Spinnennetzes, schlummerte er phantastisch, die Sohlen im Wasser, über die grünliche Tiefe gebeugt, aus deren Grunde der Widerschein eines Sternes schlief.

finis


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