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Es war günstig, daß Dr. Laduner an diesem Sonntag keinen Dienst hatte. So konnte er im Bett bleiben und seinem schmerzenden Kopf Ruhe gönnen. Zwar auch Studers Kopf brummte, aber die Spannung, das Interesse an der Anstalt Randlingen war stärker als die Migräne, die ihn plagte… Donnerstag, Freitag, Samstag – drei Tage… Man mußte zu einem Ende kommen. Sonst – sonst kam man auch unter die Herrschaft Mattos.
Studer dachte an den Traum der letzten Nacht, als er gegen zehn Uhr früh über die Abteilungen spazierte. Die Visite war schon vorüber, wie er erfuhr. Die baltische Dame hatte im Laufschritt die Abteilungen passiert. Studer hatte ihre Rückkehr gesehen, als sie allein, in weißwehendem Mantel, über den Hof in den Mittelbau galoppiert war…
Nun stand er im K, in der Abteilung, in der jene lagen, die nicht nur am Geiste, sondern auch am Körper krank waren. Und Studer suchte nach dem Pfleger Knuchel, dem Dirigenten der Randlinger Blasmusik, der ja auf dem K Dienst tun mußte. Er wußte nicht, warum er ihn suchte, warum er ihn zu sehen begehrte, aber es war ihm, als müsse er mit dem Mann sprechen, um mit ihm die Schuld zu teilen, die er sich zumaß am Tode des kleinen rothaarigen Gilgen…
Die Patienten, die in den Betten lagen, waren meist sehr still. Sie blickten mit großen, leeren Augen zur Decke, nur in einer Ecke lag einer, der mit zahnlosem Munde immer die gleichen Worte plapperte: »Zweihunderttausend Rinder, zweihunderttausend Schafe, zweihunderttausend Pferde, zweihunderttausend Franken…«
Die Zahl zweihunderttausend…
›Zweihunderttausend Männer und Frauen…‹ hörte Studer, und es war ihm ungemütlich zumute.
Gerade als der Wachtmeister auf den Pfleger Knuchel zutreten wollte (er erinnerte sich jetzt, daß er ihn schon auf der großen Visite gesehen hatte, es war jener gewesen, den Dr. Laduner abgekanzelt hatte), entstand Geräusch und Füßescharren draußen im Gang. Räuspern. Dann stimmten Frauenstimmen einen Choral an.
Studer trat auf den Gang. Es waren drei alte Fräulein, die vierte war jünger und trug eine Gitarre, auf der sie eine einfache Begleitung spielte…
Sie sangen mit schleppernden Stimmen vom Himmelreich und seinem Glanz und von der Sünder Seligkeit. Der Pfleger Knuchel mit dem breiten Kinn und den Wulstlippen stand in der Türe zum Krankensaal und hatte ein einfältiges Lächeln um den Mund… Vielleicht war das Lächeln auch fromm. Das jüngere Fräulein stimmte die Gitarre, präludierte. Eine frischfröhliche Weise, die sich gar sonderbar ausnahm, gesungen von den verwelkten Lippen:
»Die Sach' ist dein, Herr Jesus Christ…«
Und dann wandte sich eines der alten Fräulein an Studer:
»Die armen Kranken«, sagte sie, »man muß den armen Kranken auch eine Freude bereiten. Sie haben sonst gar keine Abwechslung!…«
In seiner Ecke hinten zählte der Kranke immer noch seine Rinder-, Pferde- und Schafherden… Er hatte dem Gesang nicht zugehört… Und die andern starrten zur Decke und sabberten auf ihre Leintücher. Die Fräulein verfügten sich eine Abteilung weiter, um andere Seelen zu erquicken…
»Das ischt werktätiges Christentum«, sagte der Pfleger Knuchel dessen Hemdkragen von einem kupfernen Klappknopf zusammengehalten wurde… »Die Ärzte mit ihrer Wissenschaft!« sagte er verächtlich. »Nichts für die Seele, nichts für den Geischt… Arbeitstherapie!… Ich habe einmal versucht, am Abend regelmäßige Bibelstunden einzuführen, aber da hat mich Dr. Laduner bös angefahren… Er habe nichts gegen die Religion, hat er gesagt, aber was hier in der Anstalt von Wichtigkeit sei, das sei, daß die Patienten lernten, der Wirklichkeit furchtlos ins Auge zu schauen…«
