Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die früheste Lebenserinnerung ist ein heiliger Traum, eine selige Paradiesesfühlung, aus der alles Gemeine und Häßliche verbannt ist; kein Geräusch, keine Leidenschaften, keine vorschreienden Töne und verwirrenden Stimmen stören die himmlische Harmonie.
In der Kindesseele ist lauter Licht und Leben; die Todesschatten lagern noch im tiefsten Grunde und zeichnen erst die zarten Umrißlinien an den duftigen Bildern: um die Palmen, die Rosenwolken und Engelgestalten einer himmlisch schönen Schöpfung, die im blauen Äther schwimmt, wie eine Luftspiegelung über der Wüste.
Es ist tiefer Friede im Kinde, und darum auch in der kindlichen Welt; das ganze Dasein ein buntes, wundervolles Spielwerk um den kleinen Paradiesmenschen her. Er steht im Mittelpunkte einer stillen Zauberwelt, dem Widerscheine seiner Unschuld und des Edens in ihm selbst.
Die Natur ist des Kindes dienende Umgebung, die Fortsetzung, die Ausströmung seiner gottverhüllten zeugungsseligen Sinne, eine Seelenverduftung, die wiederum zu Welt und Traum gerinnt.
*
Meiner Eltern Dörfchen bleibt in meine Seele gebannt. Das früheste Gesicht zeigt mir den Schauplatz meiner Kindheittage im Winter. Es ist kurz vor Abend, der Himmel bezogen, ein gelindes stilles Wetter, und keine Abendröte zu sehen. Rings von dicht bewaldeten Bergen umgeben, liegt das kleine Gehöft auf einer sanft ansteigenden Höhe, an einem großen gefrorenen See; und wiewohl kein Lüftchen um meine Wangen spielt, so schlagen doch die graubraunen Büschel der ungeheuern Rohrmassen, mit denen die Seeufer eingefaßt sind, Wellen wie ein Meer. In der Mitte aber blitzt, einem starren Glasauge ähnlich und wie zwischen den bewegten Augenbrauen eines Riesen der Eddasage (der sich in dieser Waldeseinsamkeit zur Nachtruhe niedergestreckt) das spiegelblanke gefrorene Eis. So erzeugt sich die nordische Mythologie im nordischen Menschenkinde fort und fort, vom ältesten bis zum jüngsten Tage.
Mit diesem dunkeln Wintermärchen kontrastiert wunderbar eine lichtgetränkte Sommerscene, ein Erntebild.
Über mir der blaue, wolkenlose Himmel, und mir zu Füßen die goldgelben hohen Stoppeln des Weizenstrohs, durch die ich mir mit meinen schwachen kurzen Beinchen in äußerster Anstrengung einen Weg zu den weit entfernten Schnittern bahnen muß, und so in ein Labyrinth von aufrechtgestellten Garben gerate, die alle viel höher sind, wie ich selbst.
Meine Pulse hämmern, meine Augen schwimmen im Lichtmeer, und an einer Stelle blitzt und glutet eine ungeheuere blankpolierte Scheibe von Dukatengold, so daß ich mit der Hand über den Augen nur mit Schmerzen und auf Augenblicke in das himmlische Schauspiel blinzeln kann.
Es war wohl der Schluß der Weizenernte, denn vom Abend desselben Tages steht mir eine fabelhafte Geschichte vor dem Sinn.
Ich stehe mit allen Hausmägden vor der Thür und eine hat mich vor ihren Schoß gestellt. Da hören wir ein Geklapper wie von einer Mühle, mit einem Gelächter und Geschrei, als wenn die ganze Welt närrisch geworden ist. In demselben Augenblicke reißt mich auch schon die Gesindemagd, meine besondere Beschützerin, bei beiden Ärmchen über ihren Kopf in die Höhe, damit ich die »Baba,« das alte Ernteweib, sehen soll, die den Rest des Wintergetreides bringt. Es war aber kein lebendiges Weib, sondern die scheußlichste lebensgroße Strohpuppe, welche die Phantasie erdenken kann. Sie saß auf einem Leiterwagen unter den Garben, und von ihrem Rocke bedeckt (wie mir hinterdrein offenbart wurde), mußte ein kluger Junge die alte Hexe auf- und niederbewegen. Alle Ernteleute sangen der Baba Spottlieder nach, und ein Stecken war vom Wirtschafter so künstlich an der hintern Wagenachse befestigt, daß er von den Speichen des Rades abgeschnellt, ein Mühlengeklapper, und wenn der Wagen rasch fuhr, eine kolossale Nachtwächterschnarre effektuierte. Diese tolle Wirtschaft ist in meiner Traumernte das Relief, und ein Schluß, wie er kurz vor dem Erwachen zu sein pflegt.
