Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Fünfundvierzig Minuten

Das Haus des Gilgen… Es dreht sich alles um das verschuldete Hüüsli. Und da müßt ihr mir Gerechtigkeit widerfahren lassen: Wär' ich dort nicht zur rechten Zeit erschienen, so hätte es noch einen Toten gegeben…

Ich hab' den Abteiliger Jutzeler am Sonntag besucht. Ich hab' ihn nicht gefunden. Ich hab' das Haus vom Gilgen beobachtet, dann ein Gespräch belauscht… Aber das Gespräch geht euch nichts an. – Und nachher bin ich zurückgekommen, ein Fenster war offen. Ich hab' durchs Fenster geschaut. Und was ich da gesehen habe…

Als ich ins Zimmer trat, saß der Herbert Caplaun in einer Ecke und ihm gegenüber, auf einem Stuhl, starr wie Holz, der Abteiliger Jutzeler. Der Herbert hielt eine kleine Browningpistole in der Hand und wollte den Abteiliger Jutzeler erschießen. Es war noch ein anderer Mann im Raum, und dem schien der Gedanke sehr einzuleuchten, daß nun der Jutzeler erschossen werden sollte…

Ihr seid jeden Morgen und des Tags über, ich weiß nicht wie oft, am Portier vorbeigelaufen… Er hat für euch die Telephonanschlüsse besorgt, er hockte hinter seinem Gitter, verkaufte Zigarren, Zigaretten, am Morgen wischte er den Gang, blochte die Büroräume… Ein nützlicher Mensch!… Er hat gut Bescheid gewußt in der Anstalt… Wißt ihr, warum er mir von Anfang an ein wenig unheimlich vorgekommen ist?… Er hatte ein ähnliches Lächeln wie ihr, Herr Doktor, und dann, das war das Ausschlaggebende – er war an der Hand verwundet…

Ihr erinnert euch an das Büro und an das Fenster… Dreyer trug einen Verband an der linken Hand. Später erfuhr ich, daß er mit dem Abteiliger Jutzeler im Büro gekämpft hatte. Aber der Grund, den der Portier angab, warum er sich um ein Uhr nachts ins Direktionsbüro geschlichen hatte, dieser Grund wollte mir nicht einleuchten. Und als ich nachdachte, stieß ich immer wieder auf den einen Gedanken: Wer wußte von dem Geld der Krankenkasse? Der Portier Dreyer.

In jenem Zimmer saß er neben dem Herbert Caplaun, und es sah aus, als wollte er den jungen Mann dazu bringen, zu schießen. Warum sollte der Jutzeler erschossen werden? Höchst wahrscheinlich, weil er etwas wußte…

In diesem Augenblick betrete ich, der Wachtmeister Studer, das Zimmer. Ich bin nicht ängstlich, Herr Doktor. Ich fürcht' mich nicht einmal vor einer geladenen Pistole… Wenn ihr die Szene gesehen hättet, ihr hättet lachen müssen. Ich bin einfach auf den Herbert zugegangen und hab' ihm gesagt: Gib mir die Pistole. Der Dreyer hat dazwischenfahren wollen. Und da hab' ich ihn ganz leicht unters Kinn gestupft. Dann ist er umgefallen.«

Studer betrachtete nachdenklich seine Faust, blickte auf, und da sah er Frau Laduner lächeln. Das Lächeln tat dem Wachtmeister wohl.

»Auch der Jutzeler hat sich nicht aufgeregt. Er hat nur gesagt: ›Merci denn, Wachtmeischter‹. Und dann haben wir den Caplaun in die Mitte genommen, und er hat erzählen müssen… Hat er euch nie vom Portier erzählt, Herr Doktor?«

»Die Analyse beschäftigt sich nicht mit derart irrelevanten Dingen«, sagte Doktor Laduner gereizt. »Es sind gewöhnlich Ausfluchtsmanöver…«

»Es wäre vielleicht doch gut gewesen, ihr wäret auf diese Ausfluchtsmanöver näher eingegangen… Irrelevant? Das heißt wohl nebensächlich?…«

»Man kann es so übersetzen«, sagte Doktor Laduner versöhnlich.

