Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Kurzes Zwischenspiel in drei Teilen

1.

Gehen Sie nur ruhig in die Wohnung hinauf und warten sie auf mich, Sie brauchen nicht zu läuten…« hatte Dr. Laduner gesagt.

So stand nun Studer im kühlen Gang. Jemand spielte Klavier, eine einfache Melodie. Studer schlich näher. Die Klänge drangen durch die Tür, die dem Eßzimmer gegenüberlag. Studer lauschte. Das Klimpern klang kühl wie Amselsang an einem Aprilmorgen. Das Klavier schwieg, eine Knabenstimme sagte.

»So Muetti, jitz sing du!« »Aber, Chaschperli, ich cha ja gar nid singe…« »Wowoll, Muetti… Weisch, ds französisch Lied…« Stuhlrücken. Ein kurzes Vorspiel…

»Plaisir d'amour ne dure qu'un moment
Chagrin d'amour dure toute la vie…«

Eine Altstimme… Plötzlich war Studer weit weg, obwohl sein Kopf an der Türfüllung lehnte… Es versank die Anstalt Randlingen und der alte Mann, der das Genick gebrochen hatte, es versank Pierre Pieterlen, dessen Signalement man verbreiten sollte, es versank Dr. Laduner mit seinem Maskenlächeln, über das man sich den Kopf zerbrechen mußte…

… Und vor Studer breitete sich aus ein Gewirr von Türmen und Dächern, aus dem dumpf ein Summen stieg, unterbrochen bisweilen von kurzen, schrillen Klängen. Nebelfahnen wehten, und glitzernd schlängelte ein Fluß sich durch die Häuserebene. Er stand auf der Höhe von Montmartre und sah auf Paris. Neben ihm saß eine Frau, sie sang und begleitete sich auf der Gitarre:

»J'ai tout quitté pour ma charmante Sylvie…«

Ihre Stimme war ungeschult, dunkel und voll Traurigkeit… Es gab einen scharfen Knack, Studer stand wieder im Gange der Wohnung. Das Holz der Türfüllung, an der sein Kopf lehnte, hatte nachgegeben.

Schritte näherten sich, dann ging die Türe auf.

Frau Laduner trug den Zwicker auf der Nase. Sie blinzelte angestrengt in den dunklen Gang, ihre Augen näherten sich Studers Gesicht auf Handbreite, dann lachte sie…

»Der Herr Studer!« Und er solle doch innecho, statt im Gang draußen stehen zu bleiben, und dann abhocken. Es habe noch Tee… Etwas Kirsch dazu? Ja?… Und »Chaschperli, säg guete Tag!« Das sei der Herr Studer, der im Gastzimmer wohne…

Man war der Herr Studer… Man durfte vergessen, daß man Wachtmeister an der Fahndungspolizei war und dazu verdammt, Verbrechen aufzuklären… Man wurde in einen grünen Armstuhl gedrückt, ein Servierboy stand plötzlich vor ihm, der Tee, der in die Tasse floß, war dunkel wie Mahagoni, es gab einen Gutsch Kirsch darein, und dann mußte man geröstetes Brot nehmen, das warm war und auf dem der Anken zerfloß… Toast nannte man das wohl…

Ob Frau Doktor so gut sein wolle und noch eins singen, fragte Studer. Die Tapeten des Zimmers waren von einem dunklen Gelb, aber über dem schwarzen Klavier lag auf der Wand ein Sonnenfleck, der wie Weißgold schimmerte…

Frau Laduner sagte, sie könne ja gar nicht singen; doch war keine Geziertheit und falsche Bescheidenheit in dieser Behauptung. Überhaupt gehörte diese Behauptung in die gleiche Gruppe wie die Bemerkung am Morgen: Man gefiele der Frau Doktor ›nid übel‹… Das war tröstlich.