Mein lieber Papa war ein ausgedienter Husarenoffizier, der seine kleine Pension auf einem kleinen Gute, einer sogenannten Lemanstwo (Lehmannsgut), verzehrte, die aber, beiläufig gesagt, doch so groß war wie ein großes Rittergut am Rhein.
Mehr blieb dem Ärmsten von seinem bedeutenden väterlichen Erbe nicht übrig, wiewohl ohne seine Schuld. Die Sache schien mit einem Familiengeheimnis und einer bezüglichen Vormundschaft verknüpft, aus der ich nie recht klug geworden bin.
Der alte Herr war so wenig zu irgend einer Zeit seines Lebens ein Durchbringer und Wüstling gewesen, daß er vielmehr schon als Kornett im Rufe eines vorzüglichen Wirts und doch eines gastfreien Kameraden stand.
Der Soldatendienst hatte ihm nun vollends die größte Ordnung und Pünktlichkeit zur andern Natur gemacht, und so ging denn, ungeachtet des polnischen Gesindes, die Wirtschaft wie am Schnürchen; obgleich dieses bei seinen vielfältigen guten Eigenschaften und seiner natürlichen Anstelligkeit doch eben nicht mit einer besondern Ordnungsliebe und einem Sinn für Zucht und Regel oder gar für irgend eine Methode zur Welt zu kommen pflegt. Aber das kostete auch etwas: zum ersten Ärger, zum zweiten Prügel, zum dritten einen Schnaps.
Mit dem dritten Dinge war denn aber auch die Liebenswürdigkeit des polnischen Naturells etabliert; denn es ging alles so lustig wie zum Tanze und so leicht wie geschmiert, so daß man dem überall geschäftig anordnenden Wirt das heimliche Wohlgefallen an seinen sattgegessenen und heilbekleideten Knechten ansah; denn auf andern Gütern und beim Nachbarn, einem zur drobna Szlachta (zu den kleinen Edelleuten) gehörenden, noch kleinern Gutsbesitzer, wurden Vieh und Gesinde nicht zum besten verpflegt.
Mein lieber Vater aber war ein großer Pferdeliebhaber, ein berühmter Pferdekenner, zu seiner Zeit ein bewunderter Reiter und, was unendlich mehr wie alles das sagen will, ein Menschenfreund, ein liebenswürdiger Nachbar, ein grundehrlicher Mann, mit einem Worte, ein praktischer Christ, der nach dem Bibelspruch handelte und fütterte: »Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden.« So ging es auf unserm Hofe her.
Verfolgten auch des Vaters große treuherzige kornblaue Augen, mit zusammengezogenen Augenbrauen, die kleinste angeordnete Arbeit mit der größten Peinlichkeit, so leuchteten diese Augen (welche Vieh und Pferde fett machten) auch von herzlichem Wohlwollen jedem, der etwas mit Accuratesse und Anstelligkeit vollbracht. In solchem Falle profitierte auch der Schweinehirt einen Schluck Branntwein, ein Stück Brot oder einen schönen Dank.
Wenn ich aber über meinen Erzeuger von Kopf bis zu Fuß berichten will, so gehören, außer einem zerschossenen, etwas kurz gewordenen Bein und seiner Pudelmütze im Winter, seine beiden Dachshunde, die ihn in allen Jahres- und Tageszeiten auf Schritten und Tritten begleiteten und vor seinem Bette liegen mußten, demnächst aber seine beiden Lieblingsuhren zu ihm: nämlich eine massivgoldene alte Repetieruhr in seiner Tasche und eine noch ältere englische Achttageuhr in einem mächtigen eichenen Kasten an der Wand.
