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Von dem breiten Gang, der, wie alle Gänge der Anstalt, nach Bodenwichse und Staub roch, zweigte rechts ein schmälerer ab, und dann kam die Küche… Sie war hellblau gestrichen, und eigentlich war es gar keine Küche, sondern ein großer Raum zum Abwaschen. Ein Becken in einer Ecke mit den Hahnen für kaltes und warmes Wasser darüber, zwei riesige Fenster, die rechtwinklig zueinander standen: das eine blickte gegen das Mittelgebäude, das andere auf einen niederen Bau in der Mitte des Hofes, an dessen Ende ein Kamin aufragte.
»Hallo, Schül!« sagte der rothaarige Pfleger Gilgen, dem Studer übergeben worden war.
Ein Mann in einem blauen Schurz, der damit beschäftigt war, Suppenteller auf ein großes Tablett zu schichten, wandte sich um. Sein Gesicht war eine einzige Narbe. Die Nase war eingedrückt, statt der Nasenlöcher sah man die Enden eines silbernen Röhrchens. Und der Mund sah aus, wie eine schlecht vernarbte Wunde.
»Schül«, sagte der Pfleger Gilgen und litzte die Ärmel seines blauen Hemdes noch weiter zurück, »ich bring' dir da Besuch. Der Dr. Laduner läßt dich grüßen und du sollst dem Wachtmeister ein wenig Gesellschaft leisten.«
Der Mann mit dem Narbengesicht wischte sich die Hände an seiner blauen Schürze ab. Dann reichte er Studer die Hand – auch seine Hand war mit Narben bedeckt. Und seine Augen traten vor, blutunterlaufen.
Er sprach ein geziertes Schriftdeutsch, das eigentlich wenig Dialektfärbung hatte und mehr ans Französische anklang, das war nicht weiter verwunderlich, da Schül, wie er erzählte, zwölf Jahre in der Fremdenlegion gedient und mit dem Régiment de marche unter Oberst Rollet im Weltkrieg mitgefochten hatte.
Er erzählte – und kleine Speichelbläschen bildeten sich in seinen Mundwinkeln – , daß er großer Kriegsverwundeter sei (›un grand blessé de guerre!‹). Eine Handgranate – Dr. Laduner habe das wohl erzählt? – Ja, also eine Handgranate sei vor ihm geplatzt und habe ihm nicht nur das Gesicht, nein, auch die Hände und den Körper aufgerissen. Er zog ein Hosenbein hoch, um sein Schienbein zu zeigen, und Studer konnte ihn gerade noch zurückhalten, als er sein Hemd über den Kopf ziehen wollte, um seinen Oberkörper zu entblößen.
»So macht man es den Helden!« klagte Schül. »Gut und Blut gibt man für die Freiheit eines Landes, ich trage die Ehrenlegion und die Médaille militaire, und volle Pension beziehe ich auch. – Und wer steckt meine Pension ein?« Schül beugte sich zu Studers Ohr, und der Wachtmeister mußte sich zusammennehmen, um nicht mit dem Kopf zurückzuzucken. »Wer steckt die Pension ein? Der Direktor! Aber dieser verfluchte Suppenhändler wird seinen Lohn bekommen, Matto wird es ihm eintränken, nicht ungestraft ist es erlaubt, den Schützling eines hohen Geistes zu quälen…«
Er packte Studer plötzlich am Ärmel und zog ihn zum Fenster, das nach dem Mittelbau blickte.
»Sehen Sie dort oben?« flüsterte Schül. »Das Dachzimmerfenster? Gerade über der Wohnung des Doktor Laduner? Sehen Sie, wie er herausschnellt und zurück, heraus und zurück… Das ist er, Matto. Er hat mir ein Lied in die Feder diktiert, ich will es Ihnen zeigen, ich werde Ihnen eine Abschrift verfertigen, damit Sie ein Andenken haben an ihn, an Matto!«
Ungemütlich, durchaus ungemütlich! Denn das Dachfenster, auf das Schül gezeigt hatte, es lag gerade über dem Gastzimmer, das Frau Laduner dem Wachtmeister angewiesen hatte… es gehörte wahrhaftig nicht viel Orientierungsgabe dazu, dies festzustellen.
Während Schül das Gedicht suchte in einem Schaft, der mit Papieren überfüllt war, plapperte er weiter.