»Ich finde ja, daß der Portier Dreyer durchaus keine nebensächliche Rolle gespielt hat. Wenn der Herr Oberst über seinen Sohn, über die Verhältnisse der Anstalt, über euch, Herr Doktor, so gut Bescheid wußte, so hatte er das dem Portier zu verdanken… Wußtet ihr, daß der Mann früher in Paris und in England als Portier in großen Hotels angestellt war? Wußtet ihr, daß er dort viel gewettet – viel Geld verspielt hat? Er hat sich das nicht abgewöhnt. Ich habe nur zu telephonieren brauchen. Dann habe ich über den Portier Dreyer Bescheid gewußt… Der Mann brauchte Geld. Was er im Büro gesucht hat, es ist wohl nicht schwer zu erraten: das Geld, das die Krankenkasse ausbezahlt hatte…

Wir haben den Herbert gefragt, der Abteiliger Jutzeler und ich, von wo aus er dem Direktor angerufen habe an jenem Abend, da im Kasino die Sichlete gefeiert wurde… Er hatte sich in die Anstalt geschlichen, durch die Türe im Sous-sol des R – ist euch nie ein Passe abhanden gekommen, Herr Doktor?« Studer wartete auf eine Antwort, er wartete lange. Dann zuckte er müde mit den Achseln und fuhr fort.

»Ich hab', scheint es, ganz euer Vertrauen verloren, Herr Doktor… Kurz, hier ist der Passe; der Herbert Caplaun trug ihn auf sich. Ich habe ihn zu mir gesteckt… Als Andenken für euch…« Und Studer schob den mattglänzenden Schlüssel sachte über den Tisch, aber Dr. Laduner steckte seine Hände nur tiefer in die Taschen seines Schlafrockes. Dann blickte er zum Fenster, als ob von dorther Zugluft drohe.

»Machen Sie kein sentimentales Theater, Studer« sagte er mürrisch…

»Sentimental?« wiederholte Studer fragend. »Warum sentimental? Es handelt sich schließlich doch um einen Menschen, der nun tot ist und der euch seine Dankbarkeit hat bezeigen wollen… Gestern vor acht Tagen haben sich Pieterlen und Herbert Caplaun getroffen. Der Pieterlen hatte den Sandsack mitgebracht. Sie hatten beide beschlossen, den Direktor aus dem Wege zu räumen, beide aus Dankbarkeit. Und Gilgen stand daneben, Gilgen fand den Plan verrückt, er riet ab, aber mit dem Herbert Caplaun war einfach nicht zu verhandeln. Herbert hat mir erzählt, er sei wie verrückt gewesen, damals, an jenem Sonntag; und am Sonntag vorher sei es genau so arg gewesen… Da sei es ihm, dem Herbert, gelungen, den Pieterlen zu überzeugen. Aber Pieterlen wollte dem Caplaun nicht allein den Ruhm lassen – er wollte auch seinen Teil Dankbarkeit dazu beisteuern. Er beschloß, zu fliehen. Auch er hatte Grund genug, den Direktor zu hassen… Hatte ihm der Bundesratsattentäter nicht eingetrichtert, der Direktor sei daran schuld, daß er, Pieterlen, nicht entlassen werden könne? Daß er frei würde, sobald ihr, Herr Doktor, Direktor sein würdet? Ich will ja zugeben, daß ihr recht habt: nicht nur Dankbarkeit war die Triebfeder des ganzen Mordplans, jeder hatte auch noch seine eigenen privaten Gründe… Und habt ihr mir nicht selbst einmal erzählt, Irrsinn sei ansteckend?… Der kleine Gilgen war ein weicher Mensch, weiche Menschen sind gefährlich, wenn sie einmal wütend werden… Es war wohl in der ganzen Anstalt bekannt, daß ihr mit dem Direktor nicht gut standet, daß er euch gern den Hals brechen wollte… Oder?… Mir scheint, ihr waret in einer ähnlichen Lage wie seinerzeit der Kommissar Studer, als er gegen den Obersten Caplaun zu Felde zog… Vielleicht ist euch deshalb der Wachtmeister Studer wieder eingefallen und ihr habt ihn verlangt, um gedeckt zu sein… Stimmt's?…«

Schweigen. Dann sagte Dr. Laduner langsam:

»Mir scheint, Studer, Sie leiden an Gedankenflucht… Ich muß ehrlich sagen, die paar Rapporte, die ich von Ihnen kenne, waren bedeutend klarer als die Erzählung, die sie mir jetzt auftischen… Sie hüpfen von einem Thema aufs andere, Sie sind undeutlich… Dürfte ich Sie vielleicht höflich ersuchen, sich ein wenig klarer auszudrücken? Wenigstens eine Geschichte zu beenden? Wer hat nun die Brieftasche mit dem Paß des Direktors und mit dem Geld hinter meine Bücher versteckt?«