Wer diesen Urerbstücken und unvergleichlich erachteten Kunstwerken, welche der gichtbrüchige Inhaber, trotz seiner steifen Hände, Zeit seines Lebens regelmäßig selbst aufgezogen und gestellt hat, nur im entferntesten zu nahe kam, dem wurde gewiß von ihm in empfindlicher Weise noch näher getreten; und so betrachtete ich denn für meinen Teil jene Uhren mehr wie eine Art moralischer Wesen, als wie Dinge, mit denen familiär zu sein erlaubt ist.
Am Abend vor einer Getreideausfuhr, welche um vier oder fünf Uhr morgens losbrechen mußte, da sie an die sechs polnischer Meilen betrug (zu denen der Fuchs seinen langen Schweif zugelegt hat), wurde mit dem höchst submissen, pfiffigen und stets willfährigen polnischen Ökonomen (von den Leuten »Herr Ukumun« oder »Pan Pisarz« genannt) die eindringlichste Rücksprache genommen, und infolgedessen auch der Wecker der Wanduhr gestellt. Die Pferde brauchten etwa drei Stunden zur Abfütterung, somit mußten ihre Verpfleger um zwei Uhr von ihrem Lager aufgestört werden, das in einem Strohsack und einem schweren groben Federbett bestand. In der Regel lagen unter demselben ihrer zwei, falls es nicht einer von ihnen vorzog, separat auf dem Heuboden, wie ein Dachs eingewühlt, oder bei der Krewnosc (Blutsverwandtschaft) im Dorfe einlogiert zu sein.
An dem Nachmittag vor der Ausfuhr wurde das sogenannte Hecksel (Heckerling) für die drei Tage dauernde Reise besorgt; wurden die schmalgleisigen, leichten, aber ewig reparaturbedürftigen Wagen, mit all den Futter- wie Getreidesäcken hoch bepackt und mit Stricken beschnürt. Bei grundlosen oder hartgefrorenen und rumpeligen Wegen mußten überkomplette Räder, wie bei der Artillerie im Felde, hinten auf die Wagen gesteckt werden, zum Schluß wurde mit langen Hebebäumen jeder beladene vierspännige Wagen gehoben und wohl geteert. Die letzte Operation konnte aber erst kurz vor der Abfahrt vor sich gehen, weil über Nacht zu viel Teer von den Achsen abgelaufen wäre, falls man sie den Abend vorher geschmiert hätte: so gebot es die Ökonomie.
Das alles gab eine erwünschte Gelegenheit für meine Neugierde, eine wirtschaftliche Geschäftigkeit, und ich beutete sie so oft auf Unkosten meiner Hosen und Stiefel aus, daß ich für beteerte, auf dem Speicher bestäubte und dann wieder in Schnee und Regen durchnäßte, oder beim Mitarbeiten zerrissene Kleidungsstücke Denkzettel von meinem saubergebürsteten und kleiderschonenden Vater besah, wenn es ihm auch gleich hinterdrein wieder leid zu sein pflegte, wie das aus versöhnlichen und halbspaßigen Redensarten, oder andern bedeutungsreichen Manövern leicht abzunehmen war; z. B. aus so einem gewissen Griff ins Genick oder an die Ohren: alles etwa in der Weise, wie man einen jungen Hühnerhund, halb im Spaß und halb im Ernste, zu Appell zu bringen pflegt. Aber es war mir bei dergleichen Gelegenheiten nichts weniger als hundsföttisch, sondern sehr sohnlich, sehr lustig und sehr menschlich zu Mute.
Endlich hatten alle die Vorkehrungen auf dem Speicher, in den Ställen und auf den Dreschtennen, auf denen bei Regen und Schneewetter, oder zur Sicherheit gegen Diebe, die Wagen untergebracht wurden, ihr Ende erreicht. Es wurde dann zeitig Abendbrot gehalten und gleich hinterdrein das ganze Gesinde zu Bette gejagt; denn so war es am andern Morgen desto willfähriger und zeitiger wieder auf dem Platz.
Zu den gen Bethlehem Kommandierten gehörte auch meine Kleinigkeit. Ich durfte als eine Art von Kammerpage bei meinem Vater schlafen, schon um deswillen, weil dem vom Stickhusten geplagten Manne über Nacht ein tödlicher Anfall zustoßen konnte, und weil ich mich allen möglichen Dienstleistungen mit dem größten Eifer und mit einer Wachsamkeit unterzog, die kaum von den Dachshunden überboten wurde, falls etwas Besonderes, wie z. B. eine Getreideausfuhr, im Werke stand.