Letzte Nacht habe Matto geschrieen, wieder geschrieen und gerufen, lang und klagend. Diesmal in der Ecke, zwischen dem K und dem R. Und er hörte einen Augenblick mit seinem Suchen auf, um dem Wachtmeister die Stelle zu zeigen.
Von dem Fenster, das gegen den Mittelbau ging, konnte man sich gut orientieren. Der Mittelbau zuerst, mit den Wohnungen der Ärzte – am Nachmittag sollte Studer feststellen, daß des alten Direktors Wohnung direkt unter der Wohnung Laduners lag –, dann das R, die ruhige Abteilung, und senkrecht dazu, aber im gleichen Häusertrakt wie das B, in dem man sich befand, das K, die Abteilung der körperlich Kranken. Und in jener Ecke dort, wo eine Tür ins Sous-sol ging – in jener Ecke hatte jemand geschrieen. Während Schül wieder in seinen Papieren kramte, fragte Studer den rothaarigen Pfleger Gilgen, ob man die Erzählung glauben könne… Gilgen zuckte ein wenig unbehaglich mit den Achseln.
– Schül beobachte sonst ganz gut, meinte er, und es sei nicht unmöglich, daß er etwas gehört habe, denn er schlafe in einem Zimmer, das gerade über dieser Küche liege, und da das Fenster außen Gitter habe, stehe es die Nacht durch offen.
»Schül«, fragte Studer, »um wieviel Uhr hat du den Schrei gehört?«
»Halb zwei«, sagte Schül trocken. Gleich nachher habe die Turmuhr geschlagen. Und hier sei das Gedicht…
Es war kein Gedicht im gebräuchlichen Sinne des Wortes, es war vielmehr in rhythmischer Prosa abgefaßt, und es lautete, geschrieben in der sorgfältigen Schrift des Patienten Schül:
»Manchmal, wenn der Föhn den Nebel spinnt zu weichen Fäden, sitzt er an meinem Bett und flüstert und erzählt. Lang sind die grünen gläsernen Nägel an seinen Fingern und sie schimmern, fährt er mit seinen Händen durch die Luft… Manchmal auch sitzt er oben auf dem Glockenturm, und dann wirft er Fäden aus, bunte Fäden, weit hinaus ins Land über die Dörfer und Städte und die Häuser, die einsam stehen am Hügelhang… Weit reicht seine Kraft und seine Herrlichkeit, und niemand entgeht ihm. Er winkt und wirft seine bunten Papiergirlanden, und der Krieg flattert auf wie ein blauer Adler, er schleudert einen roten Ball, und die Revolution lodert zum Himmel und platzt. Ich aber habe den Mord in der Taubenschlucht begangen, wenigstens sagen es die Polizisten, aber ich weiß nichts davon; mein Blut floß auf die Schlachtfelder der Argonnen, aber nun bin ich eingesperrt, und hätte ich meinen Freund nicht, Matto, den Großen, der die Welt regiert, ich wäre einsam und könnte verrecken. Er aber ist gütig, und mit seinen gläsernen Nägeln fährt er in die Hirne meiner Peiniger, und wenn sie stöhnen im Schlaf, so lacht er…«
»Was ist das, Schül, mit dem Mord in der Taubenschlucht?« fragte Studer, denn das war ein Satz, der in sein Wissensgebiet schlug. Das andere klang ganz schön, besonders der Gedanke, daß Matto den Krieg ausbrechen ließ, aber es schien ihm auch reichlich überspannt.
Es war Gilgen, der Wärter mit den nach hinten gelitzten Hemdsärmeln, der antwortete: Das sei so eine Idee vom guten Schül. Schül habe nie einer Fliege etwas zuleide getan. Und dann bat er den Wachtmeister, mitzukommen in den Aufenthaltsraum, es sei 11 Uhr, er müsse einen Kollegen ablösen, um halb zwölf sei Mittagessen, ob der Wachtmeister zusehen wolle bei einem Jaß oder gar mithelfen?
Studer schüttelte Schüls narbenbedeckte Hand, dankte für das schöne Gedicht, das ihm für den Nachmittag versprochen wurde, und folgte seinem Begleiter.