Das Chaschperli sagte ungeduldig: »So! Muetti!«

Und Frau Laduner setzte sich ans Klavier. Ihre Hände waren kurz und dick, die unteren Gelenke der Finger gut gepolstert. Sie sang ein Lied, sie sang zwei Lieder. Studer trank Tee.

Die Frau stand auf. – Nun sei es genug, sagte sie, und was es Neues gebe… – Er habe den Direktor gefunden…

»Tot?«

Studer nickte schweigend, und Frau Laduner schickte ihren Sohn aus dem Zimmer.

»Soso«, sagte sie dann. »Eigentlich hat es ja so kommen müssen…«

Und Studer war einverstanden. Ja, es hatte so kommen müssen…

– Sie wisse nicht, sagte Frau Laduner, ob Studer begreifen könne, was das für ihren Mann zu bedeuten habe… Ob er sich schon ein Bild habe machen können vom Ernst?… Von seinem Charakter? Von seiner Art?… Er habe sehr darunter gelitten, daß er alle Arbeit habe machen müssen. Mein Gott, wie habe die Anstalt ausgesehen bei seiner Ankunft in Randlingen… »Die Kranken sind herumgehockt auf den Abteilungen… Im B haben sie den ganzen Tag gejaßt, das K sah aus wie ein Museum gotischer Figuren… Die Kranken sind herumgestanden, mit verrenkten Gliedern, der eine hat wie ein Wasserspeier den ganzen Tag auf dem Heizungskörper im Korridor gehockt, und gestunken hat es!… Die Badewannen waren den ganzen Tag besetzt. Von den Unruhigen. Die Zellenabteilung war überfüllt… In der Nacht haben sie geschrieen, daß ich mich fast gefürchtet habe, so tönte es über den Hof. Wissen Sie, was Arbeitstherapie ist?«

Studer mußte lächeln, weil er an den Blitzzug denken mußte, der ihm heut morgen begegnet war.

»Warum lächeln Sie?« fragte Frau Laduner, und Studer gab den Grund an.

»Das ist nur ein Teil, und ich verstehe, daß es euch komisch vorgekommen ist. Man sucht die Kranken zum Arbeiten anzuhalten… Mein Mann hat große praktische Begabung, er hat Arbeiten direkt erfunden, er hat den Wärtern (damals sagte man noch Wärter) Kurse gegeben, er ist des Tages fünf-, sechs-, zehnmal über die Abteilungen gegangen; – er, der sonst immer gern flucht, wenn etwas nicht geht, er war geduldig… Und der Direktor ist jeden Abend zum Bärenwirt seinen Dreier trinken gegangen, hat seine Köchin geheiratet, hat mit sechzig einen Sohn taufen lassen… Und als alles in Gang war, als die Anstalt wirklich in Ordnung war, als Leute kamen, um sie zu besichtigen, als die Patienten in den Nächten ruhig waren, die Abteilungen, die früher nach Irrenhaus ausgesehen hatten, nichts anderes waren als Werkstätten, in denen Papiersäcke geklebt, Matten geknüpft wurden – als man Kranke entlassen konnte, die man früher für unheilbar hielt – wer hat den Ruhm eingeheimst?… Ich habe einmal zufällig im Direktionsbüro einen Brief gelesen… Irgendein deutscher Professor schrieb dem Direktor, er habe sich gewundert über die moderne Führung der Anstalt, und er beglückwünsche den Direktor, daß er die neuzeitlichen Errungenschaften der Psychotherapie in seiner Anstalt eingeführt habe…«

Frau Laduner hatte sich warm geredet. Nun schwieg sie. Ihre Hände ruhten im Schoß, und ihr Leinenrock war fast bis zu den Knieen gerutscht. Studer fand, die Füße der Frau Laduner sähen gutmütig aus. Gutmütig und tatkräftig.

