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»Ein Jugendleben, biographisches Idyll aus Westpreußen« erschien 1852, fünf Jahre nach seinem Erstlingswerk, dem »Buch der Kindheit.« Wegen der biographischen Bedeutung dieses Idylls und weil es in die Heimat des Autors einführt, schien es angezeigt, mit einigen Skizzen daraus diese Sammlung zu eröffnen.
Die Bedeutung der Künste und Wissenschaften für das Leben, ihre Segnungen, ihren heiligen Geist fühlt man nirgends so eindringlich als eben in ihren Anfängen gegenüber der Natur, in der Einsamkeit und unter dem Volk.
In einer Dorfkirche, beim einfachen Orgelspiel greift uns die Musik stärker ans Herz, werden wir ihre Allmacht oft tiefer inne, als in rauschenden Konzerten der Residenz gegen Entree. Das mittelmäßige Altarbild, das schlechtgekleckste Madonnenbild einer elenden hölzernen Kapelle wirkt auf den gefühlvollen Beschauer, den glaubenseinfältigen Menschen, auf die armselige, in Andacht hingesunkene Magd, auf verlassene Witwen und Waisen, wie kaum eine Gemäldeausstellung auf das ganze Publikum, im Beistande einer geschmackvoll anleitenden Kritik. Man muß an einem Ernteabend im Dorfe eine Geige oder Klarinette gehört haben, oder einen erschöpften armen Dorfschulmeister auf seinem lendenlahmen, fast tonlosen Spinett; dann kommt etwas von der Begeisterung, von der Erhabenheit und himmlischen Abstammung der Musik in das Gemüt, während es im Instrumentensturm nur zu oft leer, tot oder geängstet verbleibt.
Aus den Steinklüften der Städte sehnen wir uns nach dem Dorfe, und von dem grünen Lande auf das wüste wogende Meer; aus den Treibhäusern der Schule und Civilisation nach der freien, zeugungskräftigen, wundergebärenden, heiligen Natur.
In dieser Übertreibung, Überfeinerung, bei dieser Entartung und Entheiligung in Worten und Werken schmachtet die Seele nach den Bildern eines einfachen, natürlichen und ingottlichen Daseins: da will sie das Gerumpel des civilisierten Lebens, die sinnverwirrenden tausendfältigen Apparate des überwucherten Lebens an die Seite geschafft, da will sie diese komplizierten, auf die Spitze gestellten, überschrobenen Lebensverhältnisse, diese Formen- und Schablonenwirtschaft, diesen heillosen Mechanismus entfernt, diese verfilzt-verworrenen Lebensfäden aufgelöst, und das ganze Wirrsal auf die schöne, heilige Gottesökonomie zurückgebracht sehen.
Das echte Idyll ist aber das Stahlbad für diese unablässig galvanisierten und tremulierenden Nerven, ein Tropfbad für das moussierende Hirn, eine Abfrischung und Wiedergeburt für Seele und Leib; der rosige Abglanz eines naturheiligen Lebens, der ungekeltert entfließende Wein einer himmlischen Traube von Eden.
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Ich habe eine glückliche Jugend verlebt, und ich werde ihre Ideale nicht altklug meistern, und ihren heiligen Genius verrat' ich nimmer an den Werktagsverstand.
Den Thorheiten, den Übereilungen und Untugenden der Jugend, ihrer Rücksichtslosigkeit und Einseitigkeit liegt eine Begeisterung, ein idealer Trieb und Drang zum Grunde, eine Hingebung des Lebens an das Idol in der Brust; eine Ritterlichkeit, die mit der Welt anbindet und um das Heiligtum kämpft.
Den Tugenden der spätern Jahre und ihrer weisen Lebensökonomie gebricht der große Zug und Ruck einer hehren Begeisterung und Leidenschaft, die über alle Steine des Anstoßes, über die Widersprüche und den Erdenkot im leichten Fluge hinwegzutragen vermag. Dem reifen Alter gebricht der ideale Sinn und Inhalt, der schöne Überfluß des Lebens, weil ihm der Weltverstand, die Berechnung, die Feigheit, die Beargwöhnung im Wege stehen.
Aber es ist besser, vom Leben berauscht, als von ihm gelangweilt, überstopft und angeekelt zu sein.
Besser ein heiliger Traum, wie ein unheiliges Erwachen. Glückseliger ein seelenvoller Irrtum und Unverstand, wie ein seelenloser Witz und Verstand. Besser ein leichter Kopf und Sinn über einem liebeschweren Herzen, als über einem beschwerten Gewissen ein herzloser oder ein mit Wissen überfüllter Kopf.
