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– Nun also beginnen wir den Unterricht. Ich bin lernbegierig. Wie wünschen Sie mich? Ehrlich oder unehrlich, gesprächich oder schweigsam, keck oder zahm? – Sie haben nur zu befehlen –
So trat Edmund am andern Tage Viktorinen entgegen, heute frisch und heiter, sprühend und lebendig. Sie lachte ihm verwundert, aber wohlwollend entgegen und erwiderte: Nichts von alle dem befehle ich. Sie sollen sich geben wie Sie sind, nicht wie Sie sich verstellen.
– Wie ich bin? Mein gnädiges Fräulein, da verlangen Sie zu viel, und Sie scheinen nicht zu wissen, was Sie damit verlangen. Ich kann mich nicht geben, wie ich bin.
– Soll ich Sie belächeln oder betrauern? Warum können Sie sich nicht geben, wie Sie sind?
– Erstens für mich ist es zu gefährlich.
– Wenn Sie noch sagen wollten: für andere gefährlich so könnte ich wenigstens einen Sinn darin finden, antwortete sie, mit einem Lächeln die Augen niederschlagend.
– Und Sie werden auch so den Sinn darin verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich, um mein Selbst zu vertreten, zehnmal mein Leben auf das Spiel gesetzt und auch verspielt habe, daß meine ganze Existenz in dieser Welt nur möglich ist, weil ich dieß mein Ich verleugne –
– Sie sprechen in Räthseln.
– Die ich Sie bitten muß nicht lösen zu wollen, – Sie könnten mein Bischen Recht zu sein, das ich mir erlogen habe, dadurch gefährden.
Es trat in dem Gespräch, das in so leichtem, kecken Ton begonnen, eine Pause ernsten Schweigens ein. Viktorine richtete einen forschenden Blick auf den Mann, der ihr einen tieferen dunklen Hintergrund seines Daseins ahnen ließ, und als das Schweigen, das er mit Absicht nicht unterbrach, ihr drückend wurde, fragte sie, um das Gespräch weiter zu führen: Sie sagten: erstens, – nun und zweitens?
– Zweitens also würde ich, wenn ich stets mich geben wollte, wie ich bin, denke und fühle, wahrscheinlicher Weise lächerlich erscheinen.
– Was doch nur an Ihnen liegen könnte.
– Oder an der Art, wie man mich nehmen würde. Doch abgesehen davon, auf welcher Seite das bessere Recht läge, kurz es ist mir passirt und kann, wie ich glaube, mir noch immer wieder passiren, daß mein Fühlen und Wollen einen gewaltsamen Aufschwung, eine entschiedene unabweisbare Richtung gewinnt, nach einem einzigen Ziele, vor dem ich kein Hinderniß, keine Abirrung anerkennen kann, – mit einem Worte, daß ich für irgend etwas eine Leidenschaft erfasse. Und eine Leidenschaft, darf ich in dieser höflichen verständigen Gesellschaft davon etwas merken lassen? Was kann ich mit alle dem, was ich als Recht des Herzens, als Begeisterung des Charakters wie eine Unendlichkeit empfinde, gegenüber dieser Welt des Einmaleins? Angenommen, mein gnädiges Fräulein, ein solcher edler Enthusiasmus, eine solche Begeisterung erfaßte mich z. B. – nur »angenommen« sage ich – für Sie, – wovon ich selbst die Schuld nicht tragen würde! Wenn ich von dieser Empfindung meines innersten Ich nur eine Ahnung laut werden lassen wollte, ich, der mit Ihrem Hause in gar keiner Geschäftsverbindung steht, der das Einmaleins fast ganz vergessen, der weder zählen noch zahlen kann, – sagen Sie selbst, wäre das nicht im höchsten Grade lächerlich, ja, so lächerlich, daß wir über den Gedanken daran schon uns todtlachen müßten?
Der Baron lachte laut; die Dame stimmte auf's Unbefangenste darein und sagte dann eben so unbefangen: dieses Zweitens verstehe ich schon eher. Haben Sie auch noch ein Drittens?