»Ich werde darauf zurückkommen«, sagte Studer ruhig, »ihr müßt mich erzählen lassen, so gut ich kann, Herr Doktor, das ist nicht ein einfacher Fall, wie ein anderer, der draußen unter normalen Menschen spielt… Dort habe ich sogenannte materielle Indizien, die ich so oder so werten kann… Hier hatte jedes Indizium einen ganzen Zopf von seelischen Komplikationen – wenn ihr mir den Ausdruck erlauben wollet…

Gut. Ihr wollt eine Erzählung. Dann will ich euch die Geschichte von gestern abend erzählen, die fünfundvierzig Minuten gedauert hat… Nicht länger…

»Könnt ihr euch das Zimmer vorstellen im Hüüsli des kleinen Gilgen? Eine Lampe hängt von der Decke herab, die einen grünen seidenen Schirm trägt mit Fransen aus Glasperlen… In der Mitte ein Tisch, ein schwerer Tisch. An den Wänden ein paar Bilder – und Postkarten… Ihr kennt die Postkarten, auf denen ein schöngestrählter Jüngling mit farbigem Poschettli ein Meitschi küßt, das rosarote Backen hat? Und Versli, in Silberschrift, stehen unter dem Paar: ›Lippen schweigen, es flüstern Geigen, hab mich lieb…‹ Solche Postkarten waren mit Reißnägeln an den Wänden befestigt. Am Boden lag der Portier Dreyer. Und der Herbert Caplaun saß zwischen mir und dem Jutzeler… Ich hatte den Jutzeler gefragt, warum er hierher gekommen sei… Er wollte mir nicht antworten, zuckte mit den Achseln… Endlich sagte er, er habe den Pieterlen suchen wollen, er sei überzeugt gewesen, Pieterlen habe sich zuerst in der Anstalt versteckt gehalten, aber dann sei es ihm zu unsicher geworden… Er habe sich gefragt, wohin sich Pieterlen geflüchtet haben könne, und da habe er an das Hüüsli vom Gilgen gedacht. Er sei eingetreten, der Raum hier sei dunkel gewesen, plötzlich aber sei das Licht aufgeflammt und Herbert Caplaun sei vor ihm gestanden und habe ihn mit dem Revolver bedroht…

›Warum hast du den Jutzeler erschießen wollen?‹ hab ich den Herbert gefragt.

›Weil er mir nachspioniert hat… Weil er mich an meinen Vater hat verraten wollen… Weil er mich beim Doktor Laduner verrätscht hat…‹

›Aber, Herr Caplaun‹, sagte der Jutzeler, ›das hab ich doch nie getan… Wer hat euch das erzählt?‹

Da wurde der Herbert wütend. Er schrie den Jutzeler an: ›Ihr habt dem Doktor doch gesagt, daß ich in der Heizung bin, wär er sonst, gleich nachdem ich den Direktor hinuntergestoßen habe, schon vor der Türe gestanden, um mir aufzulauern? Aber ich war da schneller… Ich bin ihm durchgebrannt… Er hat mich nicht erwischen können… Doch ich bin auch nicht losgekommen, vom Dr. Laduner… Am nächsten Morgen bin ich zu ihm in die Wohnung, er hat mich schlecht empfangen, er war so kalt… Immer hat er wiederholt: Ich will nichts wissen, Caplaun… Alles, was Sie mir zu sagen haben, muß in der Analyse gesagt werden… Außerhalb der Analyse bin ich für Sie nicht zu sprechen!… – Das hat er mir an dem Morgen gesagt. Und am Nachmittag bin ich auf dem Ruhebett gelegen, er hat wieder nichts gefragt, ich hab nicht reden können, ich hab nur weinen können… Ich hab's doch nur getan, um ihm zu danken, dem Dr. Laduner, aber das hab ich ihm doch nicht sagen können, er hätt' es mir nicht geglaubt… Es wird immer alles ganz anders, wenn man so daliegt, und der andere ist unsichtbar und raucht nur und schweigt und schweigt… Ich hab geweint, aber sprechen hab ich nicht können… Ich hab immer an die Mappe denken müssen und an die Liste der Toten… Und an das Protokoll über die Diebstähle des Gilgen… Die Mappe hab ich gut versteckt gehabt. Im Ofen… Aber ich hab dem Doktor nicht erzählt, wo ich sie versteckt habe… Ich habe auch nichts vom Direktor erzählt, und ich hab doch gewußt, daß Sie die Leiche schon gefunden hatten, und daß der Dr. Laduner alles wußte… Aber der Doktor hat geschwiegen und ich bin auf dem Ruhebett gelegen und hab geweint… Sie wissen nicht, Wachtmeister, was das ist, eine Analyse!… Lieber drei Lungenentzündungen… Es sollte zu meinem Besten sein, ich sollte ein anderer Mensch werden… Aber alles erzählen müssen!… Man kann doch nicht alles erzählen… Und einen Mord schon gar nicht… Er war doch mein Beichtvater, der Dr. Laduner; wenn ich ihm gesagt hätte: ich hab den Direktor die Eisenleiter hinuntergestoßen, was hätte der Doktor machen können? Mich verhaften lassen? Konnte er doch nicht!… Genau so wenig, wie ein katholischer Pfarrer sein Beichtkind verhaften lassen kann, wenn es ihm einen Mord gesteht…