Er dachte: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ und versteckte ein Lächeln unter seinem Schnurrbart…

»Und jetzt ist der Direktor tot!« sagte Frau Laduner. Sie atmete tief, und der Stoff ihrer Bluse spannte sich über ihrer Brust. Genau so tief hatte Dr. Laduner geatmet, in der Allee unter den Apfelbäumen, an deren Ästen die winzigen, grasgrünen Früchte hingen, die ebenso sauer waren wie der Klang der Stundenglocke im Türmchen der Anstalt Randlingen…

Eine Klinke wurde heruntergeschlagen, eine Tür aufgerissen…

»Frau Doktr, i glaube, dr Herr Doktr isch cho«, sagte Studer und stand auf.

In der Wohnung wurde eine Tür mit lautem Knall zugeschmettert. Sie wolle go luege, sagte Frau Laduner. Und dann verabschiedete sie sich vom Wachtmeister.

2.

Am Türpfosten der Wohnung im ersten Stock war ein Blechschild angebracht, wie man es in jenen Automaten ausstanzen konnte, die früher auf allen Bahnhöfen wuchsen…

›Dr. med. Ulrich Borstli‹ stand darauf.

Vorsichtig versuchte Studer, die Türe zu öffnen, sie war unverschlossen, er stand dann in einem Gang, der dem Gang in der Wohnung Dr. Laduners ähnelte. Ihm war ein wenig beklommen zumute. Aber dann dachte er, daß er schließlich beauftragt sei, den ›Konnex‹ (wie Dr. Laduner sagte) zwischen dem Verschwinden des Patienten Pieterlen und dem Tode des alten Direktors aufzudecken.

So rief er laut: »Hallo!« Und »Niemer umeweg?«… Stille. Es roch nach kaltem Stumpenrauch. Studer betrat das erste Zimmer.

Ein Flügel, ein Notenständer, ein Rauchtisch mit einem gefüllten Aschenbecher. Armsessel, ein offener Kamin, davor ein lederner, abgewetzter Klubsessel. Und über dem Klavier hing die vergrößerte Photographie einer Frau. Studer trat näher. Ein spitzes Gesicht, große Augen, die schweren Zöpfe waren kunstvoll über dem Hinterkopf aufgetürmt… Ein altes Bild… Die erste Frau?…

Der Flügel war verschlossen und mit Staub bedeckt. Zu beiden Seiten der Fenster hingen rote Plüschvorhänge, und durch die Scheiben leuchtete der bleiche Stamm einer Birke. An ihren feinen Ästen hingen zerknitterte Blätter…

Im Nebenzimmer stand ein Schreibtisch und auf dem Schreibtisch eine Flasche Kognak mit einem gebrauchten Glas daneben. Studer erinnerte sich, daß der Direktor die Gutachten der chronischen Alkoholiker machte – und er mußte leise lachen. Neben der Flasche lag ein Buch aufgeschlagen, Studer suchte das Titelblatt.

›Die Memoiren des Casanova.‹

Eine etwas sonderbare Lektüre!… Nun ja… Aber man mußte die Schubladen des Schreibtisches durchsuchen.

Sie waren unverschlossen. Nirgends Geld. Die zwölfhundert Franken, die der Direktor gestern von der Krankenkasse erhalten hatte, waren nicht vorhanden… Er hatte sie also bei sich getragen? Aber seine Taschen waren leer gewesen… Und der Sandsack?…

Das Schlafzimmer: Zwei Betten, das eine war nicht überzogen, das andere ungebraucht, kein Kopfeindruck auf dem Kissen. Die Decke war glattgestrichen…

Was war es nur, was die ganze Wohnung durchdrang? Es war nicht allein der kalte Stumpenrauch, obwohl er zu der besonderen Atmosphäre gehörte, es war auch nicht der leichte Kognakgeruch, und doch war auch er nicht wegzudenken. Es war nicht der aufgeschlagene Casanova und das unüberzogene leere Bett und nicht der Staub und nicht der geschlossene Flügel und die Plüschvorhänge und die Birke mit den zerknitterten Blättern…

Studer blieb mitten im Arbeitszimmer stehen, vor dem offenen Schrank, in dem wenige Bücher unordentlich herumlagen. Auf dem Schreibtisch war ein dreiteiliger Rahmen aufgestellt: Photographien… Mädchen, Männer, ein Brautpaar, Kinder… Enkel des alten Direktors?…

»Aaahh«, machte Studer ganz laut.

