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Des Vaters Art mit den Leuten und mit uns.

Die Leute, die Honoratioren insbesondere, sind dermalen so neunundneunzig klug, sie haben den Takt und den Geschmack und alle sublimste Lebensart mit Löffeln mediziniert und hinterdrein noch im Magen rektifiziert; wenn aber die Sachen zum Klappen kommen, so wissen diese superklugen und geschmackvollen Zackermenter gleichwohl nicht ex tempore und auf dem Fleck, was schicklich ist, was sich in casu concreto und eben für ihre Personage und Visage, für ihre Uniform und Kleidage, für ihre Hantierung und Apanage, für ihre Feigheit und Courage, für ihre Ökonomie und Menage recht schicken will. Diese Allerweltsleute setzen ihr Thun und Lassen auf mathematisch berechnete Walzenstifte, um es sodann im höheren Leierkastenrhythmus herunterzudrehn. Sie verschneiden ihr bißchen Witz und Instinkt nach Schablonen, sie schlagen ihre unsterbliche Seele über den Leisten einer künstlerischen, einer wissenschaftlichen, einer socialen und politischen Konvenienz, sie piepen ihre Piepspoesie und Prosa nach Noten, und resp. nach stereotypierten Redensarten, nach einer längst abgeschwächten Gemeinplätzigkeit, sie stecken ihr Krümelchen Genie in die gelahrte Rocktasche zu dem übrigen Weltabsoluten, das darin weilen mag. Also ad vocem Schicklichkeit und Geschmack, so wissen diese Leute aus der Ästhetik, wie das zu dispensieren. » Recipe:« zum Abführen, nämlich des wilden Genies und einer unbändigen Natur, so stellt sich das Schickliche als der Rückstand von selbst wieder heraus.

Das Genie ist nämlich originell, erfinderisch und überbrausend; die Schicklichkeit aber und der beste Geschmack bequemt sich der Schule und Konvenienz, dem Modell und dem Trommelfell, auf welchem aller Welt Feinheiten gleichsam in einem Wirbeltanze versammelt werden. Es ist rührend und heroisch zugleich.

Die Leute von altem Schlage hatten von dergleichen aber ein anderes Glaubensbekenntnis. Zu ihnen gehörte auch mein Vater. Er war in praxi sein eigener Geschmacksrichter, insbesondere bei herzhaften Gelegenheiten. Gefühlvoll und delikat in seinem Innersten, ließ er sich auswendig nichts davon merken, erschien er vielmehr kurz angebunden, körnig und ein bißchen grob, am liebsten jedes Ding beim natürlichen Namen benennend, und so nannte er mich denn auch für ordinär und in guten Humoren: » Er Schlingel;« » Herr Sohn« aber nur, im Fall ich für Maulschellen reif war. Im Komplimentierbuch, im Katechismus der Pädagogik, in der Kathedermoral sind solche Titulaturen und Lebensarten freilich nicht als schicklich und normal rezipiert; wer aber ihren Autor nur einen Augenblick gesehen und gesprochen hatte, der mußte überzeugt sein, daß zu des alten Herrn derber Person, zu seinen mittelalterlich modellierten Gesichtszügen, zu seiner gesamten Art und Weise aus antediluvianischem Schrot und Korn ein: »Lieber Sohn« nimmermehr so gut passen wollte, als ein bloßer Schlingel, und daß nichtsdestoweniger beide Prädikate in des rauhen Mannes weichem Herzen zugleich ihren Anklang hatten, wenn sie auch nicht eben mitsammen über die Zunge gingen. Diese biographische Reminiscenz will aber für andere Leute so viel bedeuten: Ein Mensch von richtigem Takt, und das war mein Vater, muß nicht nur wissen und fühlen, welche Redens- und Lebensarten, welche Manieren und Coiffüren der eben gangbaren Konvenienz konvenabel, sondern welche zu seinem Gesichte, zu seiner Gesinnung, zu seiner Person und Stellung im Leben, zu seinem Bildungsprinzip und Schicksale, zu seinem Geschlecht und Lebensalter erklärend bedeutsam, passend und notwendig sind, und welche nicht. Die schicklichen muß er dann recipieren, ob es nun die Konvenienz, die Politik, die Ethik und Ästhetik erlauben wollen oder nicht. Das ist der rechte Takt und Geschmack.