Der Pfleger Knuchel sprach wie ein Sektenprediger. Studer hatte einmal solch eine ›Stunde‹ besucht, aus beruflichen Gründen, ein kleiner Hochstapler hatte sich bei den Leuten angebiedert, und fünf Kantone suchten ihn wegen Diebstahls und Betrugs… Studer kannte die Worte des Liedes, er kannte seine Melodie… Harmlose Leute, die in diesen ›Stunden‹ verkehrten, stolz auf das, was sie ihr Christentum nannten – und es erlaubte ihnen, auf andere Leute selbstgerecht herabzublicken…
»Aber«, sagte Studer, »mit dem Gilgen habt ihr euch nicht gerade anständig benommen… Nicht einmal christlich…«
Ein starrer Zug trat in Knuchels Gesicht. Er erwiderte: »Das weltliche Tun muß ausgerottet werden… Ich bin nicht kommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert…« zitierte er. Und Studer fragte sich, ob man den Klatsch wirklich ein Schwert nennen könne…
Wieder veränderte sich Knuchels Gesichtsausdruck, er wurde süßlich, ein gütig sein sollendes Lächeln entstand um seinen Mund: »Wer nicht hören will, muß fühlen…« sagte er. »Nur an der Religion kann unsere Welt genesen, und ich predige den guten Geist, aber wenn sie meinen Heiland verspotten«, sagte er und runzelte die Brauen, »dann muß man sie züchtigen mit eisernen Ruten…«
Armer, kleiner Gilgen mit seiner kranken Frau und seinen Schulden und seinem ganzen traurigen Leben! Ein Mensch immerhin, der an etwas geglaubt hatte, der den Patienten Trost spendete und einem Erregten im Bade Geschichten erzählte, die der Kranke nicht verstand, aber die beruhigend wirkten…
Nicht sentimental werden! Aber es war nicht zu verhindern, daß man von Anfang an den kleinen Gilgen, der mit Fünfzig vom Schaufelaß schob, gern gemocht hatte, und daß man mitschuldig war an seinem Tod. Übrigens, warum hatte er sich zum Fenster hinausgestürzt? Wegen des Diebstahls? Chabis! Es war gar nicht erwiesen, daß der kleine Gilgen einen Diebstahl in der Verwaltung begangen hatte… Es steckte anderes dahinter… Warum hatte man den undeutlichen Eindruck, Gilgen habe jemanden decken wollen, er habe Angst gehabt, jemanden zu verraten, und sei deshalb zum Fenster hinausgesprungen?… Dieser Selbstmord wirkte wie eine heroische Geste… Furcht steckte vielleicht dahinter, man könne sich doch verraten, im Kreuzverhör… Die Leute hatten ja gewöhnlich eine panische Angst vor dem Untersuchungsrichter… Mit Recht! Mit Recht!…
Wen hatte er decken wollen? Pieterlen? Das Naheliegendste. Er war mit Pieterlen jeden Sonntag spazieren gegangen, die beiden hatten miteinander b'richtet: Gilgen hatte von seinen Schulden erzählt und Pieterlen von seiner Untat… Es war schwer, nach den Ausführungen des Dr. Laduner den Kindsmord als eine Untat zu betrachten… Immerhin… Pieterlen war zu einer kritischen Zeit verschwunden, sein Entweichen fiel mit dem Tod des Direktors zusammen, obwohl man den Beweis hatte, daß bei dem Tod des Direktors auf alle Fälle der Sandsack keine Rolle gespielt hatte… Die Präparate, die man angefertigt hatte mit Hilfe des Assistenten Neuville, bewiesen diese Auffassung. Aber irgend jemand hatte den Direktor die Eisenleiter hinuntergestoßen.