– Allerdings. Endlich meine ich, sein Ich frei kund zu geben, ist für die Andern unbequem. Wieder ein Beispiel! Und wieder, wenn Sie es gestatten, will ich mich auf Sie beziehen. Abgesehen von aller Leidenschaft und dergleichen romantischem Unsinne, angenommen, und das ist in der That wahr, ich hege das lebhafteste Interesse, die innigste Theilnahme für Ihre Persönlichkeit, mein Fräulein, – wollte ich Ihnen das nun offen an den Tag legen, wollte ich bei unserem Gesellschaftston, bei dem man nur höflich gegen einander ist, es wagen, galant gegen Sie zu sein, z. B. nur einmal die Gnade in Anspruch nehmen, Ihre Hand küssen zu dürfen, – ein Handkuß, mein Gott, was ist das Großes für einen aufopferungsfähigen Verehrer von meiner Galanterie, das müßte für unsereins das tägliche Brodt sein, um das wir zum Vater bitten: gieb es uns! – und doch, wenn ich es thäte, welcher Skandal! Sie müßten als wohlerzogene Tochter gebildeter Eltern augenblicklich mit bebendem Organ und niedergeschlagenen Augen in mädchenhafter Befangenheit erwidern: Ach, sprechen Sie mit meiner Mutter! Und Ihre Frau Mama, – mein Gott, Sie und ich sind nun einmal doch für einander eine Unmöglichkeit! Und so – welche Unbequemlichkeiten, um der Ehrlichkeit willen! Nein, gnädiges Fräulein, wir wollen nicht aufrichtig sein gegen einander, – nicht wahr?
– Sie scheinen mir wieder etwas pedantisch. Gott im Himmel, das Leben muß so ja entsetzlich langweilig sein. –
– Von meinem Leben wissen Sie ja noch nichts; dieß war nur die Weltanschauung.
– Nun und Ihre Lebensweise?
– Es ist die, bei aller Unehrlichkeit noch möglichst ehrlich, bei aller Pedanterie möglichst galant, bei aller Prosa möglichst romantisch zu sein.
– Nur will das »Möglichst« vielleicht nicht viel sagen!
– Wer weiß, wenn man sich auf Galanterie und Romantik nur in der rechten Weise verstände! Es kommt mir vor, als müßte auch bei aller strengen Form der feinen Sitte in der Zurückhaltung des Individuellen, in dem Verschleiern der wahren Natur eine eigenthümliche, eine moderne Schönheit und Romantik des Lebens sich finden lassen, freilich nicht zu vereinigen mit dem plastischen Heraustreten eines abgeschlossenen Charakters, noch mit der phantastischen Freiheit einer ursprünglichen Natur, aber beruhend in dem Reize des Geheimnisses, der Grazie der Verstellung, der Phantasie der List, durch die alle Galanterie und auch Neigung, und das ganze innere Fühlen und Denken des wahren Menschen sich kund thun können. Ich meine, das müßte eine Poesie des Salons sein, die alle Schönheit der Plastik und Romantik aufwiegen könnte.
– Die ich mir wohl möchte gefallen lassen –
– Die aber eines voraussetzt, – Einverständniß.
– Einverständniß? – vielleicht ein unausgesprochenes.
– Aber doch ein Einverständniß, sagte er mit bedeutsamer Betonung und schwieg.
Viktorine hatte das Wort mit einem übermüthig theilnahmsvollen Lächeln angehört, aber um es nicht zu bedeutungsvoll werden zu lassen, mußte sie schnell darüber hinwegkommen. Und nun schwieg der Baron und sie gerieth in Verlegenheit; sie wollte irgend Etwas reden, aber sie war verwirrt und konnte kein Wort finden; sie hatte einmal und noch einmal den Anschein dazu, aber da sie nichts zu sagen wußte, schien sie zu säufzen. Sie wurde über und über roth, und da erst erbarmte der kecke Schüler sich ihrer und sprach – vom Wetter, vom Datum, vom Theater, von Bällen; als er aber in einem Tone, der die nichtssagende Geschwätzigkeit der gewöhnlichen Unterhaltung karikirte, endlich frug: Wie denken Sie aber über Göthe und Schiller? – da lachte sie, seinen Scherz merkend, auf die herzliche Weise, mit der sie lachen konnte; er lachte mit und als sie beide aus vollem Halse lachten, sagte er: Was unser Einverständniß betrifft, so scheinen wir uns, weil wir uns nicht aussprechen können, dafür auszulachen!
Und in der That, als ein anderer Gast frug, warum sie lachten, schüttelte Viktorine, die Frage ablehnend, den Kopf, und fühlte jetzt erst, welch holdes Einverständniß, welch Geständniß eines gemeinsamen geheimnißvollen Verständnisses in diesem Lachen lag.