Ja, Herr Doktor, so hat der Caplaun geredet und wir sind neben ihm gesessen, der Abteiliger Jutzeler und ich, und auf dem Boden ist der Portier Dreyer gelegen, immer noch bewußtlos…«

Studer schwieg erschöpft, er hatte sich in Feuer geredet, aber er wagte nicht aufzublicken…

»Und Sie haben das alles geglaubt, Wachtmeister Studer?«

Studer hob den Kopf, ungläubig blickte er dem Arzt in die Augen. Dr. Laduner dachte nicht daran, den Blick zu senken. Seine Augen waren traurig.

Ärgerlich sagte Studer endlich:

»Herr Doktor, ihr werdet doch nicht einen alten Fuhrmann welle lehre chlepfe?…« Und vorwurfsvoll fügte er hinzu: »Ihr werdet mir doch nicht wollen beibringen, wann ein Geständnis wahr und wann es falsch ist?«

»Ge-wiß nicht…« sagte Laduner ruhig. »Erzählen Sie ruhig weiter. Ich werde dann die Schlußfolgerungen ziehen…«

Studer kratzte verlegen seinen Nacken. Wieder fühlte er sich unbehaglich… Wie ein Aal war dieser Dr. Laduner, nie konnte man ihn fassen… Was wußte er noch?… War wirklich etwas dran an dieser Analyse? War man wirklich auf ein falsches Geständnis hereingefallen? Aber die Erzählung des Herbert Caplaun hatte so ehrlich geklungen…

Weiter, in Gottes Namen, was jetzt kam, war ohnehin schwierig genug zu erzählen…

»Ihr wolltet doch gedeckt sein, Herr Doktor«, sagte Studer vorwurfsvoll, »ich hatte nicht vergessen, daß ihr mir Brot und Salz angeboten, daß ihr mir den Leibundgut gezeigt habt, um mir den Fall Caplaun zu erklären, ich hatte nicht vergessen, daß ihr mich aufgenommen hattet wie einen Freund, und auch die Frau Doktor – sie ist lieb mit mir gewesen und hat mir Lieder vorgesungen… Da hab' ich gedacht, das beste wäre jetzt, der Caplaun würde ein Geständnis schreiben und wir beide, der Jutzeler und ich, wir könnten dann unterzeichnen… Ich hab' wohl achtgegeben, daß euer Name nicht vorkam. Den Caplaun mußte ich ja verhaften, aber ich wollte ihn zuerst zu euch führen und mit euch die Sache besprechen, was zu tun sei… My tüüri Gott Seel!« seufzte Studer aus tiefstem Herzensgrunde. »Ich wollte euch doch nicht ins Handwerk pfuschen, das dürft ihr mir glauben, ich bin ein einfacher Mann, Herr Doktor, ich wollte tun, was in meiner Kraft stand, um euch Sorgen zu ersparen…«

»Studer! Studer!« unterbrach Dr. Laduner vorwurfsvoll. »Das sind alles Ausflüchte! Sie entschuldigen sich zu hartnäckig… Sie haben nachher etwas getan, was Sie nur schwer verantworten können. Erzählen Sie mir das lieber, so ruhig und sachlich als möglich… Dann können wir weitersehen…«

