Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Brot und Salz

Auf das erste Fenster rechts vom Eingang wies Dr. Laduner und sagte:

»Das Büro des Direktors…«

Ein faustgroßes Loch in der untern Scheibe links… Glassplitter lagen auf dem Fenstersims und auf dem Beet verstreut, das die Einfahrt von der roten Mauer trennte.

»Drinnen sieht es ziemlich grausig aus. Blut am Boden, die Schreibmaschine neben dem Fenster streckt alle Tasten von sich, der Bürostuhl ist in Ohnmacht gefallen… Wir können uns die Bescherung später ansehen, es pressiert nicht, und dann können Sie ja Ihre kriminologischen Fachstudien in Ruhe betreiben…«

Warum klang nur das Witzeln so gezwungen?… Gekünstelt?… Studer blickte auf Dr. Laduner, so, als müsse er ein Bild festhalten, das im nächsten Augenblick ganz anders aussehen würde… Der graue Anzug, das leuchtende Kornblumenblau der Krawatte und die Strähne, die abstand wie der Federschmuck vom Kopfe eines Reihers… Das Lächeln – die Zähne des Oberkiefers waren breit, wohlgeformt, elfenbeingelb… Sicher rauchte Dr. Laduner viele Zigaretten…

»Kommen Sie, Studer, wir wollen nicht anwachsen. Eins will ich Ihnen sagen, bevor wir eintreten durch dieses Tor: Sie kommen zum Unbewußten zu Besuch, zum nackten Unbewußten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert. Matto!… So hat Schül den Geist des Irrsinns getauft. Poetisch, gewiß…« – Dr. Laduner betonte das Wort auf der ersten Silbe. – »Wenn Sie aus der ganzen Sache klug werden wollen, und ich habe eine dunkle Ahnung, daß sie komplizierter ist, als wir jetzt meinen, wenn Sie klug werden wollen, so werden Sie in viele Häute schlüfen müssen…« (›schlüfen‹ sprach der Arzt wie ein schriftdeutsches Wort aus)… »in meine Haut zum Beispiel, in die vieler Pfleger, diverser Patienten… ›Patienten‹ sage ich, und nicht ›Verrückte‹… Dann dämmert Ihnen vielleicht langsam das Verständnis auf für den Konnex zwischen dem Verschwinden unseres Direktors und der Flucht des Patienten Pieterlen… Es sind da Imponderabilien…«

›Imponderabilien!‹… ›Konnex!‹… und ›ge-wiß‹, auf der ersten Silbe betont. Das alles gehörte zur Persönlichkeit, die Laduner hieß.

»Übrigens, die Diskrepanz, die zwischen der realen Welt und unserem Reich besteht«, sagte Dr. Laduner und stieg langsam die Stufen empor, die zum Eingangstor führten, »wird Sie vielleicht am Anfang unsicher machen. Sie werden sich unbehaglich fühlen, wie jeder, der zuerst eine Irrenanstalt besucht. Aber dann wird sich das legen, und sie werden keinen großen Unterschied mehr sehen zwischen einem schrulligen Schreiber Ihres Amtshauses und einem wollezupfenden Katatonen auf B.«

An der Mauer rechts vom Eingangstor hing ein Barometer, dessen Quecksilbersäule im Morgenlicht rötlich schimmerte. Eine Turmuhr schlug mit saurem Klange vier Viertel und dann, kaum süßer, die Stunde: sechs Uhr. Der letzte Schlag schepperte. Studer wandte sich noch einmal um. Der Himmel hatte die Farbe jenes Weines, den man Rosé nennt; Vögel schrieen in den Tannen, die zu beiden Seiten der Auffahrt hinter eisernen Gittern wuchsen. Der schwarze Kirchturm des Dorfes Randlingen war weit weg.