Die Mutter aber war oftmals leidend, überhaupt schwächlicher Konstitution, und sollte von meinem Vater, gleichwie von dem um vier Uhr vor dem Bette rapportierenden Wirtschafter, nicht gestört werden; sie gedachte meinen Papa Tag und Nacht zu pflegen, aber der alte Herr sträubte sich gegen jede Art von ärztlicher Zuthätigkeit und Medizin mit der resignierten Bravour eines alten Soldaten und mit komischem Zorn.
Nachdem ich selbst eine feine Weile im warmen Bettchen gelegen und noch eine absonderliche Wollust darin gefunden, daß ich, trotz des Verbots, einen der »Teckeln« von seinem Herrn fortgelockt und zu mir ins Nestchen genommen hatte, so hörte ich den Papa mit seinem eigentümlichen Tritt sich der Hausthür nähern, worauf ich schnell die hündische Konterbande aus den Federn und mir selbst das Deckbett über den Kopf warf, wie wenn ich im tiefsten Schlafe daläge.
Jetzt that sich die Thüre auf, an der das Betthündchen bereits seinem Herrn freundlich entgegenschnüffelte, aber sich etwas unsanft auf die Seite geschoben sah. Darauf der Anruf: »Junge, schläfst du schon?« Zur Antwort ein sehr vernehmliches Geschnarche. »Na, verstell' Er sich nur nicht, Dummerjan! Er hat gewiß wieder den Hund im Bette gehabt; er schüttelt und reckt sich ja noch vom Schlaf. Wenn ich das einmal sehe, dann setzt es was ab; das Tier soll nicht von mir fortgelockt werden, es ist just so ein »Herumdusler« wie Er, Patron!«
Der hündische Gescholtene schien ebenso gut zu verstehen, daß nicht alles in Richtigkeit sei, und zog sich demnach, da er nicht wie sonst kajoliert wurde, auf sein Lager zurück, während der andere Teckel um so zuthätiger erschien, wie wenn er sich freute, diesmal ohne Nebenbuhler zu sein. Ich selbst aber gab einige Kennzeichen, daß ich die Anmahnung vernommen, und verhielt mich dann ebenfalls attent und passiv.
Vielleicht daß noch eine kleine Hilfsleistung nötig, und durch dieselbe die gute Laune und Gunst des Papas wiederherzustellen war.
Ein gewisses gutmütiges Seufzen beim Pelzausziehen mit einem gemütlich gähnend und harmlos vor sich hin gesprochenen leisen: »Ja, ja!« und herzlich frommen: »Ach Gott, ja!« bekundeten bereits, daß der Scheltende schon wieder seiner friedfertigen Normalstimmung zurückgegeben sei. Jetzt stand der Entkleidete, die goldene Uhr bedächtig aufziehend, mit dem Samtkäppchen und in seinen Unterhosen vor dem weißgescheuerten großen Tische aus Lindenholz. Ich aber kann recht eigentlich »seinen« Hosen sagen, denn es waren kuriose Pluderhosen, von wer weiß wie vielen Ellen Leinwand, nach einem türkischen Schnitt, zu welchem der Inhaber das Modell aus der Ukraine oder der Moldau mitgebracht hatte, wo er in der Jugend auf Remonte gewesen und mit Türken in nähere Berührung und Freundschaft gekommen war, von denen er bei guter Laune manches erzählte und beschrieb. Diese moslemitischen Freunde hatten ihm unter andern Dingen auch einen buntgewirkten »Seidenpaß« (Schärpe) zum Andenken verehrt, den meine älteste Schwester nur bei extraordinären Gelegenheiten um ein leichtes Anziehpelzchen that, das für sie aus der alten Pelzenveloppe der lieben Mama durch eigene Hauskünste umgearbeitet worden war.
Nunmehr schien die Taschenuhr mit der bestimmten Anzahl von Schlüsselumdrehungen aufgezogen und mit der englischen Wanduhr verglichen zu sein, und demnächst wurde sie dann mehrere Sekunden lang ans Ohr gehalten, ob sie auch ordentlich und nachhaltig im Gange geblieben sei, worauf sie sich endlich über das Bett an ein rundgeschnittenes Tuchläppchen hingehängt sah.
