Glauser, Friedrich
Matto regiert
Glauser, Friedrich

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Zwei kleine Belastungsproben

Der Entschluß, sich Zeit zu lassen, wurde an diesem Morgen zwei Belastungsproben unterworfen. Die dritte Belastungsprobe erfolgte erst am Nachmittag.

Nachdem das Summen des Staubsaugers verstummt war, kam Frau Laduner den Wachtmeister holen. Er könne jetzt ruhig in sein Zimmer gehen und etwas abliegen. Niemand werde ihn stören.

Als Studer den Sandsack aus seinem Koffer nehmen wollte, um ihn noch einmal zu untersuchen – denn im Laufe des Morgens hatte er gedacht, ein wenig zu mikroskopieren – war der Sandsack verschwunden. Er hatte sich nicht zwischen der Wäsche verborgen – er war fort, verschwunden…

Das konnte vorkommen. Studer machte gute Miene zu bösem Spiel, legte sorgfältig den Inhalt seines Koffers auf den Tisch, fand auf dem Boden der Handtasche etwas körnigen Sand, der von nichts anderem als vom Sandsack herrühren konnte, sammelte ihn in eine Enveloppe und zeichnete diese.

Dann trat er ans Fenster und blickte über den Hof.

Der Ebereschenbaum mit den gelben Blättern… Sonst war der Hof grau und leer.

Und da hatte er die zweite Belastungsprobe zu bestehen:

Er sah zwei Männer mit weißen Schürzen, die ganz am Ende des Hofes eine Bahre trugen mit einem Sarg darauf. Er wartete, sie kamen wieder, betraten das U 1. Nach einer Weile traten sie heraus mit einem zweiten Sarg. Im Gleichschritt, ein wenig wiegend, gingen sie auf ein Gebäude zu, das am Ende des Hofes lag, in der Nähe des großen Kamins, halb verdeckt vom Küchengebäude…

Letzte Nacht einen Toten… Diese Nacht zwei… Bohnenblust hatte recht behalten… Aber, war das nicht eine Sache, die das ärztliche Gewissen anging?… Schließlich, nicht jede chirurgische Operation gelingt… Warum sollte es bei seelischen Erkrankungen nicht auch einmal auf Leben und Tod gehen?… Dr. Laduner hatte recht, was ging das einen Laien an?

Am besten, man legte sich etwas hin und dachte nach… Sollte man vielleicht nach dem Gilgen schauen? Ihn trösten?…

Studer schnellte auf…

Das Mädchen machte gerade das Eßzimmer.

»Loset, Jungfer!« rief Studer sie leise an. Und ob sie heut morgen den Pfleger Gilgen direkt ins Arbeitszimmer geführt habe? – Nein. Er habe gesagt, er habe gestern nachmittag im Zimmer des Herrn Studer etwas vergessen, und sie habe ihn hingeführt… Ob der Herr Wachtmeister etwas vermisse?

– Nei, nei… Und es sei alles in Ordnung…

Dann lag Studer wieder auf dem Bett und überlegte sich, was zu tun sei… Den rothaarigen Gilgen ein wenig über Kreuzfragen rösten?… Eine unangenehme Beschäftigung!… Immerhin: Gilgen im Arbeitszimmer – und im Arbeitszimmer war die Brieftasche des Direktors hinter den Büchern versteckt… Gilgen im Zimmer des Wachtmeisters – und der Sandsack verschwand, und nur einem Zufall war es zu verdanken, daß die erste Enveloppe – die mit dem Haarstaub – unversehrt zurückgeblieben war…

Gilgen, der jeden Sonntag mit Pieterlen spazieren ging… Was hatten die beiden auf ihren Wanderungen b'rchtet?… Aber Gilgen hatte Sorgen, Gilgen hatte eine kranke Frau in Heiligenschwendi…

Es war merkwürdig, wie berufsunlustig man in der Atmosphäre einer Heilanstalt wurde…

Vielleicht konnte man doch mikroskopieren gehen?… Später! Vielleicht konnte man den Freund vom seligen Direktor besuchen, den Metzger und Wirt zum ›Bären‹, Fehlbaum mit Namen, der jeden Abend die Einsamkeit des alten Herrn mit einem Dreier Wein gemildert hatte?… Später, später…