So führten denn die beiden fast Tag für Tag ihren Umgang und ihre Unterhaltung fort, in scherzhafter Sinnigkeit und doch gefesselt durch den ernsteren Zauber des Geheimnisses mit allem poetischen Reize des Salonlebens, unter Leuten von nur oberflächlichem Interesse hinter den Formen des gesellschaftlichen Zwanges ein eignes Leben führend, reich an Wahrheit und Spiel, gleich weit sich ausdehnend in die Tiefe und auf die Oberflächlichkeit der Unterhaltung. Und wenn auch Viktorine noch immer schnippisch, eine engere Gemeinsamkeit mit Edmund nicht eingestehen wollte, so gab sie ihm doch einst zu: Romantik und Galanterie, die liebe ich nicht; aber die Diplomatie, mit der Sie beide geltend zu machen wissen, amüsirt mich.
– So bin ich Ihnen also nur eine Art Possenreißer?
– Sie wissen ja nicht, wie hoch ich Amüsement und Unterhaltung anschlage.
– Darf ich es wissen?
– Hoch genug. Langweiligkeit bei einem Manne halte ich für Charakterschwäche, und Unterhaltungsgabe für eine Tugend.
– Also fast umgekehrt wie jene Leute, die nur das Laster interessant, die Tugend ennuyant finden. Aber wenn Sie schon das Amüsement eine Tugend nennen, was bleibt Ihnen da für das wahre Glück und die Kraft, es zu erobern?
– Mein Gott, Glück ist dauerndes Amüsement.
– Und nichts anderes? Dann haben Sie es in seiner höchsten Bedeutung noch nicht kennen und nicht vermissen gelernt. Das Glück ist kein Amüsement, denn es kann ein Leiden sein, und es ist keine Unterhaltung, denn es ist eben etwas Unsagbares.
– Ja, davon verstehe ich allerdings nicht viel; mir ist noch nichts Unsagbares in der Welt vorgekommen.
– Dann wären Sie entweder – erlauben Sie diese Alternative! – nicht tief genug, um Unbegreifliches zu ahnen, oder zu tief, so daß Sie von Andern nur Geahntes sogleich begreifen könnten.
– Nun, machen wir eine Probe! Sagen Sie mir etwas Unsagbares.
– Das läßt sich eben nicht sagen, nur erleben.
– Aber vielleicht läßt sich sagen, was es nicht ist?
– Das wohl –
– So geht es Ihnen, wie den Theologen, die auch von Gott nur sagen können, was er nicht sein soll.
– Vielleicht, weil das Glück eben etwas Göttliches, etwas Unendliches und Unbegreifliches ist, – womit ich schon sage, was es nicht ist: nicht durch den Verstand zu begreifen, zu bestimmen und zu beherrschen. Es ist nicht zu berechnen, weil es von allen Zahlen und Allem, was durch Zahlen bestimmt werden kann, unabhängig ist, unabhängig von Reichthum, Wohlleben, Gesellschaft – –
– O, ich verstehe, das Glück liegt nicht in den Dingen, sondern in unseren Gedanken darüber, und also ist Glück nur, bei allen Verhältnissen sich die glücklichsten Gedanken zu machen, denn, wenn nicht die Verhältnisse, die Gedanken hat doch Jeder in seiner Gewalt.
– – Die Gedanken über Alles vielleicht, nur nicht über sein Glück. Nur eben deshalb auch ist das Glück nicht zu berechnen, weil es in unseren Gedanken liegt und doch nicht durch unseren Willen zu beherrschen ist. Der Gedanke des Glückes ist ein Traum, ein Fiebertraum vielleicht der Phantasie, des Blutes, der Nerven, und doch mächtiger als alle Wirklichkeit; – ist eine Kaprice, ein Eigensinn, durch keine Vernunft zu erklären, nicht zu rechtfertigen durch einen Grund des Verstandes, und doch oft für den geprüftesten Charakter, den männlichsten Willen nicht zu überwinden. Das ist es eben, wonach zu streben eine Leidenschaft gehört, und eine Leidenschaft, – Sie wissen, ich sprach Ihnen schon einmal davon – das ist eine Lächerlichkeit in unserer wohlgebildeten Gesellschaft. A – bah! Zum Teufel mit Glück und Leidenschaft und allen Gedanken daran! Es lebe das Einmaleins, das nicht Eins macht, sondern Tausende und immer Tausende!