Das scheint eine vollständige Beschreibung der Handhabungen mit der goldenen Repetieruhr zu sein, ist aber doch nur Skizzenhaftigkeit im Vergleich mit der Operation, die in der That vor sich ging. Denn diese bestand aus lauter moralisch bedeutsamen und poetisch accentuierten Momenten, aus buhlerischen Zärtlichkeitsbezeigungen und delikatesten Traktationen, die so unmöglich zu schildern sind, wie die Momente eines glückseligen Stelldichein.
Da wurde z.B. die Uhr nicht wie von ungefähr oder mit ungeschicklicher Hast oder ohne Vorbereitung aus der Hose gezogen, sondern mit Ruhe, mit allem Vorbedacht, und im letzten Augenblick mit der lüsternen Vorbegierde aus dem »ledernen Schnürbeutelchen« hervorgeholt, wie etwa ein Jude und Edelsteinhändler den kostbarsten Diamanten aus seinem Etui befreit und gegen das Licht spielen läßt.
Jetzt lag die ganze Pracht und Schönheit der Lieblingin in meines Vaters linker und hohl gemachter Hand; die blank geriebene, schwere goldene Kette hing hinterwärts durch die Finger gezogen, so daß die stattlichen Zwillingspetschafte noch ein gutes Stück über den Goldfinger und kleinen Finger herabbaumelten. Solchergestalt wurde die ganze Herrlichkeit einen Augenblick unmerklich in der Hand gewuchtet und das goldene Zifferblatt mit den schwarzemaillierten römischen Zahlen belugt; dann die Kapsel von Schildkrötschale mit den gichtsteifen Fingern, unter Zuhilfenahme der Nägel, mit zusammengebissenen Lippen, mit an die Herzgrube gedrückten Fäusten und dicht am Leibe gehaltenen Armen aufgethan; dann legte der Papa einen Augenblick die spiegelblanke Rundung des massivgoldenen Gehäuses in die hohle Hand, um so die goldige Politur mit unschuldigen Wollüsten auf der weichen Handfläche zu empfinden. Endlich sah man ihn mit denselben Schwierigkeiten und Manövern auch diese goldene Kapsel öffnen und auf das Taschentuch hinlegen, dann wieder mit der kasserollartigen Austiefung liebäugeln, welche das köstliche Uhrwerk unmittelbar zu umgeben die ausgezeichnete Bestimmung hat, und jetzt erst wurde der goldene Uhrschlüssel ganz leise und vorsichtig auf den vierkantigen Stahlstift gepaßt, der zu einer kleinen Öffnung des geheimnisvollen Gehäuses noch geheimnisvoller herausgucken darf.
So ungefähr, mit et caetera et caetera (z. B. mit Repetierenlassen), so gefühlvoll, symbolisch und fabelhaft ging das Uhraufziehen vor sich, wenn ich anders meine eigenen Zuschauerempfindungen, Gelüste und Phantasiestücke mit denen des Inhabers der Kunstuhr vermengen darf, der mir bei diesem Geschäfte jedesmal fast wie ein Künstler und Zauberer erschien.
Genug, die Aktion war solchergestalt vollendet und die Uhr an ihren Ort hingethan; nun wurde noch der Wecker an der großen englischen Achttageuhr gestellt, wurde mit dem selbstgezogenen Talglichte das schwimmende Nürnberger Nachtlichtchen in dem zur Öllampe eingerichteten Bierglase angezündet, wurde den Hunden die Unterlage zurechtgerückt und in die Winkel geleuchtet, ob vielleicht die Katze oder sonstwas Unrechtes da versteckt wäre. Da aber alles seine Richtigkeit hat, so setzt sich der sorgsame Hauswirt auf seine schlichte Reisebettstelle nieder, stellt die Pantoffeln fein ordentlich neben den Stuhl, auf dem die Kleidungsstücke mit militärischer Präcision zurechtgelegt sind, entsendet noch einen letzten Gebetsseufzer und streckt die müden Glieder zur Ruhe.