Als sie die Schwelle überschritten, rief ihm Schül noch mit heiserer Stimme nach:
»Ihr werdet Matto noch kennenlernen… Pieterlen hat er befreit. Und den Direktor geholt…«
– Wennschon! dachte Studer. Unangenehm war vielleicht nur, daß der Geist Matto nach Schüls Behauptung sein Hauptquartier gerade in jener Dachkammer aufgeschlagen hatte, die über dem Gastzimmer lag…
Der breite Gang war an seinem einen Ende durch eine Glastür abgeschlossen, und man trat durch sie in den Aufenthaltsraum, der in dunklem Orange gestrichen war: die Tische, die Stühle, die Bänke mit den hohen Lehnen, auf denen Gitterkasten saßen, geschmückt mit Topfpflanzen – grünem Spargel –, und dazwischen standen Vasen mit Dahlien. Trotzdem zwei Fenster offen standen – und auch sie blickten aufs U 1 –, war dicker Rauch im Zimmer. Und während Studer sich umblickte, dachte er über seinen Begleiter nach, den Pfleger Gilgen, der in dieser Anstalt der erste Mensch war, zu dem er eine restlose Zuneigung fühlte…
Er hätte den Grund nicht angeben können. Gilgen hatte eine große Glatze, die bis zur Mitte des Schädels reichte, nachher waren die roten Haare ganz kurz gestutzt und schimmerten wie Kupfer, das man soeben mit Sigolin poliert hat. Der Hals war braun. Und über dem ganzen Gesicht waren Laubflecken verstreut, es war freundlich, dieses Gesicht, trotz der Falten in den Augenwinkeln und auf der Stirn, von denen man annehmen mußte, daß sie durch Sorgen entstanden waren. Aber es ging eine angenehme Wärme von dem kleinen Manne aus, der dem Wachtmeister gerade bis zur Schulter reichte, und diese Wärme schienen auch die im Aufenthaltsraum versammelten Patienten zu spüren, denn sie begrüßten den Pfleger mit »Grüeß di!« und »Ah, der Gilgen!«. Übrigens war auch die Haut seiner nackten Unterarme mit Laubflecken übersät…
– Sie wollten einen Jaß machen, sagte Gilgen, das da sei ein Bekannter, der etwas zu verrichten habe in der Anstalt, und er werde gern ein Spiel mithelfen. Wer wolle kommen?
Es meldeten sich zwei. Ein langer, magerer Mann, dem man den Süffel von weitem ansah, und ein kleines Männchen mit einem unsymmetrischen Gesicht, das nachher äußerst pedantisch, langsam und ärgerlich spielte.
Von der Jaßpartie, die Studer mit Gilgen und Partner spielte, ist nur eines zu erwähnen: Gilgen schob einmal mit fünfzig vom Schaufelaß, dem Herznell und drei Kreuz. Studer mußte Herz Trumpf machen, er konnte Schaufeln bringen, und so gab es einen Match. Aber er fand bei sich, daß Gilgen reichlich frech spiele, was aber seine Zuneigung zu dem kleinen rothaarigen Pfleger noch erhöhte.
Dann erklärte Gilgen, er müsse nun essen gehen. Er könne den Wachtmeister noch ins Parterre hinunter begleiten, zum Weyrauch, um die Schlüssel zu holen. Ein anderer Pfleger kam ablösen. Bevor Gilgen die Tür zum Stiegenhaus öffnete, kam Schül mit einem Tablett, schwerbeladen mit Suppentellern, vorübergehastet.
»Den, wenn ich erwisch, der die Welt erschaffen hat!« rief er den beiden zu und lachte dazu mit seinem zahnlosen, vernarbten Mund.
Und lachend stiegen die beiden ins Parterre hinab, von wo noch einmal eine Treppe tiefer ging. »Ins Sous-sol«, erklärte Gilgen. Wieder ein Gang. An dem Ende, das gegen das U ging, war man mit Umbauen beschäftigt, und Gilgen erklärte, dorthin komme auch ein Aufenthaltsraum mit bunten Möbeln. Dr. Laduner habe es durchgedrückt, daß die Anstalt ein wenig erneuert werde, er habe auch die Maler- und Maurergruppen zusammengestellt, gewöhnlich ein Dutzend Patienten mit einem Pfleger, der früher den Beruf ausgeübt habe.
»Und ihr mochtet Pieterlen gern?« fragte Studer plötzlich. Gilgen blieb stehen, spielte mit seinem Schlüsselbund.