Mein Vater hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Gegen seinen Präsidenten verstand er, wenn's eben not that, grobkörnig zu sein; aber seinen Barbierjungen traktierte er dafür mit Langmut und herzlichem Spaß. Moderne Herren hören die Klatschgeschichten aus und dann schneiden sie dem armen Subalternen ein desavouierendes Gesicht. Ist das wohl ein Dank für rasierende Rhapsoden etc.? Mein Vater war ein guter Christ, aber er nahm die Leute in der Vorstellung nie viel gescheiter und besser, als sie in Wirklichkeit waren, und das brachte ihm Respekt und Praxis zuwege. Mein Vater war ein gemütlicher Mann, aber er stand nichtsdestoweniger mit Bewußtsein und Kritik über dem Augenblick und seiner Person, und war eben nur gemütlich wie ein alter Advokat, der er war, nicht aber wie ein deutscher Dorfpastor von August Lafontaine.

Der Alte schmauchte seine Pfeife, aber nicht ganz mit dem Komfort, wie wenn er mit der ganzen Welt die Friedenspfeife rauchte. Er hatte sein apartes Gesicht und Mienenspiel, seine Persönlichkeit umschrieb sich nur mit ihrer eigenen Existenz. In Worten war sie nimmer abzufangen, auch wenn man ihn selbst als illustrierende Zugabe zu dem Text hatte.

Er war sein eigner Musterheiliger, und wenn man ihn an einer Stelle wegzuhaben glaubte, so war er an einer ganz andern von neuem da und maliziöser als je, wo er irgendwie abnahm, daß man ihn zu studieren, zu behandeln, oder bloß zu fixieren gedachte. Herz und Witz, Idealismus und Realismus, Liebe, Charakter, Energie und Sentimentalität waren in dem alten Manne zu einem unergründlichen Humor gemischt. Er war ein alter origineller, deutscher Ehrenmann, aber ohne von seiner Originalität Späne zu drechseln und irgendwie über seine eigene Tugend gerührt zu sein.

Zu den Eigentümlichkeiten meines Erzeugers, die heute von vielen, selbst gebildeten Leuten gar nicht mehr verstanden werden dürften, gehörte auch die, daß der äußerlich streng und herb scheinende Mann nie zugestehen mochte, daß und wie ihm eben etwas an die Seele rührte und das Herz zerschmolz. Sei es nun, daß er wohl fühlte, wie ihm der entsprechende schöne Ausdruck für schöne und weiche Empfindungen versagt, oder wie es dem Manne und dem Hausvater vor den Respektsbefohlenen überhaupt nicht ganz zuständig sei; genug, wir Kinder wenigstens bekamen das nie zu sehen und durften es günstigsten Falls eben nur erraten, wenn nur unserm Papa irgend etwas mal eine Illumination und eine Herzenssatisfaktion zuwege brachte, aber auch wenn er in Person irgend wem imponierte und genugthat, so war es ihm peinlich und widerwärtig, sich das irgendwie zu reflektieren und auf diese Weise gleichsam mit seinem innern Menschen auf die Ausstellung zu ziehn. Dem Manne wohnte ein Prinzip inne, das heute kaum dem Namen, geschweige denn der Sache nach bekannt ist: geistige Jungfräulichkeit, Verschämtheit im Bekenntnis und Interesse eines Weltheiligtums. Wie jeder keusche und unverdorbene Mensch die körperliche Entblößung in tiefster Seele als eine Profanation der leiblichen Schöne empfindet, die ein Heiligtum und ein geweihter Tempel der Gottheit und Natur sein und bleiben soll; so zeigte mein Vater überall eine Scham, das innerste Heiligtum seiner Gefühle und Empfindungen und seiner zartesten Gesinnungen ohne dringende Not und so für gewöhnlich aller Welt Augen bloß zu legen. Und diese verschämte Natur, dieser heilige Geist einer hehren Sittlichkeit in ihm war auch wohl der tiefere Grund jener verschlossenen Liebe und Zärtlichkeit, die auf den flüchtigen Anschein als bloße Wunderlichkeit und Härte erschien.

Wie in allen Dingen, so war der Vater auch in dem Umgange mit uns Kindern ein absonderlicher Mann. Sein Grundzug war Liebe und Zärtlichkeit, die er in dem unablässigen Eifer, uns zu tüchtigen Menschen zu bilden, bethätigte; aber weil er sich eben einer so zärtlichen Empfindung für uns bewußt war, mochte und konnte er sie sich nicht gut gegen uns merken lassen, da unsere natürliche Lebhaftigkeit und die damit in der Regel verknüpfte Unbändigkeit und Hartnäckigkeit einen Rigorismus erforderten, hinter dem die Zärtlichkeit nur ausnahmsweise und gelegentlich ihre Gestus machen durfte. In diesem System unterstützte den alten Herrn zum Glück für uns auch noch sein jach beschworener und ebenso verfliegender Zorn. Außerdem hätten wir seiner natürlichen Weichheit zu viele Vorteile, aber nicht zu unserem wahren Heil abdividiert.