Bald war's auch mit meinen kindischen Gedanken am Ende, sie wurden wohl vom Weltgeiste oder von meiner eigenen Seele aufgesogen, denn ich hatte einen von kuriosen und unruhigen Träumen unterbrochenen Schlaf. Das Thema von der Ausfuhr wurde für mich vom Traumgotte auf die fabelhafteste und beängstigendste Weise variiert. Der Ökonom erschien zu wiederholten Malen vor meinem Bette, aber ich konnte mich weder ermuntern, noch aus den Federn heraus; dann sah der Vater nach der großen Uhr, und ohne daß er etwas sagte, wußte ich seine Gedanken, daß es nämlich gleich Zwei schlagen würde und daß es die höchste Zeit sei, die Gesindeköchin und die Knechte zu wecken. Auf diese Erwägung gewann ich die Kraft aus dem Bette zu kommen, aber dann brachte ich in keiner Weise das Ankleiden zustande: wenn ich die Hosen anhatte, so fehlten mir die Strümpfe, und sobald ich dieser habhaft geworden, so stand ich wieder im bloßen Hemde da. Mit einem Mal that das Klingelwerk der Wanduhr mit einer Ausdauer seine Schuldigkeit, wie wenn es Tote erwecken wollte.
Ich fuhr mit einem Satz und mit einem närrisch verstörten »Herrje!« in die Höhe, wie ein kleiner »Peitzker,« der vom Angelhaken losgemacht ist, als mir der Papa, der noch weniger geschlafen hatte und jetzt die Taschenuhr ein paarmal repetieren ließ, in gutmütiger Laune zurief: »Na, was ist dir denn, bleib' doch in deiner Bucht; die Knechte werden wohl ohne dich aufstehen; aber,« setzte er für sich hinzu, »ich selbst werde wohl heraus müssen, sonst verschlafen sie heilig die Zeit.«
Als er das gesagt hatte, hörten wir unsern Haupthahn krähen und die Nachbarhähne bis zum äußersten Ende des Dorfes durch die Stille der Nacht in perspektivisch abnehmender Stärke respondieren, was höchst seltsam ins Ohr fiel, obwohl wir es schon oft gehört hatten, und als schon alles verklungen war, kam noch höchst spaßhaftig ein ganz blutjunges Hähnlein wie mit einem fernsten Echo hinterdrein: das ist so der früheste Morgenhumor in einem Dorfs. Jetzt aber gab sich die laute Stimme des Wirtschafters auf dem Hofe mit einigen Lieblingsflüchen kund, vermutlich damit der Herr und männiglich erfahre, wie streng und geschäftig der Stellvertreter bereits auf seinem Platze sei; gleich darauf vernahmen wir seine im Schnee knarrenden Schritte und wie er auf das Haus zukam.
Das Nachtlichtchen war durch einen Zufall ausgegangen, ein Lichtstrahl fiel nun aus der Laterne des Ökonomen durch die herzförmig ausgeschnittenen Öffnungen der Fensterladen und spielte auf den gekalkten Wänden wie von einer Laterna magica her. Dann hörten wir die Schritte der gefrorenen Stiefel, wuchtig und mit knitterndem Pfeifen dicht unter unserm Fenster, so daß unsere Stubenwächter knurrend zur Thüre sprangen; und dann gab es ein Klopfen und Rufen nach der Magd, welche in der Küche im Totenschlafe zu liegen schien. Sie wurde indessen richtig zum Leben und Antwortgeben erweckt, klinkte eilends die Küchenthüre auf und schob dann mit einem hörbaren Frostschauern den Holzriegel auf, der in dem nach polnischer Weise gebauten schlechten Schindelhause die Hausthüre sehr vertrauensreich schloß.
Jetzt klopfte der Ökonom sich nach einem zur Köchin gesprochenen » Téz to i mròz, ha!« (Ist mir das ein Frost, ha!) den Schnee von den Stiefeln, so daß die laut aufbellenden Teckel beschwichtigt werden mußten. Nach einem plumpen Herumtasten an der Stubenthür, unter dem eigentümlichen Rascheln des Schafpelzes und mit einem Strome eiskalter Luft, stand dann eine baumstarke Popanzgestalt mit einer ewig zerbrochenen Stalllaterne in der Schlafstube zum Rapport. Mit einem » Dzien dobry Jego mosci« (Guten Tag dem gnädigen Herrn) und einer Verbeugung, bei welcher der Arm zur Erde herabreicht (einem sogenannten upadam do nóg, d. h. einem Fußfall), von polnischer Seite, und einem » Wszysci wstali? – Tegi mróz!« (Sind alle aufgestanden? – Es ist harter Frost!) von preußischer Seite begann das Morgenverhör.