Der Baron, wie innerlichst unwillig, stand auf, trat vor ein Gemälde, das über ihm hing, trommelte mit den Fingern auf der Stuhllehne, und, während er das Bild zu betrachten schien, ließ er seine Blicke auf Viktorinen ruhen, und an ihrer Befangenheit sich weiden. Sie hatte sich tief zu ihrer Tapisserie-Arbeit niedergebeugt, und nur das Zucken der feingezeichneten Augenwimpern verrieth ihm eine innere Bewegung.
Edmund, noch immer leichtfertig, wollte über den beabsichtigten und erreichten Eindruck seiner Rede sich freuen, aber es überkam ihn dabei doch ein Schauer von Andacht und frommer Scheu, als er dachte, daß er der erste Mann sei, der in das Heiligthum dieser jungfräulichen Seele einen sehnsüchtig angstvoll fragenden Gedanken eingedrängt. Denn daß das Zeichen dieser Empfindung unverfälscht war, bezweifelte er nicht; er wußte, daß sie kokettiren konnte, aber sie war unverdorben genug, nur mit ihrer übermüthigen Laune und dem kleinen Fuße, nicht mit Seele und Empfindsamkeit zu kokettiren.
– Aber Viktorine, was ist Dir? frug in diesem Augenblick die Frau vom Hause vom anderen Tische herüber. Du bist ja ganz still und blaß. Bist Du unwohl?
– Ich denke über die Farben meiner Stickerei nach, sagte sie, ohne Ueberraschung zu verrathen, und ohne in ihrer Stellung gestört zu sein, nur mit einem nachdenklichen Blicke aufschauend, und um ihr wahres Nachdenken auch Edmund nicht zu verrathen fuhr sie gegen ihn fort: Was meinen Sie, Herr Baron, wie soll ich diese Aster wählen?
Ein andermal, es war Freitag, an einem der regelmäßigen Gesellschaftsabende, hatte man wieder lebende Bilder arrangirt, dießmal mit vorhergegangener Vorbereitung nach des Professors Vorschlag und Anleitung. Man hatte die Kräfte und Fähigkeiten der Personen, die dem Hause bekannt waren, auf's Beste zu benutzen gewußt, indem man Jedem Gelegenheit zu glänzen gegeben, und der Gesammtheit einen harmonischen Genuß bereitet hatte. An dieser Person gab es eine Figur, an jener ein schönes Angesicht, an einer dritten eine kostbare Toilette ins beste Licht zu setzen. Ein geistreicher Freund des Hauses war so liebenswürdig gewesen, zu jedem der Bilder erklärende Verse zu dichten, während ein andrer junger Mann sein deklamatorisches Pathos, das sich im geselligen Gespräche fast komisch ausnahm, passend anwenden konnte, diese Poesien vor jedem Bild vorzutragen.
Der junge Cicerone, mit einem Haupte, gelockt und balsamirt wie ein Apoll, nichtssagend wie eine Wachsfigur, trat vor und verkündete zuerst:
Ich half ihr über Steg und Zaun
Die Milch nach Hause bringen,
Und gegen Ungethüm und Graun
Ein Schäferliedchen singen,
Denn dunkel war's im Buchenhain –
Das wunderschöne Mägdelein
Soll mein Herzliebchen werden.
Die Mutter schalt: »So spät bei Nacht?« –
Da stand sie, ach! so schämig!
Sacht, sprach ich, gute Mutter, sacht!
Das Töchterlein, das nehm' ich.
Nur freundlich, Mutter, willigt ein, –
Das wundersüße Mägdelein
Muß mein Herzliebchen werden.
Der Vorhang theilte sich, man sah das Innere einer Bauerhütte, nur halb, scheinbar von einem bescheidnen Lämpchen erhellt, und darin drei Personen, das alte Mütterchen, drohend die Finger erheben, den derben Bauerburschen mit den Mienen der Keckheit und Demuth zugleich, und zwischen beiden, den Milchkrug in der Hand, das wundersüße Mägdelein, – eine knospenhafte Gestalt und ein lieblich kindlicher Kopf, dessen Mienen auf die Angabe des Malers sich vortrefflich anstellig hatten finden lassen für verschämt, schelmisches Lächeln, daß die ganze Gesellschaft die bisher diese schüchterne Naivetät kaum bemerkt hatte, in Entzücken setzte.