Nach dem Tor, das ins Innere führte, kamen wieder Stufen. Rechts eine Art Opferstock mit einer Tafel: ›Gedenket der armen Kranken!‹ Darüber eine grüne Marmorplatte. In Goldbuchstaben waren die Donatoren der Anstalt verewigt, und man erfuhr, daß die Familie His-Iselin 5000 Franken und die Familie Bärtschl 3000 Franken gestiftet hatten. Auf der Platte war noch Platz für künftige Wohltäter.

Es roch nach Apotheke, Staub und Bodenwichse… Ein eigenartiger Geruch, der Studer tagelang verfolgen sollte.

Rechts ein Gang, links ein Gang. Beide Gänge waren an ihren Enden durch massive Holztüren verschlossen. Eine Treppe führte in die höhern Stockwerke des Mittelbaues.

»Ich gehe voraus«, sagte Laduner über die Schulter. Er nahm zwei Stufen auf einmal, und Studer folgte keuchend. Im ersten Stock hatte er Zeit, durch ein Gangfenster einen großen Hof zu überblicken, dessen Rasenflächen von Wegen gleichmäßig zerschnitten wurden. Ein niederes Gebäude kauerte in der Mitte des Hofes, und dahinter stach ein Kamin in den Himmel. Rote Backsteinmauern, die Dächer mit Schiefer gedeckt und geschmückt mit vielen Türmen und Türmchen… Da war der zweite Stock, Dr. Laduner stieß eine Glastür auf und rief: »Greti!«

Eine dunkle Stimme antwortete. Dann kam eine Frau in einem roten Schlafrock auf die beiden zu. Ihre Haare waren kurz und blond, leicht gewellt, ihr Gesicht breit, fast flach. Sie blinzelte, wie es manche Kurzsichtige tun.

»Studer, das ist meine Frau… Greti, ist der Kaffee fertig? Ich hab Hunger… Den Wachtmeister kannst du dir beim z'Morgen betrachten… Zeig ihm jetzt sein Zimmer, er wohnt bei uns, das haben wir abgemacht…« Und dann war Dr. Laduner plötzlich nicht mehr da. Eine Tür hatte ihn verschluckt.

Die Frau im roten Schlafrock hatte eine angenehm warme und weiche Hand. Sie sprach Bärndütsch, als sie Studer mit ihrer tiefen Stimme begrüßte und sich entschuldigte, daß sie nicht angezogen sei, kes Wunder by dem G'stürm, um drei sei der Mann aus dem Schlaf geschellt worden wegen der Flucht des Pieterlen; dann habe man die Blutspuren im Direktionsbüro entdeckt – und der Direktor sei nirgends zu finden gewesen – verschwunden… Es sei überhaupt eine kurze Nacht gewesen, gestern hätte man d'Sichlete g'ha (›Sichlete?‹ dachte Studer. ›Was für eine Sichlete?‹) und sei erst um halb eins ins Bett gekommen… Aber der Herr Studer werde sich gern ein wenig süübere welle, er möge so gut sein und mitkommen… Der lange Gang war mit bunten, gerillten Fliesen belegt. Hinter einer Tür schrie ein Kind, und Studer wagte schüchtern zu bemerken: ob die Frau Doktor das Kind nicht zuerst beruhigen wolle? – Das habe Zeit, und Schreien sei für Kinder eine gar gesunde Beschäftigung, es stärke die Lungen.

– Da sei das Gastzimmer. – Hier daneben das Bad. Herr Studer möge machen, nume wie daheime… Da sei Seife und ein frisches Handtuch… Sie rufe ihn dann, wenn das Morgenessen parat sei…

Studer wusch sich die Hände, ging hernach in das Gastzimmer, trat ans Fenster. Er sah auf den Hof. Männer mit weißen Schürzen trugen große Kannen, einige balancierten Tablette – wie Kellner.

Ein Ebereschenbaum an der Kante eines Rasenvierecks trug leuchtend rote Beerenbüschel und seine gefiederten Blätter waren goldgelb.