Jutzeler? Es sprach manches gegen ihn. Seine Ruhe, seine Abgeklärtheit; aber seine Stellung stand auf dem Spiel. Mit der Schwarzen Liste war nicht zu spaßen. Auch in Spitälern nicht. Sie konnten dem tüchtigsten Manne den Hals brechen… Man war noch nicht so weit, daß berufliche Tüchtigkeit wichtiger war als politische Gesinnung. Es würde lange gehen, bis man so weit war…
Aber Jutzeler hatte nicht telephonieren können. Wer in der Anstalt hatte telephoniert und weswegen?… Denn daß der Direktor auf das Telephon hin sich in jener Ecke eingefunden hatte, in jener Ecke, in der der Schrei um halb zwei erklungen war, das deckte sich dermaßen mit allen andern Untersuchungsergebnissen, daß es Zeitverschwendung gewesen wäre, nach einer andern Lösung zu suchen…
Aber wer hatte geschrieen? Der Direktor? Oder sein Angreifer?… Angreifer!… Billige Benennung. Wer konnte sagen, daß es sich um einen Angreifer gehandelt hatte?
Pieterlen hatte an der ›Sichlete‹ Handharpfe gespielt. Pieterlen war mit seiner Handharpfe verschwunden. Pieterlen hatte Grund, den Direktor abzupassen, dachte er doch, seine Entlassung werde durch die Umtriebe des Direktors vereitelt… Dagegen sprach wieder, daß Dr. Laduner in der Heizung niedergeschlagen worden war… Daß Dr. Laduner gewußt hatte, daß der Inhalt der Mappe im Ofen versteckt worden war…
Und das Portefeuille, das man hinter den Büchern in Dr. Laduners Wohnung gefunden hatte, kurz nach Gilgens Besuch? Die Handharpfe!… Studer dachte an die Melodien, die durch die Decke seines Zimmers gesickert waren; dachte an Matto, der aus dem Fenster über seinem Zimmer vorschnellte und zurück…
Und während der Pfleger Knuchel, Dirigent der Randlinger Blasmusik (wenn sie spielte, durfte nicht getanzt werden, wohlgemerkt!), vom Gottesreich und von der Erlösung sprach, denn er hielt Studers Schweigen für eine Zustimmung und hoffte, es werde ihm eine Bekehrung gelingen, dachte Studer so intensiv nach, daß seine Stirnhaut sich runzelte – auch dieses wertete der Pfleger Knuchel als Zeichen einer nachdenklichen Besinnlichkeit…
Um so erstaunter war er, als Studer plötzlich mit kurzem Gruß sich empfahl und eilig davontrabte. Sein Rücken war rund…
Der Gang über Dr. Laduners Wohnung roch nur nach Staub. Der Geruch von Apotheke und Bodenwichse fehlte vollständig. Links eine Reihe Zimmer. Dienstbotenzimmer… Einige Türen waren verschlossen, die letzte nur angelehnt…
Als Studer sie aufstieß, war das erste, was er sah, eine Handharpfe. Dann: auf alten Koffern und Kisten lagen fettige Papiere, Brotresten… jemand mußte ziemlich lange in dem Raum gehaust haben… Wann hatte er ihn verlassen? Studer betastete die Brotresten… Sie waren nicht sehr hart… Gestern?
Und ihm fiel wieder der Einbruchsversuch in der Verwaltung ein, nachdem der Pfleger Gilgen Selbstmord begangen hatte, weil er Angst gehabt hatte, nicht schweigen zu können…
Aber außer dem Pfleger Gilgen war doch noch jemand anders zum Portier gekommen, um etwas zu kaufen… Nicht Stumpen, nicht Rauchzeug… Schokolade!
Die Irma Wasem… Auch sie war in den kritischen fünf Minuten im Mittelbau gewesen… Man mußte die Irma Wasem fragen, ob sie etwas gesehen hatte…
Aber als der Wachtmeister in Laduners Arbeitszimmer die Nummer des Frauen-B eingestellt hatte und sich nach der Pflegerin Irma Wasem erkundigte, hieß es, sie habe heute ihren freien Sonntag und werde vor Abend kaum zurückkommen… Und als die Stimme sich weiter erkundigte, wer denn am Apparat sei, hängte Studer kurzerhand ein… Sie hatten ein schönes Leben, die Jungfern, ständig frei…
Der Nachmittag wurde lang… Dr. Laduner war aufgestanden; mit verbundenem Kopf saß er auf dem Ruhebett im Arbeitszimmer, trank literweise schwarzen Kaffee und begründete diese Beschäftigung mit seinem Kopfweh. Er trug eine dicke Bandage um die Stirn und den Hinterkopf.