Der Assistent Dr. Neuville war etwas erstaunt, als gegen elf Uhr vormittags der Wachtmeister Studer den Raum betrat, der als Apotheke diente, und sich bescheiden erkundigte, ob er nicht vielleicht ein Mikroskop benützen dürfe…

– Aber natürlich! Selbstverständlich! Bitte!… Entrez!… Und als Dr. Neuville mit dem schwarzen Haar und dem Wieselgesicht auch noch festgestellt hatte, daß der Wachtmeister Studer das Französische gerade so gut beherrschte wie ein Genfer, war er von seiner neuen Bekanntschaft begeistert. Er rieb das Okular mit einem weichen Lederstückchen sauber, richtete Plättchen, sah erstaunt zu, als Studer zwei Enveloppen aus der Tasche zog und vorsichtig zwei Präparate machte. Der Wachtmeister schien mit dem Resultat zufrieden, er pfiff vier Takte des Brienzer Buurli, zündete dann umständlich eine Brissago an und fragte den Assistenten Neuville, ob er Lust habe, einen Bummel ins Dorf zu machen. Ein Apéritif könne nichts schaden.

Der Assistent Neuville war begeistert und sprach auf dem ganzen Wege. In seiner Eintönigkeit klang der Redefluß exakt wie das ewig gleiche Rauschen des Wasserfalls von Pisse-vache, obwohl dieser berühmte Wasserfall im Wallis strömte – aber Dr. Neuville ganz sicher aus Genf stammte…

Es war nicht weiter interessant, was der Assistent zu erzählen hatte. Denn daß er von einer Sonntagsvisite berichtete, die er als jüngster Assistent mit dem Direktor hatte unternehmen müssen, und daß der Direktor auf der ganzen Strecke, vom Mittelbau bis zum U 1, auf dem Hof… – Doch nein, es ließ sich wirklich nur mit den französischen Worten des Assistenten Neuville umschreiben: »Il a, comment vous dire, il a… oui… il a… eh bien, il a pété tout le temps… Figurez-vous ça?…« Nun, das war humoristisch, es gab dem Bilde des alten Herrn einen etwas grellen Farbentupf, nichts weiter…

Nichts weiter… Doch, einige Skandalgeschichten. Der jüngste Assistent schien über alle zarten und derben Beziehungen in der Anstalt auf dem laufenden zu sein. Mit wem dieser Pfleger ›ging‹ (und wenn er ›ging‹ sagte, so… ) und daß diese Pflegerin ›facile‹ sei, während bei andern ›rien à faire‹ war… Die Irma Wasem hatte früher nach Angaben des Assistenten zu den ›facile‹ gehört, zu den ›leichten Tüchern‹, aber ihre Bekanntschaft mit dem Direktor habe sie in die zweite Kategorie versetzt… Begreiflicherweise…

Aus dem Geschwätz ging eines klar hervor: Unter der Oberfläche ging allerlei vor, was in offiziellen Ansprachen besser unerwähnt blieb, in jenen festlichen Ansprachen, in denen sicher allein gedacht wurde: ›der Aufopferung, mit der unser verdientes Pflegepersonal der leidenden Menschheit diente…‹ Schwer zu rekonstruieren war solch eine Rede nicht. Bei ähnlichen Anlässen wurde den Fahndern auch erzählt, sie seien ›die Hüter der Ordnung, die Beschützer des Staates und der Gesellschaft gegen die Übergriffe des Verbrechens und der Anarchie…‹ und eine Stunde später fluchte der Redner schon wieder über die verdammten Schroter… Das war der Welt Lauf… Übrigens, ging vielleicht in Polizeikreisen nicht auch allerhand vor, von dem die Öffentlichkeit sich nichts träumen ließ?… Die Öffentlichkeit brauchte sich gar nichts träumen zu lassen, das war unnütz und schädlich…

Studer ertappte sich auf nichtsnutzigen Gedanken. Das kam davon, wenn man von einer psychiatrischen Autorität schonungsvoll und mit viel Umschweifen aufgeklärt wurde, man sei nur deshalb zur Polizei gegangen, weil man verbrecherische Instinkte abreagieren müsse… Aber, bitte! Warum war dann Dr. Laduner Psychiater geworden? Um der leidenden Menschheit zu helfen oder auch um abzureagieren? Was hatte Dr. Laduner abzureagieren? Hä?…

Gut, daß man zum Metzger und Wirt Fehlbaum kam und bei ihm in einer mit weißem Holz getäfelten Stube, gemütlich hockend hinter glattgescheuertem Tisch, einen Wermut trinken konnte.