Nachdem nun während desselben der Ökonom in seiner Holzlaterne mit blinden und geplatzten Scheiben unser Stubenlicht angezündet und sich selbst die bereiften Normalwonzen (Schnauzbart) gewischt hatte, ward ihm noch aufgetragen, das Einheizen, die Stiefel und den Kaffee zu bestellen, und damit trollte die vierschrötige Nachterscheinung wieder ihrer Wege, unter demselben Räuspern, Rascheln, Atemausstoßen und Lufteinlassen wie bei seinem Erscheinen, und nicht zu vergessen, mit einem herabfallenden Tritt von der Thürschwelle in ein ausgetretenes Loch des Lehmbodens, so daß er nicht im Augenblicke die Thüre zumachen konnte und der Hausherr sich hoch und teuer vermaß: das vermaledeite Loch mit aufgethautem Lehm ausstampfen zu lassen, was aber vorläufig doch über dringenderen Dingen unterblieb.
Mittlerweile war ich so munter geworden wie ein Eichhörnchen, so daß ich mich mit dem Papa um die Wette anziehen und ihm noch beim Zuknöpfen der Hosenträger behilflich sein konnte, währenddessen die Hündchen um uns herumsprangen und eine eigene Art von unterdrücktem Freudengeheule ausstießen, weil sie wohl merkten, daß es bald auf den Hof hinausging. Jetzt »buffte« es im Ofen, der von draußen eingeheizt wurde, daß die Kacheln dröhnten: das brachte den Alten wiederum in Harnisch und er rief der Magd durch die halbgeöffnete Thüre zu, daß sie so viel Stöße ins Genick abkriegen sollte, wie sie den Kacheln zukommen ließ.
Bei der Gelegenheit leuchtete ein wahres Höllenfeuer von der unserer Thüre gegenüberstehenden und geöffneten Küchenthüre herein, und es ergab sich denn, daß die Gesindemagd halbe Klötze und Stangen, die bis zur Erde langten, ins Herdfeuer geworfen hatte. Wiederum eine Strafpredigt und beinahe eine Exekution, die nur durch einen wirklichen upadam ke nóg abgewendet wurde.
Diese kleinen Abenteuer waren alle auf Pantoffeln und Strümpfen erlebt; jetzt kamen denn auch die großen und kleinen Schmierstiefel für uns beide und des Vaters Cichorienkaffee mit meiner Morgenmilch herein. Und als wir uns solchergestalt die Nüchternheit vertrieben und ich mir zu verschiedenen Malen bei meiner Hastigkeit das Mäulchen verbrannt hatte, obgleich der alles kontrollierende Vater mich mit einem »Junge, puhste doch!« ermahnt hätte, so wurde auch schon für die Knechte zum Frühstück geklappert, d. h. mit zwei hölzernen Hämmern auf ein hängendes Brett losgeschlagen, und nicht lange, so stürzten die so Gerufenen im Trabe, unter Plaudern und Kichern, mit Getrampel und Stiefelabklopfen und indem sie die Hände in die Seiten schlugen, zur Hausthür herein, und unerachtet sie sich selbst durch ein » cicho!« (stille!) zur Ruhe ermahnten, mit einem furchtbaren Gepolter auf die Küchenthüre los, und als sie ihre ungeheuern Portionen »Wassersatscherken« (Mehlsuppe von kleingeriebenem Roggenmehlteig) im Leibe hatten, mit noch größerer Hast und Ravage wieder zum Tempel hinaus.
Während der Frühstückszeit hörte man bereits die ersten Töne des wachen Lebens: Hundegebell, Holzsägen und die dumpfen Schläge des Schmiedes, der am Morgen immer am frühesten auf und in Thätigkeit ist.
Der sorgliche Papa war schon lange hinausgegangen, hatte mir aber bei der schneidenden Kälte die Begleitung untersagt. Ich folgte indessen allen Anstalten, Tönen und Orders auf dem Hofe mit gespitztem Ohr.