»Gället, Wachtmeischter«, sagte er, und er machte ein Gesicht dazu wie eine ängstliche Maus. »Ihr laßt dem Pieterlen noch Zeit… Ihr verhaftet ihn nicht gleich…«
– Verhaften? Wer hat etwas von Verhaften gesagt? Pieterlen war noch nicht einmal ausgeschrieben… Einzig, daß er zu gleicher Zeit mit dem Direktor verschwunden sei, habe dazu Anlaß gegeben, daß Dr. Laduner ihn, den Wachtmeister, von der Behörde angefordert habe… Nei, nei! Kei Red vo Verhafte… Aber was denn der Gilgen vom Pieterlen wisse?
»Nüt, gar nüt!« sagte Gilgen und steckte den Schlüsselbund wieder ein… Aber der Pieterlen tue ihm leid. Er sei ein guter Tropf gewesen, viel zu gut…
Sie waren mitten im Gang stehengeblieben. Wie oben, zweigte auch hier ein schmales Gänglein ab. Daraus drang Stimmengewirr, eine Stimme sonderte sich ab und sagte:
»Wenn jetzt noch die Schroter auf den Abteilungen herumfuhrwerken, dann kann's ja gut werden…«
Es war die Stimme des Abteiligers Jutzeler, und sie tönte lange nicht so respektvoll wie vor knapp einer Stunde. Gilgen führte den Wachtmeister schnell weiter, hin zu einer Tür und klopfte. Der Herr Oberpfleger Weyrauch speiste in seinem Zimmer zu Mittag. Er saß da, zufrieden mit sich und der Welt, und der Speck, den er verspeist hatte, hatte einen glänzenden Rand um seinen Mund zurückgelassen…
»Eh, die Schlüssel für de Herr Wachtmeischter? Selbschtverständlich! Eksküseeeh.« Stand auf, suchte herum. »Ja, der Herr Dr. Laduner hätt mr Order gä… Sooo, Herr Wachtmeischter… Hier…«
Auf dem Schreibtisch, nahe beim Fenster, zu dem Studer dem Herrn Weyrauch gefolgt war, lagen Hefte über Nacktkultur.
»Hähähä«, lachte der Herr Oberpfleger. »Öppis fürs Gmüet! Gället, Herr Wachtmeischter?« und stieß Studer sanft in die Seite.
Mira! Fürs Gemüt! Studer hatte eigentlich nichts dagegen. Aber er konnte es nicht verhindern, daß ihm der Oberpfleger Weyrauch eher unsympathisch war. Vielleicht war das auch nur ein Vorurteil.
Draußen wartete geduldig der rothaarige Gilgen. Er folgte dem Wachtmeister bis zur Eingangstür des B, die auf den Hof führte, öffnete sie und blieb dann stehen. Er hatte die Hände in den Schürzenlatz gesteckt, und dort ruhten sie wie in einem dünnen, weißen Muff.
»Apropos«, sagte Studer. »Was hat der Schül für eine Krankheit? Hängt die mit seiner Verwundung zusammen?«
Gilgen schüttelte den Kopf wie ein ganz Gescheiter. Nein, die Geisteskrankheit hänge nicht mit der Verwundung zusammen.
– Was es dann sei?
»Eine Schützovrenie…«
»Was?«
»Eine Schützovrenie«, sagte Gilgen laut und deutlich. Sie hätten das im Kurs gelernt.
Und der Pieterlen, was habe der gehabt?
»Eine Schützovrenie…« wiederholte Gilgen.
– Aber die letzte Zeit habe er doch nicht gesponnen, der Pieterlen. – Nein, er sei ganz normal gewesen. – Wie lange er denn in der Anstalt sei?
»Vier Jahre…«
»Warum denn so lange?« wunderte sich Studer.
Vorher sei er drei Jahre im Zuchthaus gesessen, und dort sei er ›überekelt‹.
Warum im Zuchthaus?
»Kindsmord!« flüsterte Gilgen. Und Studer solle den Dr. Laduner fragen, der werde ihm Auskunft geben… Pause. –
Dann fragte Studer abschließend:
»Und was habt ihr vom Direktor gehalten?«
»Vom Herrn Direktor Borstli? Das war ein alter Bock…« So sprach der rothaarige Pfleger Gilgen, der mit Fünfzig vom Schaufelaß geschoben hatte. Und dann ließ er den Wachtmeister auf dem Hofe stehen…