Aber auf alle Fragen Studers, wer ihn niedergeschlagen habe, warum er in die Heizung gegangen sei – schwieg er. Es war kein angenehmes Schweigen, sogar sein Maskenlächeln hatte der Arzt verloren. Er sah müde aus und verzagt.
Wie gesagt, der Nachmittag schlich sich hin, ein richtiger Sonntagnachmittag mit Handharpfenspiel, das diesmal unzweifelhaft von den Abteilungen herübertönte – mit Gähnen, Unlust…
Es war Zeit, daß der Fall beendigt wurde…
Gegen halb sieben empfahl sich Studer und bat Frau Laduner, sie möge nicht mit dem Nachtessen auf ihn warten. Er könne wirklich nicht genau sagen, wann er zurückkehren werde. Vor der Loge des Portiers hielt Studer an, trat ein und fragte nach Gilgens Haus… Die Lage wurde ihm beschrieben… Es lag etwas außerhalb des Dorfes, ganz in der Nähe des Flusses, der etwa anderthalb Kilometer von Randlingen vorbeifloß.
Und wieder die Allee mit den grünsauren Äpfeln. Die Abenddämmerung war grau… Es war wohl eine Art Instinkt, die den Wachtmeister zu Gilgens verschuldetem Hüüsli führte… Es lag am Ende einer Reihe gleichgebauter Einfamilienhäuser mit spitzzulaufenden Dächern. Alle schienen leerzustehen, nur aus dem Schornstein des einen quoll grauer Rauch in die abendliche Dämmerung. Studer sah sich die Namen an den Briefkasten an. Endlich:
»Gilgen-Furrer, Pfleger.«
Er strich ums Häuschen, prüfte die Klinken aller Türen… Verschlossen… Im Garten wuchsen Astern, die Sonnenwirbel waren noch klein. Sauber war der Garten, kein Unkraut… Studer beschloß, zu warten. Er hätte in die Anstalt zurückgehen können, um sich noch einmal nach Irma Wasem zu erkundigen, er unterließ es. Ge-wiß, wie Dr. Laduner sagte, das Hüüsli schien unbewohnt… Schien!… An was spürte man, daß doch jemand darinnen hauste? An einem Vorhang, der sich kaum bewegte?…
Der Wachtmeister verließ den Garten, ging ein Stück die Straße entlang, die an der Siedlung vorbeilief. Da war ein Busch, groß genug, um sich dahinter zu verstecken. Noch ein Blick ringsum, Studer trat hinter den Busch, setzte sich… Es konnte ein langes Warten werden…
Die Abenddämmerung verging, die Nacht stieg auf. Am Himmel, der flaschengrün war wie Mattos Fingernägel, trat zuerst ein Stern hervor, dessen Schein blau war wie die Lampe im Wachsaal B. Und dann kam die Dunkelheit. Sie war schwarz. Kein Mond leuchtete.
Schritte… Harte Schritte, wie von Stöckelschuhen. Studer lugte vorsichtig hinter dem Busch hervor. Eine Frau kam das Sträßlein entlang, sie wandte sich oft um, als ob sie Angst habe, verfolgt zu werden. Und vor Gilgens Haus blieb sie stehen, sah nach rechts, sah nach links… Dann betrat sie den Garten. Sie klopfte an der Haustüre, wartete. Langsam öffnete sich die Türe. In der sehr stillen Nacht hörte Studer deutlich die Worte der Frau:
»Ich glaub, du kannst ein wenig mit mir spazierengehen. Es redet sich besser draußen. Und ich hab' dir etwas zum Essen mitgebracht.«
Eine männliche Stimme antwortete: »Wie d'meinscht!«
Das Paar trat aus dem Garten, ging die Straße entlang in der Richtung zum Fluß. Studer ließ es vorausgehen, dann folgte er vorsichtig. Die Vorsicht wäre unnötig gewesen, denn die Nacht war dunkel. Er sah das Paar nur, weil die Frau ein weißes Kleid trug… Der Fluß rauschte. Am Horizont ging der Mond auf; er sah aus wie eine riesige Orangenscheibe. Sein Licht war sanft.