Und hinten, aus einem alleinstehenden, zweistöckigen Gebäude traten zwei Männer. Auch sie hatten weiße Schürzen vorgebunden. Sie gingen hintereinander, im Gleichschritt, und zwischen ihnen schaukelte eine schwarze Bahre, auf der ein Sarg festgebunden war. Da wandte sich Studer ab. Dunkel dachte er, wieviel Menschen wohl in solch einer Anstalt starben, und nach wie vielen Jahren und wie sie den Tod erlebten – aber da rief jene Stimme, die einen so angenehm dunklen Klang hatte:

»Herr Studer, weit-r cho z'Morge näh?«

»Ja, Frau Doktor!« – Und er komme schon.

Das Eßzimmer war gefüllt mit Morgensonne. Das kühle Licht brach durch ein großes Fenster ein, das fast bis zum Boden reichte. Eine Haube, aus bunten Wollen gelismet, war über die Kaffeekanne gestülpt. Honig, Anken, Brot, unter einer Glocke ein rotrindiger Edamerkäse… Die Wände dunkelgrün. Von der Decke hing ein Lampenschirm herab, der aussah wie eine Kleinmädchenkrinoline aus Goldbrokat…

Frau Laduner trug ein helles Leinenkleid. Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Ernscht!« rief sie. Eine ungeduldige Stimme gab Antwort – Knarren und Zurückschieben eines Stuhles…

»So«, sagte Dr. Laduner. Er saß plötzlich am Tisch. Man konnte sein Gehen und Kommen nie recht feststellen, denn er bewegte sich rasch und lautlos. »Und, Greti, wie gefällt dir der Studer?«

– Nid übel, meinte die Frau. Er habe ein weiches Herz, er könne Kinder nicht schreien hören, und sonst sei er ein gar Stiller, man höre ihn kaum. Aber sie müsse den Herrn Wachtmeister doch etwas näher betrachten.

Sie nahm aus einem Etui, das neben ihrem Teller lag, einen Zwicker, klemmte ihn auf den Nasensattel und musterte Studer mit einem kleinen Lächeln. Ihre Stirnhaut war leicht gekräuselt.

– Ja, es sei, wie sie gedacht habe, sagte sie nach einer Weile. Der Herr Studer sehe gar nicht wie ein Schroter aus und Ernst habe ganz recht gehabt, ihn mitzubringen… Und bitte, Herr Studer, servieret euch… Eier? Brot?…

»Ge-wiß«, sagte Dr. Laduner. »Ich glaube auch, daß es sehr vernünftig von mir war, den Studer anzufordern…« und zerschlug mit einem silbernen Löffelchen die Spitze eines Eies.

Studer wurden Spiegeleier auf den Teller gelegt und braune Butter darüber gegossen. Dann geschah ein merkwürdiger Zwischenfall:

Dr. Laduner sah plötzlich auf, ergriff mit der Linken den Brotkorb, mit der Rechten das facettierte Salzfäßchen, das vor seinem Teller stand, streckte beides dem Wachtmeister entgegen und sagte leise – es klang wie eine Frage:

»Brot und Salz… Wollen Sie Brot und Salz nehmen, Studer?« Dabei sah er dem Wachtmeister fest in die Augen und sein Mund hatte das Lächeln verloren.

»Ja… Gärn… Merci…« – Studer war ein wenig verwirrt. Er nahm eine der Brotschnitten, streute ein wenig Salz über die Spiegeleier auf seinem Teller… Dann nahm Dr. Laduner ein Stück Brot, ließ das weiße körnige Pulver in das aufgeschlagene Ei rinnen und murmelte dazu:

»Brot und Salz… Der Gastfreund ist unverletzlich…«

Das Maskenlächeln entstand wieder um seinen Mund, und mit veränderter Stimme sagte er:

»Ich habe Ihnen ja noch gar nichts von unserem verschwundenen Direktor erzählt. Daß er Borstli hieß, wissen Sie wohl, mit Vornamen Ulrich… Ueli, ein hübscher Name, und die Damen nannten ihn auch so…«

»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner vorwurfsvoll.