Jetzt konnte er ganz genau sehen, was die Wohnung durchdrang:

Einsamkeit.

Ein alter Mann, der zum Bärenwirt flieht, weil er die Einsamkeit nicht mehr aushält. Zwei Frauen sind ihm gestorben. Die Kinder weit weg… Die Enkel kommen nur in den Ferien… Und die jungen Pflegerinnen, mit denen man spazieren geht?… Ein alter Mann kämpft gegen die Einsamkeit, und es ist ein hoffnungsloser Kampf…

Studer schlich davon, schlüpfte ins Stiegenhaus, hastete in den zweiten Stock, betrat die Wohnung. Frau Laduner kam ihm entgegen. Ein Pfleger habe nach ihm gefragt, sie habe ihn ins Gastzimmer geführt.

Als Studer die Türe öffnete, saß der kleine Gilgen auf dem Rande eines Stuhls, und sein Gesicht war bleich und ängstlich…

3.

Gilgen kratzte sich die Glatze. Er hatte einen Rock angelegt, der viel geflickt war. Aus der Tasche des Rockes zog er nun ein Blatt Papier, vierfach zusammengefaltet, und reichte es Studer. Der Titel war mit schöner Rundschrift gemalt, und es war eine Art Widmung:

»Dem sehr verehrten und sehr gütigen und sehr weisen Inspektor Jakob Studer von einem großen Kriegsverletzten gewidmet im Auftrage Mattos, des großen Geistes, dessen Reich sich weitet über das Erdenrund.«

Und dann kam das sonderbare Stück Prosa, das Studer am Morgen gelesen hatte, aber es begann ein wenig anders:

»Wenn der Nebel den Regen spinnt zu dünnen Fäden…« Und so weiter… und so weiter… Es kam der Abschnitt über die bunten Papiergirlanden, die über die Welt flattern, und dann flackern Kriege auf, es kam der Satz über die roten Bälle und die Revolutionen lodern zum Himmel… Es war ähnlich und doch anders. Diesmal berührte es Studer merkwürdig, und es fröstelte ihn ein wenig. Es war soviel passiert inzwischen… Er hatte den Direktor gefunden am Fuße der Eisenleiter… Er hatte die Wohnung gesehen und die Einsamkeit eines alten Mannes begriffen… Er hatte das Aufatmen Dr. Laduners gesehen und das Aufatmen seiner Frau…

Und Wachtmeister Studer las den letzten Abschnitt von Schüls ungereimtem Gedicht. In diesem hieß es:

»Matto! Er ist mächtig. Alle Formen nimmt er an, bald ist er klein und dick, bald schlank und groß, und die Welt ist sein Puppentheater. Sie wissen nicht, die Menschen, daß er mit ihnen spielt wie ein Puppenspieler mit seinen Marionetten… Und dabei sind seine Fingernägel lang wie die eines chinesischen Gelehrten, gläsern und grün…«

Der gute Schül! Mattos Fingernägel schienen ihn zu beschäftigen… Aber, was war denn los? Studer fühlte sich unbehaglich, aber es war nicht mehr Schüls ›Dichtung‹, es war etwas anderes…

»Wer spielt denn da in einem fort Handharpfe?« fragte er ärgerlich. Man konnte nicht feststellen, woher der Ton kam. Drunten im Ärztebüro schon hatte er die Musik gehört, fern und leise, hier war sie lauter zu hören, sie schien aus den Wänden zu dringen oder von der Decke herabzusickern…

Er blickte auf den rothaarigen Gilgen und bemerkte, daß der kleine Mann bleich geworden war. Das sah sonderbar aus, die Sommersprossen traten so deutlich hervor wie Rostflecken auf mattem Stahl.