Er war gar nicht so dick, wie er eigentlich als Metzger und Wirt hätte sein sollen, der Herr Fehlbaum. Es stellte sich heraus, daß er wirklich eine Stütze der Bauernpartei war und den Jungbauern – »dene Herrgottsdonnere!« – bei den letzten Gemeindewahlen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Er war auch schlecht auf den Dr. Laduner zu sprechen, weil der früher bei der Partei gewesen war. Und wie er das Wort ›Partei‹ aussprach! Vielleicht sei er jetzt noch dabei. Auf alle Fälle habe er gegen den Willen des Direktors die Pfleger und Pflegerinnen der Anstalt organisieren wollen… Es sei ihm zwar nicht gelungen. Die meisten hätten sich dem Staatsangestelltenverband angeschlossen, der, man ja wisse, Pfarrer und Lehrer gruppiere… ja, gruppiere… also die staatserhaltenden Elemente… Während der Pfleger Jutzeler, der wie Dr. Laduner bei der Partei sei, versucht habe, die Angestellten zu organisieren. Zu or-ga-ni-sie-ren!… Aber die meisten Pfleger seien eben religiös gesinnte Leute, die dieses Vorgehen streng verurteilt hätten… Klassenkampf! In einer staatlichen Anstalt!… Warum nicht gleich einen Pflegerrat? Hä?…

Ja, er konnte reden, der Herr Fehlbaum, seine Stimme füllte die Stube, aber sie war doch ganz gut zu ertragen… einschläfernd… beruhigend… Im Gemeinderat hatte der Wirt und Metzger sicher großen Erfolg mit seinen Reden…

– Letzthin, das heißt vor zwei Tagen, habe sich der alte Direktor noch beklagt, daß der Jutzeler die Wärter zu einem Streik habe aufreizen wollen wegen einer dunklen Geschichte: Ein Wärter habe verschiedenes gestohlen, und der Direktor habe den Wärter entlassen wollen, aber Dr. Laduner sei anderer Ansicht gewesen… Wenn da nur nicht mehr dahinter stecke, als man meine!… Der Tod des Direktors sei vielen Leuten allzu kommod gekommen, denn gerade mit der Streikgeschichte, da wäre der Dr. Laduner bös abgefahren, oha lätz!… Nicht umsonst habe des Wirtes Fehlbaum Freund, der alte Direktor, gewissermaßen seinen Schwager zum Maschinenmeister gemacht. Der habe den Eintritt in den Staatsangestelltenverband durchgedrückt! Jawohl! Gegen den Jutzeler… Und geheimnisvoll beugte sich Herr Fehlbaum vor und flüsterte: er habe gehört, die Polizei sei schon in der Anstalt, um eine Untersuchung einzuleiten… Ob Dr. Neuville nichts Näheres wisse?…

Aber Dr. Neuville gähnte, er hatte kein Interesse an Politik, er hatte auch sonst nicht gerade viel Interesse, außer vielleicht an ein wenig Klatsch… Darum hatte er es auch wohl versäumt, den Wachtmeister vorzustellen. Nun mußte Dr. Neuville aber doch plötzlich lachen, als Studer seinen Namen und Beruf nannte… Der Wirt fuhr zurück, wurde höflich… Als ihm aber noch mitgeteilt wurde, daß das die Untersuchungen führende Polizeiorgan – übrigens sei der Tod des Direktors wirklich nur ein Unglücksfall gewesen – beim Dr. Laduner wohne, zog sich die Stütze der Bauernpartei gekränkt hinter seine Bierhahnen zurück…

Darauf machte sich Studer mit dem Assistenten Neuville auf den Rückweg, um das Mittagessen nicht zu verpassen. Er fand bei sich, der Wermut habe sich bezahlt gemacht…

Der Mittagstisch war besetzter als am Morgen. Neben Frau Laduner saß der Chaschperli und erzählte eine lange Geschichte von der Schule, die ziemlich verworren klang, aber sehr lustig zu sein schien, weil er dabei mit dem Suppenlöffel herumfuchtelte und laut lachte… ›Du hast es gut!‹ dachte Studer und begann zu essen…