Wenn wir den Alten erst so weit gebracht hatten, daß er uns beim Kopfe nahm und es zum Handgemenge kam, so ward groß und klein abgethan und wer ihm unter die Fuchtel kam. Wenn er dann solchergestalt Feind und Freund hatte über die Klinge springen lassen, so that ihm die Massaker leid, und es kamen hinterdrein die Schmerzgelder und Heilpflaster in allerlei Geniebegünstigungen, Extrafreiheiten und Patente auf dumme Streiche für die nächste Zeit, eine gewisse Zärtlichkeit selbst nicht zu vergessen, die aber so sonderbarer Natur war, daß sie mehr einer kleinen Abstrafung als einer Liebkosung ähnlich sah. Nach solchen Haupt- und Staatsaktionen, nach solcher Generalexekution in Bausch und Bogen galt eine Art leicht an der Backe oder gegen das Ohr ausgeführter Schlag immer noch derb genug, daß man im Zweifel blieb, ob Ernst oder Spaß gemeint sei, und ziemlich bittersüß drein sehen mußte für das Versöhnungszeichen und ein: »Er Rekel, Er Galgenstrick etc. geh' Er« war der stehende Begleitschein und der Schluß der Pacifikation.

Der alte Papa schimpfte uns, wenn er gereizt worden war, auch vor Fremden als die allergottloseste Brut unter der Sonne; aber er würde jeden häßlich angesehen haben, der solche väterliche Herzensergießungen für eine Aufforderung hätte nehmen wollen, die eigenen Kinder herauszustreichen oder auch nur beifällig in den Tadel einzugehen.

Die Nachbarn und Bekannten verstanden sich in dieser Beziehung mit dem alten Herrn gar zu wohl, um nicht stumm oder entschuldigend zuzuhören. Aber auch mit allzu zuthätigen und verbindlichen Exküsen blieb es bei solchen Affairen ein äußerst mißliches Ding, denn der alte Herr nahm es wieder für Dummheit und für einen Tusch, wenn man im Ernste dasjenige widerlegen und vertuschen zu wollen schien, was gescheiter- und höflicherweise gar nicht für bare Münze genommen werden sollte. Aber auch so war's nicht recht, wenn man sich etwa lächelnd merken ließ, der Herr Justizdirektor meine es ja doch nicht so schlimm.

Der Herr Direktor nahm solche Weise dann wieder so, als halte man ihn für einen Renommisten oder ergötzlichen Komödieonkel. Kurz, es blieb ein schweres und höchst verfängliches Stück, bis man das rechte Manöver und alle Nuancen bei leidenschaftlichen Expektorationen über seine Familie eben traf.

Im Beginn des tobenden Ausbruchs war es allein geraten, ziemlich eingeschüchtert und ganz passiv still, wiewohl nicht unaufmerksam oder vollends apathisch dazusitzen – allmählich konnte man hie und da ein begütigendes, sänftigendes Wort versuchen; aber das durfte nicht den Gegenstand des Ärgers, sondern nur den Herrn Direktor und dessen Verdruß betreffen. Im dritten Stadio konnte man schon, aber immer nur im vollen Gefühl und Ausdruck des Wagnisses, etwas zur Entschuldigung der Inkulpaten einfließen lassen, wenngleich nur mit Beziehung auf den vorliegenden Fall und nicht überhaupt; denn im allgemeinen blieb jeder ein Schlingel, wenn er auch zufällig in casu unschuldig erfunden war. Zuletzt aber ließ sich der Alte sofort auf eine Umstimmung und Versöhnung ein, wenn der Zuhörer und Besänftiger gleichsam wie aufs äußerste gebracht, durch allzu ungerechte Urteilsfassungen die Angeschuldigten mit dem Affekt der Gerechtigkeitsliebe und Billigkeit nachdrücklich und auf Unkosten fremder Rangen verteidigte, und dabei die größere Solidität der letztern auf ihre größere Dummheit schob, unsere in Rede stehenden Verschuldungen aber als eine Art von Geniestreichen und als Früchte zu bezeichnen wußte, die nicht allzuweit vom Stamme gefallen seien.

Die so bei ihrer schwächsten Seite angegriffene väterliche Eitelkeit konnte sich dann nicht länger verstellen und es gab ein ganz unbeschreiblich wunderliches Gebärdenspiel, wenn so in den stark markierten Gesichtszügen des erhitzten Alten der Groll, obschon vorläufig ab officio suspendiert, doch noch gleichsam das Allerheiligste der vollen Versöhnung und inwendigen Vaterliebe maskieren und so ungebührliche Schwachheiten nicht dem profanen Völkchen der im Hintergrunde zusammengekauert auf besser Wetter lauernden Verdammten verkünden sollte.