»Was hast du zu reklamieren, Greti? Das ist doch kein Werturteil. Eine schlichte, sachliche Feststellung… Jeden Abend, punkt sechs Uhr, ging der Direktor ins Dorf Randlingen zu seinem Freunde, dem Metzger und Bärenwirt Fehlbaum, einer Stütze der Bauernpartei. Dort trank er einen Dreier Wyßen, manchmal zwei, hin und wieder drei. Zweimal im Monat trank der Herr Direktor sich einen Rausch an, aber man merkte es nicht… Er trug eine große Lodenpelerine und einen breitrandigen, schwarzen Künstlerhut… Übrigens machte er gewöhnlich die Gutachten über die chronischen Alkoholiker. Da war er sicher kompetent… Das heißt, das stimmt auch nicht ganz. Er begann sie, die Gutachten nämlich, und dann wurde ihm die Sache zu langweilig, und ich durfte sie fertig schreiben. Ich tat es ganz gerne, denn ich kam sonst gut mit dem Herrn Direktor aus. Wenn ich die Sache nicht ganz ernst behandle, Studer, müssen Sie das entschuldigen. Der Herr Direktor hatte nämlich eine Vorliebe für hübsche Pflegerinnen, und die Meitschi waren sehr geschmeichelt, wenn der Herr Direktor ihnen sein Wohlgefallen ausdrückte, etwa mit einem kleinen Kneifen in die Wange oder mit einem sanften Tätscheln, das der Bewunderung für die Rundung ihrer Formen einen adäquaten Ausdruck verleihen sollte… Item, wie der Erzähler sagt, gestern um zehn Uhr wurde der Herr Direktor während unseres kleinen Festes ans Telefon gerufen, und seither ist er verschwunden. Ein kleiner Seitensprung? Vielleicht. Bedenklich wird die Sache eigentlich nur durch das Entweichen des Patienten Pieterlen, der sein neben dem Wachsaal B liegendes Zimmer verlassen hat unter Hinterlassung eines niedergeschlagenen Nachtwärters. Bohnenblust heißt der Nachtwärter, er hat eine eiergroße Beule an der Stirn, Folge seines Zusammenstoßes mit dem freiheitssüchtigen Pieterlen, und Sie werden ihn einem Kreuzverhör unterwerfen können… Wie gesagt, vergessen Sie eines nicht: Der Herr Direktor hat hübsche Wärterinnen gern gehabt… Aber Diskretion, wenn ich bitten darf, Anstaltsdirektoren sind tabu, außerdem kleine Päpste und als solche zur Unfehlbarkeit verurteilt…«

»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner, und dann mußte sie lachen. »Er redet so komisch!« entschuldigte sie sich.

Es stimmte nicht… Dr. Laduner redete gar nicht komisch. Und auch die Bemerkung der Frau war ein Täuschungsmanöver, denn sie mußte merken, daß diese witzelnde Art, zu erzählen, falsch klang. Sie war nicht dumm, die Frau Doktor, das sah man ihr an. Auch daß sie das im Dialekt sonst nicht übliche ›komisch‹ brauchte, bestätigte eigentlich den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte… Was?… Es war noch zu früh, um sich auf Kombinationen einzulassen. Vielleicht war Dr. Laduners Rat, sich erst einzuleben, doch ehrlich gemeint; man konnte belanglose Fragen stellen, die aber immerhin dazu dienen mußten, die Atmosphäre, in der man sich bewegen sollte, deutlicher zu machen.