Wahrhaftiger ist doch der formlose aber heilige Natur- und Gottesinstinkt der Jugend, als die Künste und Wissenschaften, die Praktiken und Konvenienzen einer von allen Gottesfühlungen, von Natur und Übernatur entblößten und entleerten Welt.
Aus den Thorheiten und Untugenden, aus den Einseitigkeiten, den Irrtümern, der Unwissenheit und dem Eigensinn der Jugend zeichenredet der Genius der Menschheit ein übermenschliches und überirdisches Wort. Mit den Träumen und Schäumen der Jugend, mit ihrer seelenvollen Gedankenlosigkeit, mit ihrer in Liebes- und Lebensinbrunst verlorenen Selbstsucht treibt die Menschennatur ihren Frühlingsstaat, der Weltgeist aber seine lebendigen Geschichten und sein Fleisch. Mit dem Todes- und Lebensmut der Jugend schließt sich jede jüngste Geschichte an die alten Heldengeschichten an, entrichtet jede Nation und jede Zeit ihre Schuld an die Welt und Ewigkeit; weil an das Ideal, welches über allen Zeiten, allen Völkern und allen Kulturgeschichten steht und allein im Herzen der Jugend eingefleischt und wiedergeboren wird.
Von dem Augenblicke an, wo uns nicht länger eine Idee, ein großes Glauben und Heiligen, eine inbrünstige Liebe und Leidenschaft treibt und trägt, ist es auch mit unserer Charakterwürde, unserer Lebenskraft, unserer Thätigkeit, unserer Poesie und Glückseligkeit vorbei.
Erst muß der Mensch sein subjektives seelisches Leben ausleben und entwickeln; das unterbindet ihm aber heute die Politik. Und doch ist ja jeder Jüngling freiheitliebend, liberal, demagogisch, weltbürgerlich, aus heiler Natur! Warum also noch die künstliche Impfung des Blatterngiftes einer Tagespolitik?
Ich kenne die Antwort: weil die leichtbethörte Jugendbegeisterung, Thatkraft und Todesverachtung hergeben muß. Also muß doch der Zweck die Mittel heiligen.
Die Hauptsache ist und bleibt gleichwohl in Ewigkeit: daß wir Menschenkinder so leben, geleitet und verbraucht werden, wie es die Natur und die Übernatur in uns will; und nicht so, wie es die Schnellpolitik und der Durchgangsprozeß einer gärenden Zeit, wie es die tausendköpfige öffentliche Meinung diktiert, von der sich selten etwas Bleibendes aus Zeitungen vernehmen läßt.
Träumen, dichten, glücklich sein, seelisch sein, ist allerdings Selbstschwelgerei; aber sie bildet den konkreten Inhalt der jungen Welt. Die vergeistigte Naturgeschichte ist das Herz.
Wenn die Jugend zu träumen, zu lieben und zu dichten aufhört und die Politik an die Stelle der Seele treten darf, so hat das Leben und folglich auch die Politik keinen Sinn und Zweck und keine lebendige Kraft.
Ein Bauertölpel, der nichts gelernt und seinen Geist in keiner Weise exerziert hat, der wundert sich über nichts, der schämt und grämt sich nicht, der dichtet und denkt nichts als seinen Mist, der ihm Weizen und Klee bringen soll. Und ein gewöhnlicher Gelehrter, ein nüchterner Naturforscher, ein Philosoph, ein Diplomat und Aristokrat, ein Gebildeter par préférence, der wundert sich wiederum nicht, und überdichtet auch nichts, und exerziert seelenlos nur seine Konvenienzen, seine Methoden, seine angelernten Phrasen, seinen Notizenkram, stopft seine Gedächtniswurst und treibt eine tote, hölzerne, krepierte Formenökonomie.
Wo ist denn also nun der Mensch, dem die Lebenswunder im Hirn und Herzen zu schaffen machen, der närrisch vor Lebenslust wird, der dem Morgen- und Abendrot, den länger und kürzer werdenden Schatten, dem kommenden und fallenden Laube, den Tages- und Jahreszeiten, dem Thautropfen, der Schmutzblase in der Gosse (wie sie Himmel und Erde abspiegelt), dem zündenden Fünkchen, der züngelnden Flamme, dem kräuselnden Rauche, dem Schattenspiel an der Wand, dem spielenden Lichtstrahl, dem sprießenden Grashalm, dem rennenden Würmchen im Moose, dem Spinnennetz, den kunstvoll gebauten Honigwaben, dem tummelnden Ameisenhaufen nachdenken muß?