Kurios war es auch, welcher Gestalt die neue Versöhnung seiner Umgebung signalisiert ward. Man bekam gelegentlich einen Wink in einer kaum zu entziffernden Pantomime, gewöhnlich aber in irgend einem Puff und Knuff, oder einem Ruck am Ohrläppchen, dem ein freundlicher Handkuß folgen mußte, zum Zeichen, daß man in dem neuen Witterungswechsel orientiert sei. Wehe aber dem Taktlosen, der auf solche Gunst und Signale alsogleich hätte Freiheiten wagen, oder sich auch nur so ungeniert benehmen wollen, wie wenn er die neue Lebensordnung für die alte nehmen dürfe. Er ward dann zum Erschrecken eines andern belehrt, und das war uns ersprießlicher, als wenn uns der Lebenstakt und die Menschenkenntnis in fremden Häusern mit noch größerer Beschämung und bei reiferem Alter hätte beigebracht werden müssen. Wir mußten auf das gute und böse Wetter im Hause Sinn und Verstand richten. Heute ignoriert dies die Jugend und damit zugleich die Autorität und die pflichtschuldige Pietät.

O du seelenguter, du kreuzbraver und grundehrlicher Mann! Du warst ein Geschäftsmann, ein Justizmensch, wie du zu sagen pflegtest! Das warst du freilich in deinem Kopfe; aber in deinem Herzen warst du ein Kind. Ein vollwichtiger, ein unverletzter und heiliger Mensch warst du in deiner Seele, deinem Charakter, deinem ganzen Gemüt, und die Art und Weise, wie dieser kernige Juristenverstand, der alles heil und praktisch aus der Mitte griff, mit diesem Herzen in eins gebildet und doch wieder über den Bogen gespannt und polarisiert war, so daß der Mensch überall hinter dem Juristen seine Gestus zum besten geben durfte; das machte deinen absonderlichen Humor aus, einen Witz des Herzens, der in Rembrandtschen Lichtern und Effekten auf deinem echt deutschen Antlitz spielte, daß die Menschen, die dich einmal gesehen hatten, dich nie wieder aus dem Sinn ließen, noch bevor sie deine fabelhafte, deine am Ort zum Sprichwort gewordene Rechtschaffenheit im Geschäfte erprobt und für ihre leibliche Wohlfahrt in Profit genommen hatten!

Wie oft hat dich dein rücksichtsloses Zutrauen betrogen, wovon haben alle deine Manualakten zur guten Hälfte Zeugnis abgelegt, wenn nicht von dein Wortbruch, der Lüge und dem unehrlichen Sinn der Welt? Du legtest aber immer deine eigene vollwichtige Ehrlichkeit in die aufschnellende Wagschale der Nächstenschwäche, so daß dir in deinem Herzen ausgeglichen blieb, was bei den weltklugen Leuten immer ein Bruch bleibt, weil ihnen der Generalnenner im eigenen Genius fehlt, der all die Brüche schwacher Mitmenschen und ihrer Lebensgeschichte hebt.

Deine Juristerei schwamm wie Eisen und Blei auf dem flüssigen Golde deines echt menschlichen Charakters. Dein Welt- und Geschäftsverstand hatte nirgend deine kindliche Seele und das Heiligtum deines sittlichen Charakters angerührt. So lebtest und so endetest du! So hast du deinen Kindern, deinen Freunden, so hast du deinem Lieblinge vertraut; von allen das beste entnommen und geliebet. Lebe wohl, habe Dank! » Ach sie haben einen guten Mann begraben, und mir war er mehr!« Als er noch lebte, da erkannte ich des Mannes Herz und seinen Wert nicht von ganzem Herzen, nicht so wie heute, nachdem er länger denn zwanzig Jahre in der Erde ruht. O könnt' ich ihn von den Toten auferwecken, wie lustig und guter Dinge wollt' ich noch einmal und bis zu meinem Ende sein » dummer Junge« sein. Mit meinen Nägeln wollt' ich den teuern Erzeuger aus der Erde graben; aber sie hält ihre Toten fest bis zum jüngsten Gericht!

O höret mal auf eine altmodische Mahnung, ihr Jünglinge vom neuen Glauben: Liebet eure Erzeuger, liebet Vater und Mutter mit der vollen, letzten Kraft eures Herzens, denn es kommt eine Zeit noch vor den grauen Haaren, wo das Gemüt wieder stärker spricht, als aller Verstand der Welt und der Politik, und wehe dann dem Herzen, dem Gewissen, das nicht vor der wiedererwachten alten Liebe besteht!


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