Studer seufzte wieder… Noch eine kleine Anstrengung, und dann war alles vorüber… Dann konnte man Mattos Reich verlassen…

»Aber Ernst«, sagte da plötzlich Frau Laduner, »quäl doch unsern Wachtmeister nicht so…«

»Merci, Frau Doktor«, sagte Studer erleichtert. Und dann fuhr er fort:

»Die ganze Zeit über hatte der Dreyer unbeweglich auf dem Boden gelegen, seine Augen waren immer noch geschlossen. Aber ich merkte gut, daß seine Augendeckel zitterten… Er war schon lange nicht mehr bewußtlos… Aber ich ließ ihn noch liegen, denn ich hatte noch ein paar Fragen zu stellen. Ich sollte doch die Wahrheit finden, Herr Doktor, die Wahrheit – für uns… Darum fragte ich den Caplaun: ›Und die Brieftasche? Warum habt ihr die Brieftasche hinter den Büchern des Herrn Doktor versteckt?‹ – Da wurde der Caplaun rot und schließlich sagte er stotternd, er habe erwartet, daß ihr, Herr Doktor, ihm danken würdet für den Dienst, den er euch erwiesen habe… Denn er habe erfahren, von der Untersuchung, die der Direktor begonnen habe über die Todesfälle im U 1, und da habe der Herbert gemeint, ihr seiet in einer gruusigen Gefahr… Und nur darum habe er den Direktor hinuntergestoßen… Aber ihr hättet nicht dergleichen getan… Und da sei er toub geworden und habe gedacht, er könne euch einen Streich spielen – wenn es nämlich eine Untersuchung gäbe und die Brieftasche werde bei euch gefunden, so würdet ihr in Verdacht geraten und dann hätte er, der Herbert, hervortreten und gestehen können und alle Welt hätte dann erkennen müssen, wieviel Edelmut in einem verkommenen Subjekt stecke… Das waren etwa seine Worte… Ich gab mich mit der Erklärung zufrieden… Dann wollte ich aber noch wissen, warum der Gilgen mir den Sandsack aus dem Koffer gestohlen hatte…

Da erfuhr ich nun, daß ich beobachtet worden war, und, so unwahrscheinlich es klingen mag, ich bin vom Pieterlen beobachtet worden… Pieterlen hatte sich in dem leeren Dachraum über meinem Zimmer versteckt, weil er gefunden hatte, dort sei er am sichersten aufgehoben… So sicher fühlte er sich dort oben, daß er sogar wagte, Handharpfe zu spielen… Darum ist der Gilgen damals so erschrocken, als ich ihn in meinem Zimmer fragte, wer da spiele… Es war ein Loch im Fußboden des Estrichs, durch das Loch konnte der Pieterlen alles beobachten, was in meinem Zimmer vorging. Da sah er mich den Sandsack und das Stück grauen Stoffes im Koffer verstecken… In der Nacht schlich er sich auf die Abteilung und in Gilgens Zimmer und erzählte ihm das. In eure Wohnung hat sich der Pieterlen nicht getraut… Darum mußte der Gilgen gehen… Die Angst vor der Entlassung war nur ein Vorwand, er wußte gut, daß er unter eurer Leitung nichts mehr zu fürchten hatte…«

Studer schwieg eine Welle, dann fuhr er fort:

»Caplaun hatte sich beruhigt… Auch sein Haß auf den Abteiliger Jutzeler schien verraucht zu sein… Ich trat zu dem Dreyer, gab ihm einen Stupf und sagte ihm, er solle aufhören, sich zu verstellen… Er müsse mitkommen… Der Mann schlug die Augen auf… Er hatte einen giftigen Blick… Ich hätte wirklich mehr aufpassen sollen… Aber man denkt schließlich auch nicht immer an alles…

Wir, der Jutzeler und ich, nahmen die beiden zwischen uns. Neben mir schritt der Caplaun, dann kam der Portier und ganz zuäußerst links ging der Jutzeler… Wir gingen auf dem Sträßlein, und der Jutzeler meinte, wenn wir den Weg am Fluß entlang nehmen würden, so könnten wir bedeutend abkürzen…«

»Sind Sie sicher, Wachtmeister, daß der Jutzeler den Vorschlag gemacht hat?« fragte Dr. Laduner. Studer blickte erstaunt auf. »Ja, Herr Doktor, ganz bestimmt…«

»So«, meinte Dr. Laduner nur. Dann zog er die Hände aus seinen Schlafrocktaschen und verschränkte die Arme über der Brust. Studer wurde unsicher.