Ihm gegenüber saß die Magd, die Jungfer, die heute morgen mit dem Staubsauger gesummt hatte… Ja, sie saß am Tisch, sie aß nicht in der Küche, sie aß mit der Familie. Der Wachtmeister stellte es erstaunt fest. Und noch etwas fiel ihm auf: Zwei- oder dreimal während des Essens richtete Dr. Laduner das Wort an das Mädchen. »Anna«, nannte er es. Und der Ton, mit dem er das Wort aussprach, unterschied sich in nichts vom Ton, mit dem er beispielsweise »Studer« oder »Blumenstein« oder »liebes Kind« sagte. Die Gleichheit der Menschen durch die Betonung der Namen zu unterstreichen – das war eigentlich ganz schön…

Auch das Mittagessen verlief nicht ganz ohne Störung. Während alle mit dem Dessert beschäftigt waren, läutete es draußen, Anna stand auf, kam wieder und meldete, der Herr Oberst Caplaun wünsche den Herrn Doktor dringend zu sprechen… Studer wurde bleich, der Pflaumenkuchen schmeckte ihm plötzlich nicht mehr. Dr. Laduner aber schmiß seine Serviette auf den Tisch, brummte Bösartiges und verschwand durch die Türe des Nebenzimmers…

Nachdem der Chaschperli das Zimmer verlassen hatte und auch das Mädchen fort war, erkundigte sich Studer mit belegter Stimme, was dieser Besuch zu bedeuten habe. Frau Doktor möge entschuldigen, wenn er aufdringlich sei, aber er nehme Anteil… Während er sprach, dachte er fortwährend: ›Der Feind ist in der Wohnung…‹ Dabei kannte er den Herrn Oberst Caplaun kaum, in der Bankaffäre war damals alles hinter den Kulissen vor sich gegangen, Oberst Caplaun hatte sich nie gezeigt…

»Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen«, sagte Frau Laduner. »Es ist eine böse Sache, die sich mein Mann da eingebrockt hat. Er ist viel zu gut. Er will überall helfen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Den Sohn habt ihr ja gesehen, den Herbert Caplaun…«

Studer nickte schweigend. Er lauschte dem Stimmengemurmel im Nebenzimmer. Fast ununterbrochen worgelte ein tiefer Baß. Dr. Laduners Stimme war selten zu hören.

Frau Laduner spielte mit ihrem Zwicker und starrte bedrückt aufs Tischtuch.

»Mein Mann hat den Herbert in die Analyse genommen, weil der Abteiliger Jutzeler ihn darum gebeten hat… Seine Frau ist weitläufig mit der verstorbenen Frau des Obersten verwandt… Der Herbert ist Musiker… Aber er hat zuviel getrunken, nicht gut getan, der Vater hat ihn einmal wollen versorgen lassen, und nur schwer hat mein Mann ihn von der Notwendigkeit einer Kur überzeugen können. Mein Mann macht sie ganz umsonst, zum Teil auch als Übung… nid wahr?… Es sind komplizierte Sachen, derartige Analysen… Gewöhnlich regen sich die Eltern der Patienten gruusig uuf… Denn, nid wahr, alle Kindheitserlebnisse werden erzählt, und die Eltern haben ja gewöhnlich ein schlechtes Gewissen, wenn es sich darum handelt, ihre Erziehungssünden aufzudecken…«

Analyse? Kindheitserlebnisse? Es war also doch nicht ganz das, was Studer sich darunter vorgestellt hatte, beeinflußt von dem Buche, das ihm seinerzeit der Notar Münch gezeigt hatte… Der Oberst Caplaun? Was hatte der Mann, den der kantonale Polizeidirektor so gerne in Thorberg wissen wollte, was hatte der Mann in der letzten Zeit getrieben? Es war etwas durchgesickert von Viehexportgeschäften, von Volksbank… Aber niemals war der Herr Oberst zu fassen gewesen… Und jetzt saß er also im Nebenzimmer, seine Baßstimme wurde immer lauter, einige Worte waren zu verstehen: »… unverantwortliches Benehmen… Behörde…« Dann wurde die Türe aufgerissen.


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