»Ihr habt von einer ›Sichlete‹ gesprochen, Herr Doktor, was war das? Ich weiß schon, was eine Sichlete ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß in einer Anstalt…«

»Nun, wir sorgen für die Zerstreuung der Patienten. Die Anstalt besitzt einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, und wenn das Korn eingebracht worden ist (›Korn eingebracht!‹ dachte Studer, ›wie der redet!‹), so feiern wir das. Wir haben eine Kapelle, die sonst den sonntäglichen Predigten dient, an den Festabenden jedoch werden Tische aufgeschlagen, Hammen, wie sie hier sagen, und Härdöpfelsalat wird aufgestellt, die Musik spielt, und unsere Patienten tanzen miteinander, Männlein und Weiblein, die Pfleger und Pflegerinnen helfen mit, der Herr Direktor hält eine Rede, es gibt Tee, und erotische Spannungen werden abreagiert… Jawohl:… Gestern, am 1. September, haben wir also die Sichlete gefeiert… Wir Honoratioren – das heißt: der Direktor, der Herr Verwalter samt Frau, der Dr. Laduner samt Frau, der Ökonom ohne Frau und die andern Ärzte, wir saßen alle auf der Bühne – denn eine Bühne hat die Kapelle auch – und sahen uns den Tanz an. Der Patient Pieterlen war auch anwesend, er sorgte für Tanzmusik, denn er versteht es, der Handharpfe Walzer und Tangos zu entlocken. Um zehn Uhr trat der Jutzeler…«

»Wer ist der Jutzeler?« fragte Studer und zog dabei sein Notizbuch. »Ihr müßt schon entschuldigen, Herr Doktor, aber mit meinem Namensgedächtnis ist es nicht weit her, und so muß ich mir Notizen machen…«

»Ge-wiß!« sagte Dr. Laduner, warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Frau Laduner begann den Tisch abzuräumen.

»Wir haben also«, sagte Studer bedächtig und wußte ganz gut, daß er ein wenig Theater spielte, aber das schien ihm gerade günstig in diesem Augenblick. »Wir haben also als handelnde Personen:

Borstli Ulrich, Direktor – verschwunden. Pieterlen… Wie heißt der Pieterlen mit Vornamen?«

»Peter, oder Pierre, wenn Sie lieber wollen, er stammt ursprünglich aus Biel«, antwortete Dr. Laduner geduldig.

»Pieterlen Peter, Patient, entwichen…« diktierte sich Studer langsam und schrieb nach.

»Laduner Ernst, Dr. med., II. Arzt, stellvertretender Direktor!«

»Den brauch ich nicht aufzuschreiben, den kenn ich«, sagte Studer trocken und ignorierte die versteckte Bosheit. »Aber dann haben wir den Nachtwärter.«

Und Studer schrieb:

»Bohnenblust Werner, Nachtwärter auf B, Wachsaal.«

»Und«, sagte Laduner, »notieren Sie noch:

»Jutzeler Max, Abteilungspfleger, wir sagen kurz Abteiliger, auf B.«

»Was heißt der Buchstabe B?«

»B ist die Beobachtungsabteilung. Dorthin kommen alle Aufnahmen, manche Fälle lassen wir aber auch Jahre dort. Es kommt darauf an. R ist die Abteilung für ruhige Patienten, K die Abteilung für körperlich Kranke, dann sind noch die beiden unruhigen Abteilungen da: U 1 und U 2. U 2 ist der Zellenbau. Es ist leicht zu merken… Nach den Anfangsbuchstaben… Übrigens, der Abteiliger Jutzeler wird Ihnen gefallen, einer meiner tüchtigsten Leute… Was sonst an Pflegern herumläuft… Nicht einmal anständig organisieren kann man die Bande!«

›Organisieren?‹ dachte Studer. ›Was hat der alte Direktor zum Organisieren gemeint?‹ Aber er schwieg und fragte nur, während er die Spitze seines Bleistiftes über dem Notizbuch schweben ließ:

»Und was ist eigentlich mit Pieterlen?«

»Pieterlen?« wiederholte Dr. Laduner, und das Lächeln verschwand von seinem Mund. »Über Pieterlen will ich Ihnen heute abend Auskunft geben. Pieterlen… Um über Pieterlen Auskunft zu geben, braucht es Zeit. Denn Pieterlen, das war kein Direktor, das war kein Pfleger, das war kein x-beliebiger Mensch. Pieterlen, das war ein Demonstrationsobjekt…«

Es fiel Studer auf, daß Dr. Laduner die Mitvergangenheit brauchte. ›Pieterlen war…‹ So, wie man sonst nur von einem Toten spricht… Aber er schwieg. Der Arzt gab sich einen Ruck, stand auf, streckte sich und wandte sich dann zu seiner Frau:

»Ist der Chaschperli schon in die Schule?«

– Ja, er sei schon fort; er habe in der Küche gegessen.

»Der Chaschperli, das ist mein siebenjähriger Sohn, wenn Sie das noch notieren wollen, Studer«, sagte Dr. Laduner mit seinem steifen Lächeln. »Übrigens muß ich jetzt zum Rapport, Sie können mit mir hinunterkommen und das Büro ansehen… Das Direktionsbüro… Den Tatort, wenn Sie lieber wollen. Obwohl wir ja überhaupt noch nicht wissen, ob eine Tat getätigt worden ist.«

An der Gangtüre gab es noch einen Zusammenstoß. Ein junger Mann stand im Stiegenhaus und wollte unbedingt mit Dr. Laduner sprechen.

»Später, Caplaun, ich habe jetzt keine Zeit. Warten Sie im Salon. Ich werde zwischen Rapport und Visite mit Ihnen sprechen…«

Und Laduner begann die Treppe hinunterzuspringen, er nahm drei Stufen auf einmal.

Aber Studer folgte nicht. Er blieb auf dem Vorplatz stehen und starrte den Mann an, den Dr. Laduner Caplaun genannt hatte. Caplaun? Caplaun hatte doch sein alter Feind geheißen, der Oberst, der an jener Schiebung in der Bankaffäre beteiligt gewesen war, jener Bankaffäre, die den damaligen Kommissar Studer von der Stadtpolizei den Kragen gekostet hatte… Es gab nicht viele Caplaune in der Schweiz, es war ein seltener Name…

Nun, der Herr Oberst war es auf alle Fälle nicht; der Mann, der in Dr. Laduners Wohnung trat und sich in ein Zimmer schlich, so, als wisse er Bescheid, war jung… Jung, mager, blond, mit einer hohlen Brust… Bleich dazu, mit weitaufgerissenen Augen. Caplaun?…

Studer holte Dr. Laduner im Parterre ein. Der Arzt lief ungeduldig hin und her.

»Herr Doktor«, sagte Studer, »ihr habt den jungen Burschen, der zu euch hineingegangen ist, Caplaun genannt; ist er verwandt… ?«

»Mit dem Herrn Obersten, der Ihnen ein Bein gestellt hat, damals? Ja. Der Herr Oberst ist sein Vater. Und der junge Caplaun ist bei mir in Behandlung. Privatpatient. In der Analyse. Ein typischer Fall von Angstneurose. Kein Wunder, bei dem Vater! Und übrigens säuft der Herbert Caplaun. Ja, Herbert heißt er mit Vornamen. Sie können ihn ja noch in Ihr Büchlein notieren…«

Wieder überhörte Studer geflissentlich die Ironie. Er fragte mit seiner treuherzigsten Miene:

»Eine Angstneurose? Was ist das, Herr Doktor?«

»Herrgott! Ich kann doch hier kein Kolleg über Neurosenlehre lesen. Später will ich es Ihnen erklären… Dort ist das Direktionsbüro. Daneben das Ärztezimmer. Ich werde jetzt eine Stunde beschäftigt sein; wenn Sie etwas brauchen sollten, so wenden Sie sich an den Portier. Übrigens können Sie sich notieren, daß er Dreyer heißt.«

Und Studer hörte noch das Zuschlagen einer Türe.


 << zurück weiter >>