Jetzt schlug die Stubenuhr Fünf, und wie auf den Glockenschlag knallten die geteerten Peitschen; mit einem fürchterlichen » wjih hih!« auf die Pferde, die sich im Anziehen auf die Kniee legten, wurden die ächzenden und knarrenden »Puffschlitten« (unbeschlagenen Schlitten), die an den Schnee festgebacken waren, unter der angestrengtesten Hilfeleistung aller Hofleute, sowie des Wirtschafters und des Vaters selbst, losgemacht. Und dann ging es zum bretternen Hofthore hinaus, daß der gefrorene Schnee nur so pfiff. Mir kam er mit all seinen abenteuerlichen Tönen, mit seinem Pfeifen, Ächzen, Knurren, Knittern und Knarren fast wie ein verhextes lebendiges Wesen vor, dessen nicht zu gedenken, daß um die Weihnachtszeit der stärkste Schnee fiel, daß man Schneemänner und Schneeballen aus ihm machte, daß man auf seinem Rücken Schlitten fuhr, und daß er eines Augenblicks ebenso wundersam verschwand, als er vom Himmel herabgefallen war.
Eine Weile sah der Papa seinen Schlitten nach, dann kam er ganz erstarrt und bereift in seine schlechte Hütte zurück und die Hündchen hinterdrein. Mit einem: »So wollt' ich doch –« wurde die Unglücksthüre zugemacht, und dann waren wir beide wieder in der Morgenstille allein, die nur von der Holzsäge, den Amboßschlägen der Schmiede und dann und wann von einem Hahnenkräh unterbrochen wurde, als die liebe Mutter freundlich, teilnahmvoll und besorglich zu uns eintrat, wie sie sich immer finden ließ. Ich erblickte nicht sobald ihre so schmiegsame, weiche Gestalt und ihre so liebeberedten Gebärden, als ich mich ihr mit einem Enthusiasmus an den Hals hängen wollte, den der ebenso erfreute, aber an sich haltende und sonderbar vor sich hin schmunzelnde Papa mit den Worten abwehrte: »Sei Er doch nicht albern und reiß Er die schwache Mutter nicht über den Haufen; Er denkt wohl, sie hat ebensoviel Kräfte wie Er Bullkalb?« Und damit war ich bei einem Flügel gefaßt und zur Seite »geschubst.« Die Mama aber sagte sanft abwehrend und entschuldigend: »So laß ihn doch schon, er ist ja heute wieder so früh aufgestanden, der arme Junge!« – Jawohl, armer Junge, wenn man eine so ewig gütige Mutter so vorzeitig verliert! Damals hatte ich mich auf die so oft vernommenen, so süß tönenden Liebesworte: »So laß ihn doch, den armen Jungen!« in ihre immer offenen Arme geflüchtet und an ihrem Herzen still mein Morgengebet gesagt! Sie schien zu fühlen, daß ein Spätling der Elternliebe nicht lange froh sein darf.
Als ich noch ganz klein war, hieß es im Hause: »Der Doktor wird kommen und der Mutter die Ader schlagen.« Ich hatte gar keinen Begriff, wie und warum man einem Menschen gerade die Ader zerschlägt und mit was für Instrumenten denn geschlagen wird. Als der Doktor kam, war ich verwundert, daß er ein ordentlicher Mensch sei und ungefähr so wie der Vater aussah; er war auch sein alter Regimentskamerad.
Ich aber hatte mir, ich weiß nicht mehr was für einen Menschen und mit welcher Ausrüstung gedacht. Wie nun der Mutter der Arm gehalten wurde, war ich ganz verwirrt vor Angst und Erwartung der Dinge, die da kommen würden; aber ich weinte doch nicht, weil ich sah, daß die Patientin ganz gelassen und weil der Vater dabei war, welcher der Mutter nichts zuleide thun ließ.
Als aber der purpurfarbene Strahl in die Höhe spritzte und der untergehaltene Teller voll Blut rann, da weinte ich jämmerlich, weil ich mir vorstellte, der geliebten Mutter müßte alles Blut auslaufen, bis sie tot wäre. Hernach habe ich oft daran gedacht, wie bedeutungsvoll das Bild einer Mutter ist, der ein Strahl Blutes aus dem Körper dringt; sie nährt ja ihre Kinder nicht bloß mit ihrer Milch, sondern mit dem Blute, das ihrem oft verwundeten Herzen entquillt!