»Ich weiß nicht«, sagte er zögernd, »ob ihr die Stelle kennt, wo das Ufer neben dem Weg ziemlich steil abfällt… Dort ist der Fluß tief!«

Laduner nickte schweigend.

»Der Weg ist dort so schmal, daß wir hintereinander gehen mußten. Ich ging voraus, hinter mir schritt der Portier, dann kam der Herbert, und Jutzeler marschierte am Ende. Ich blickte mich von Zeit zu Zeit um, aber Dreyer hatte den Kopf gesenkt. Es war dunkel. Links fiel das Ufer zum Fluß ab, rechts stieg ein Abhang in die Höhe, der mit dichtem Gebüsch bewachsen war. Plötzlich hör' ich Geräusche hinter mir, schwere Atemzüge, Trappen. Ich wende mich um: da halten sich Caplaun und der Portier umklammert und einer versucht den andern in den Fluß zu stoßen. Ich ruf' dem Jutzeler zu, er soll eingreifen, denn ich steh' selbst nicht sicher, ganz am Rande des Weges, unter meinen Sohlen bröckelt die Erde ab und Klumpen klatschen ins Wasser. Jutzeler rührt sich nicht. Er hat die Arme verschränkt, wie ihr jetzt, Herr Doktor, und sieht dem Kampf zu… Es ging dann alles sehr schnell. Ich hatte gerade wieder festen Fuß gefaßt, da seh' ich, wie der Dreyer den rechten Arm freimachen kann, er holt mit der Faust aus und trifft den Caplaun unter das Kinn… Der Herbert stürzt rücklings ins Wasser – ihr könnt es mir glauben oder nicht, Herr Doktor, aber in diesem Augenblick hab' ich an den alten Direktor denken müssen, der rücklings hinuntergefallen ist… Es kam mir vor… wie – ja, wie… ein Gottesgericht… Vielleicht hätt' ich den Caplaun auffangen können, aber dann wär ich sicher mit ihm in den Fluß gestürzt… Man denkt unglaublich schnell in solchen Augenblicken, Herr Doktor… Ich hab' mich nicht gerührt… Ihr müßt wissen, ich kann schlecht schwimmen… Der Caplaun ist gleich untergesunken… Er hat nicht geschrieen… Der Schlag hatte ihn betäubt… Wir beide, der Jutzeler und ich, haben dann den Dreyer gepackt und ihn nach Randlingen geführt… Ich hab' dann Weisung gegeben, daß man ihn heut' morgen nach Bern transportiert…«

Schweigen. Und in das Schweigen hinein schrillte plötzlich das Tischtelephon. Dr. Laduner stand auf, meldete sich, reichte dann Studer den Hörer.

»Man will Sie sprechen, Studer. Ich glaub, es ist der Postenchef vom Bahnhof Bern…«

Studer lauschte schweigend, sagte dann »Gut!«, legte vorsichtig den Hörer auf die Gabel und wandte sich um. Sein Gesicht war bleich.

»Was ist passiert, Studer?« fragte Dr. Laduner.

»Bei einem Fluchtversuch ist Dreyer in einen Camion gelaufen. Er ist überfahren worden… Tot…«

Dr. Laduner schien noch zu lauschen, trotzdem das Wort ›tot‹ schon eine ganze Welle verklungen war.

Dann entstand das Maskenlächeln wieder um seinen Mund; er legte den Zeigefinger der Linken auf den abgespreizten Daumen der Rechten:

»Erstens der Direktor«, sagte er, dann berührte der Finger die Spitze des rechten Zeigefingers: »Zweitens der Gilgen…« Nun kam der Mittelfinger an die Reihe: »Drittens Herbert Caplaun…« und dann der Ringfinger: »Viertens der Portier Dreyer… Es wird besser sein, Sie geben den Fall auf, sonst langen die Finger der beiden Hände nicht mehr zum Aufzählen… Aber vielleicht ist es doch besser so…« Er schwieg, tastete mit den Händen nach dem Verband, der seinen Kopf umgab, rückte ihn zurecht und sagte abschließend: »Fast wäre ich der fünfte gewesen…«

»Aber Ernscht!« rief Frau Laduner ängstlich und griff nach der Hand ihres Mannes.


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