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Die beiden Brüder wohnten in der Rue des Acacias in den Ternes, jenem ärmlichen, äußersten Ende von Paris, das sich in den Feldern des Weichbildes verliert. Sie waren in den Mietskontrakt eines Tischlers eingetreten, der vor dem Bankrott stand. Dieser Tischler hatte ein kleines Häuschen bewohnt, das im Erdgeschoß eine Küche und eine Rumpelkammer, im ersten Stock zwei Stuben und ein Nebengelaß enthielt. Zu der Wohnung gehörte auch eine große Bretterbaracke, die ihm als Werkstätte gedient hatte und die die Clowns jetzt als Übungsplatz benutzten. Der Hof war von der Straße durch einen hohen Zaun abgegrenzt, der beide Gebäude verband. Diesen Hof teilten die Brüder mit einem Holzschnitzer, der größtenteils im Freien arbeitete; doch befand sich seine Werkstatt und sein Bett auf dem Boden der Bretterbaracke. Dieser Holzschnitzer, ein gutmütiger Alter, mit den grünlichen, trüben Augen einer melancholischen Kröte, und gleichsam nur ein Oberkörper ohne Beine, war in seinem Fache ein Künstler, der auf die luftigen Architekturformen des achtzehnten Jahrhunderts zurückgriff und sie nachbildete. Der verschrobene alte Handwerker der Ternes hatte mitten auf dem Hofe eine Probe seiner Kunst zur Schau gestellt, damit die Passanten auf der Straße sie sahen: ein wunderbares, grünes Tempelchen mit Karnies, Pilastern und durchbrochenen Kapitälen, ein wahres Muster der Schnitzkunst, dessen Giebel die Inschrift trug:
Lamour, Holzschnitzer für antikes Genre.
Musikpavillon, ausgeführt nach den berühmtesten Modellen, insbesondere nach der Salle des Fraicheurs in Petit-Trianon. Vortreffliches Werk der Holzschneidekunst, passend als Schmuck eines modernen Parks, zum Selbstkostenpreis abzugeben.
Das sehr unregelmäßige und abwechslungsreiche Grundstück schloß noch mehrere Häuschen ein, die in den Winkeln versteckt lagen und zu allerhand wunderlichen Gewerben dienten. Ganz am Ende stand eine kleine Hecke, die von den am Tage dort weidenden Gänsen ganz abgefressen war. Dahinter lag eine kleine Molkerei, über deren Kuhstall, unter einem Fenster mit weißen Vorhängen, zu lesen stand:
»Zimmer für Kranke zu vermieten!«
Der Holzschnitzer war höchst zufrieden, daß er mit den Mietern keine Schwierigkeiten wegen seines Tempelchens hatte, das den gemeinsamen Hof fast ganz einnahm. Er lebte im besten Einvernehmen mit den beiden Clowns und gestattete ihnen, sobald der Sommer herankam, sich in dem Pavillon eine Art von grünem Laubvorhang herzustellen und dahinter, vor den Blicken der Straße geschützt, Geige zu spielen. Er selbst brachte aus der Abfallgrube eines benachbarten Gärtners eine prächtige Kollektion jener ausdauernden Pflanzen mit großen, leuchtenden Blumen herbei, jener unglücklichen Stockrosen, die heute verachtet sind und die man so hübsch an den Gartenspalieren aus den Wandmalereien des achtzehnten Jahrhunderts angebracht sieht.
In diesem Pavillon, durch dessen Decke und Wände die Sonnenstrahlen und der Flug der Sperlinge kamen, hinter der gelb, lila und rosa blühenden Wand, spielten die beiden Brüder im Sommer und Herbst an schönen Tagen die Geige. Doch war es in der Tat mehr ein Plaudern in Tönen, als ein Spielen auf ihren Geigen; es war, wie wenn zwei Seelen miteinander Zwiesprache hielten. Alle die flüchtigen, mannigfachen und verschiedenen Eindrücke der Stunde und des Augenblicks, die in das Innere eines Menschen ihren Wechsel von Licht und Schatten werfen, wie der Wechsel von hellem Sonnenschein und vorüberziehenden Wolken am Himmel fällt in die Meeresflut; alle diese Eindrücke vertrauten sich die Brüder auf ihren Geigen an. Und in diesem bruchstückweisen Plaudern, während abwechselnd eine der Violinen schwieg, kam bald die Träumerei des Älteren in sanften Schlummerweisen, bald der Mutwille des Jüngeren in spöttischen, rauschenden Klängen zum Ausdruck. Es folgten sich, bald der Geige des einen, bald der des anderen entlockt, dumpfer Kummer in langgezogenen Klagen, und Gelächter in einem Sprühregen gellender Töne, Ungeduld, die in zorniges Dröhnen ausbrach, zärtliches Flüstern, wie Quellenrieseln im Moose, und Geplauder, das in übersprudelnden Koloraturen schwatzte. Und nachdem dieses musikalische Zwiegespräch wohl eine Stunde gewährt hatte, erfaßte die Söhne Stepanidas mit einem Male ein zigeunerhaftes Virtuosentum; sie begannen beide zugleich zu fideln, mit einem Schwung, einem Feuer, das die Luft des Hofes mit einer rauschenden, nervösen Musik erfüllte, die dem Hammer des Holzschnitzers Einhalt gebot, während das hohle Gesicht der Brustkranken über dem Kuhstall sich unter Tränen lächelnd herabneigte.
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Gianni, der die Bücher der Straßenantiquare an den Quais las, und der zum Erstaunen seiner Kollegen oft mit einem alten Schmöker unter dem Arm im Zirkus erschien, nahm zuweilen auch in den Pavillon solch einen alten Band mit herunter, einen dicken Quartband in Schweinsleder, mit abgestoßenen Ecken und während der Revolution ausgekratztem Wappen, in welchem die Hand irgendeines Kindes den Figuren aus dem sechzehnten Jahrhundert moderne Pfeifen in den Mund gemalt hatte. Das Buch trug die Aufschrift: »Drei Dialoge über die Übung des Springens und des Voltigierens von Arcangelo Tuccaro 1599«, mit dem Zusatz, daß König Karl IX. »sich jeglicher Art des Springens beflissen und sich darinnen sehr geschickt und munter erwiesen«. Gianni las seinem Bruder aus dem in altertümlichen Lettern gedruckten Werk vor: über die Petauristenspringer, deren griechischer Name sich von dem halb fliegenden Sprunge der Hühner herleitet, wenn sie auf der Hühnerleiter in ihren Stall zurückkehren, – über die »Gauklerin« Empusa, die dank ihrer magischen Wandelbarkeit alle Formen und Gestalten anzunehmen vermochte, – über die »fröhliche Jugend«, welche die edle Kunst des Springens von ihren Schülern fordert, – ferner Stellen über den epheristischen, orchestischen und kubistischen Sprung, welch' letzteren man lange Zeit als das Ergebnis eines Pakts mit dem Teufel ansah.
Dann begannen die beiden die geometrischen Figuren zum Überschlagen des Körpers in der Luft zu studieren, und Gianni ließ seinen Bruder nach den Angaben und den konzentrischen Kreisen des Buches mit strengster Genauigkeit das Glicement du demi-col , das Glicement couché und einen Haufen altertümlicher Tricks ausführen; es machte den beiden Spaß, in ihrem Berufe auf Altes zurückzugreifen und ein Stündchen in der Weise zu arbeiten, wie man es vor mehr als zweihundert Jahren getan.