»Was ist los, Gilgen?« fragte Studer.

»Nüt, Herr Wachtmeister…« Und ob Studer wirklich wissen wolle, wer spiele? Das werde nicht festzustellen sein. In der Anstalt habe es so viele, die Handharpfe spielten, es könne aus irgendeiner Abteilung dringen…

Studer gab sich zufrieden, obwohl ihn das Handharpfenspiel unleidig machte. Er hätte nicht sagen können, warum. Er versuchte, sich auf etwas zu besinnen, das ihm am Morgen aufgefallen war, es war etwas, das mit Handharpfenspiel zusammenhing, aber er konnte sich nicht besinnen…

»Wachtmeister«, sagte der kleine Gilgen und stockte. Dann, als Studer ihm aufmunternd zugenickt hatte, kam die Bitte: – Studer möge doch den Dr. Laduner bitten, daß er nicht entlassen werde… – Entlassen? Warum sollte er entlassen werden?

Eine traurige Geschichte erzählte der Gilgen. Er habe ein Hüüsli gekauft, vor vier Jahren… Achtzehntausend Franken. Siebentausend habe er angezahlt, der Rest sei erste Hypothek… Und es sei gut gegangen… Aber nun sei die Frau krank und in Heiligenschwendi oben, sie habe es auf der Brust… Schulden, ja!… Und dann habe er immer den Abteiliger Jutzeler vertreten, wenn der frei gehabt habe, und da habe er sich ein paarmal Respekt verschaffen müssen bei den jungen Pflegern, und die seien ihm dann aufsässig geworden… Hätten ihn verklagt, er trage die Wäsche und die Schuhe von Patienten… Der alte Direktor habe die Sache untersucht, und er habe den andern geglaubt. Er habe den Gilgen entlassen wollen… Da habe der Abteiliger Jutzeler gedroht, dem alten Direktor nämlich, man werde den Streik proklamieren, wenn der Gilgen entlassen würde… Der Direktor habe nur gelacht… Und er habe recht gehabt, zu lachen, denn es sei wenig Einigkeit unter den Pflegern… Kaum ein Dutzend, die organisiert seien… Der Rest sei froh, überhaupt eine Anstellung zu haben in dieser Krisenzeit… – Und nun?, fragte Studer. Er hatte Mitleid. – Nun habe er heut mittag, wie er heimgefahren sei, den Betreibungszettel gefunden… Natürlich, wenn ihm sein Lohn gepfändet werde, dann sei alles verpfuscht… Die Frau sei in keiner Krankenkasse… Er habe alles versucht, sagte der Gilgen, in der Freizeit habe er für Kollegen geschneidert, obwohl das ja eigentlich verboten sei, Doppelverdienertum… Bei den Pflegern wenigstens. Wenn die Frau vom Dr. Blumenstein im Dorfe Lehrerin sei und ihr Mann den Lohn ziehe in der Anstalt, so mache das nichts…

Studer nickte… Es ging ungerecht zu in der Weit. Er hätte dem kleinen Gilgen von den zwölfhundert Franken erzählen können, die der Direktor von der Krankenkasse gezogen hatte… Aber er wollte nicht hetzen.

Merkwürdig immerhin, daß der kleine Mann so großes Vertrauen zu ihm hatte. Der Pfleger Gilgen, den er gestern noch gar nicht gekannt hatte, mit dem er heute morgen einmal gejaßt hatte, dem er vielleicht ganz aus Zufall vom Dr. Laduner übergeben worden war, um auf der Abteilung B herumgeführt zu werden…

Studer tröstete, so gut er konnte. Er werde sein Möglichstes tun. Dr. Laduner leite ja vorläufig die Anstalt, er werde bei ihm ein gutes Wort einlegen…

Der Pfleger Gilgen ging ein wenig getröstet fort.