Wo sind die Menschen, die andauernd so fühlen, empfinden und denken; deren Seelen so in das Wunder der Schöpfung verstrickt sind, daß ihre Geister vollauf zu thun haben, sich über den Wassern zu halten? Es sind eben die Dichter, die beseelten Denker, die Genien. Es ist die Jugend, die gebildete und sinnige Jugend, solange sie noch nicht von der Konvenienz, vom Weltwirrwarr und Ehrgeiz, von den Leidenschaften, von der Tagespolitik verderbt und zur Fratze entartet ist. Man kann freilich vor lauter Lebensbegeisterung und Verwunderung der schönste poetische Taugenichts werden; das ist ein Malheur für die Welt, aber keine schwere Sünde. Und unserm Herrgott oder der sich selbst erfassenden Weltseele und Natur gilt dieser Taugenichts mehr als ein geschäftiger Mechaniker, ein seelenloser, aber tugendtüchtiger Automat.
Vor einer Wahrheit darf sich gleichwohl keiner sträuben, so schwer sie auch etwa seinem alten Herzen würde, das alt alten Bildern, Gewohnheiten und Glaubensartikeln hängt. Es geht dennoch durch all die Fratzerei, durch all den modernen Unsinn, durch alle die Narretei, die Teufelei und den Moder des Alten ein neuer Odem; er heißt Menschenachtung, Vernunft, Volksbewußtsein, Massenbewußtsein, Massengeist, Civilisation, Erziehung für alle!
Man vergreift sich in den Mitteln, aber es ist doch die Idee da. Es klingen abscheuliche Töne und falsche, verstimmte Register, tote Stimmen in der Riesenorgel mit, auf welcher der Genius der Menschheit die Weltgeschichte präludiert; aber man vernimmt doch in all der demagogischen Katzenmusik, in all dem rebellischen Wogenwälzen eine neue Weltharmonie und Ökonomie! Die nächsten Folgen werden heillose sein; denn die Öffentlichkeit, die Säkularisation, die Emancipation nach allen Seiten und auf allen Punkten wirken notwendig zunächst Frechheit, Unheiligkeit, Zuchtlosigkeit.
Aber die neue Idee wird sich ihren neuen Leib zubilden; und mit der neuen Gewohnheit, mit der neuen Natur muß endlich der Mißbrauch fortfallen, muß sich die neue Gestalt der Welt herausarbeiten aus der gegenwärtigen Karikatur.
Daß ihr dies aber nicht allzu schwer werde, und damit der neue Bildungsprozeß nicht in die alte Barbarei ausarte, so müssen die Fortschritte auf dem historischen Grund und Boden gemacht werden und nicht in Kraft der socialen Ideen allein; nicht in der Luft, auch nicht mit Eisen und Dampf allein, sondern am Leitfaden des alten Gewissens von Gott und Natur.
Wir müssen freilich mit freiem Willen vorwärts machen und geschäftig sein; aber wir müssen auch wachsen nach dem Willen der Geschichten Gottes wie der Natur. Eine Kraft und Parole allein wirkt Narrheit, Sünde und Tod.
Wir müssen rudern und schwimmen, aber der alte Gott führt das Steuer; er macht auch Wind und Wetter und giebt dem Strom der Geschichten die himmlischen Wasser und ihren Lauf zum Meere der Ewigkeit. Eine vom Menschenwitz allein gemachte Weltgeschichte ist Sünde, weil Unnatur; sie entthront den Weltgeist und die Vorsehung; sie raubt uns den Glauben an ein Jenseits, an die Mysterien des Menschendaseins wie der Geschichte.
Wir kennen die Faktoren, die Elemente sehr unvollkommen, aus denen sich eine lebenswahre, gesegnete Menschengeschichte hervorbildet; wir vermögen die natürliche und göttliche Lebensökonomie weder zum Bewußtsein zu bringen, noch zur Rede zu stellen; wir vernehmen kaum die himmlische Lebensmusik, und wie wollten wir sie nach Noten spielen, oder ihren Generalbaß ergründen, die Gesetze ihrer Komposition. Dieser übergeschäftige sociale Menschenwitz entführt der Menschheit den Glauben, die Liebe und die Lebenspoesie; entführt ihr auch das Abendrot des untergegangenen Paradieses, den heiligen Sinn und Geist der Welt!