Studer fiel es auf, daß er noch einen furchtsamen Blick nach der Zimmerdecke warf – aber dann vergaß er es wieder. Das Handharpfenspiel hatte aufgehört…

Auf dem Rückweg von der Gangtür, zu der er den kleinen Gilgen begleitet hatte, blieb Studer vor der Tür zum Arbeitszimmer stehen. Ihm war eingefallen, daß er an seine Frau telephonieren wollte.

Er klopfte scharf an und öffnete, prallte zurück…

Auf einem Ruhebett, den Blick zur Tür gewandt, lag ein junger Mann mit angstvoll aufgerissenen Augen. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und Tränen liefen über seine Wangen. Ihm zu Häupten aber saß Dr. Laduner in einem bequemen Lehnstuhl und rauchte. Als er Studer erblickte, sprang er auf, kam an die Tür und flüsterte aufgeregt: »In einer halben Stunde… Ich bin jetzt beschäftigt…« Und drückte die Tür ins Schloß.

Studer blieb einen Augenblick stehen und dachte nach. Der junge Mann auf dem Ruhebett war der Herbert Caplaun, Sohn des Obersten…

Warum lag der Herbert auf einem Ruhebett und weinte?

Frau Laduner kam aufgeregt durch den Gang. Man dürfe ihren Mann jetzt nicht stören, er habe einen Privatpatienten in der Analyse…

Analyse? Was denn das sei?…

Frau Laduner winkte ab. Das sei schwer zu erklären. Und Studer dachte, das sei ebenso schwer zu erklären wie der Ausdruck Angstneurose.

Still ging er in sein Zimmer zurück und begann seine Taschen zu leeren. Sein ramponierter Lederkoffer war geholt worden und stand auf dem Tisch. Unter seine Wäsche legte Studer den Sandsack, die Enveloppe mit dem Staub, den er aus den Haaren des toten Direktors gebürstet hatte, und das Stück groben Stoffs, das er unter Pieterlens Matratze gefunden hatte.

Dann zog er sein Büchlein aus der Tasche, schlug die Seite mit den Namen auf und begann sie auswendig zu lernen, so, wie ein fleißiger Lateinschüler Vokabeln lernt:

»Jutzeler Max, Abteilungspfleger
Weyrauch Karl, Oberpfleger
Wasem Irma, Pflegerin, 22jährig…«

Da fiel ihm auf, daß er vergessen hatte, den kleinen Gilgen einzutragen, auch Schül, den Freund Mattos, hatte er vergessen, und auch die Jungfer Kölla von der Küche stand nicht im Büchlein. Aber diese drei ließ er sein, denn sie schienen nicht zum Fall zu gehören…

Leise flüsterte er ein paarmal:

»Pieterlen Pierre, Kindsmord«

und:

»Caplaun Herbert, Angstneurose.«

Dann klappte er das Buch zu, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Im Halbschlaf memorierte er noch.

»Dr. Blumenstein, vierter Arzt, macht jetzt die Sektion, Schwager des Direktors, Frau Schwester der zweiten Frau, Frau ist Lehrerin in Randlingen…«

Die vielen ›Frau‹ störten ihn, er schüttelte den Kopf, so, als ob sich eine Fliege auf seiner Nase niederlassen wollte, und dann schlummerte er ein.

Er träumte, Dr. Laduner zwinge ihn, die Namen aller Patienten, aller Pfleger und Pflegerinnen, aller Kuchimeitschi, Handwerker, Verwalter und Ärzte in ein großes Buch einzutragen…

»Wenn Sie alle Namen auswendig wissen«, sagte Dr. Laduner, »dann können Sie statt meiner Direktor werden… Gewiß…«

Und Studer schwitzte im Traume…


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