Das zweite Tableau war die Darstellung eines bekannten Gemäldes »La Siesta«. Der Deklamator trug dazu die Verse vor:
Es senket in der Mittagssonne Glühen
Die Blume ihren Kelch der Erde zu, –
In unserm Bild seht Ihr drei Rosen blühn,
Im Dämmerschlaf der süßen Mittagsruh.
Die Eine hat das Aug' schon fest geschlossen,
Indeß die Andere schelmisch hingeblickt,
Und, von dem eignen Blüthenduft umflossen,
Die Dritte melancholisch eingenickt.
Nun süße Ruhe! Der Schlummer sei Euch labend,
Und ewig fern des Lebens Last und Mühn!
Den Tag verträumt! Erwacht Ihr, ist es Abend,
Wo alle Kelche wonniger erblühn.
Und der aufgehende Vorhang bot dem Blick drei vollkommene Schönheiten in den reizendsten Stellungen dar.
Herr Dagobert aber, der hinter der Scene neben Baron Edmund die Tableaux betrachtete, sagte dazu: O Eitelkeit der Welt! Drei reizende Geschöpfe! Wahre Almanach-Gesichter! – Tanzen excellent, unterhalten sich comme il faut, sind reißend in Mode und werden es bleiben, so lange sie wollen und man in Gesellschaften wahnsinnig tanzt und sinnlos sich unterhält, – aber wird je eine von ihnen einen Mann fesseln? Reich ist keine; die Schönheit geben sie auf allen Bällen preis, Geist haben sie nicht preis zu geben, – also man sieht sie, tanzt, lacht mit ihnen und – voilà tout! Aber was wird jene kleine aus dem vorigen Bilde, das wundersüße Mägdelein, für ein Schicksal finden? Auch sie ist unbemittelt, aus einem eben so ehrwürdigen als äußerlich eingeschränkten Hause; aber ein Schatz von einem weiblichen Wesen, sanft und frisch, innig und heiter, bescheiden und treu, wirthschaftlich, verständig, thätig, aber mit alle dem weiß sie nicht zu kokettiren, das kann sie im Ballsaal oder Theezimmer nicht kund geben; so blieb sie unbeachtet. Der scharfblickende Professor hat sie hervorgeholt, ihr schelmisch schüchternes Lächeln hat Furore gemacht, man wird die kleine Naivetät von heute ab aufsuchen und zum Tanze fordern, aber – armes Kind, gelehrt bist Du nicht – danke Gott dafür! – aber auch nicht läppisch geschwätzig, und von den Leuten, die sich Männer nennen, wird kaum Einer oder der Andere eine schüchterne Aeußerung Deines zarten Wesens Dir zu entlocken wissen. In vierzehn Tagen wirst Du für langweilig, für bornirt gelten; kein Mensch wird mit Dir tanzen wollen, und, zurückgesetzt, an Dir selbst verzagt, wirst Du nach ein paar unglücklichen Bällen die Nacht verweinen, dann wirst Du in diese Gesellschaft nicht mehr gehen und fromm und ergeben Dein Leben hinbringen, die alternden Eltern zu pflegen, und, wenn Du selbst gealtert, in eines Bruders oder Vetters Familie die gute alte Tante der kleinen Kinder abzugeben. Du sonderbare Welt, wo der äußere Reiz von Schönheit und Leben und auch der innere des Gemüthes nicht mehr in Rechnung kommen, wodurch soll da die Persönlichkeit sich noch geltend machen, die es durch die todten Schätze des blinden Schicksals nicht kann? Und doch giebt es noch immer Individualitäten, die durch sich selbst über die Verhältnisse zu triumphiren vermögen, – da sehen Sie sie nun heute wieder, diese Viktoria-Viktorine –
Doch weiter hörte Edmund den reflektirenden Poeten nicht an, da er mit Viktorine zur Darstellung des für sie beide bestimmten Bildes in die Scene treten mußte. Sie trugen das Hofkostüm aus der Zeit Ludwig XIV., er den Galarock mit seiner anmuthigen und zugleich legèren Würde, das Haupt von freien natürlichen Locken umgeben, sie das Frauenkleid mit den pedantischen Reifen und den pikant aufgenommenen Röcken, die Haare majestätisch hoch hinaufgekämmt, so daß ihre Züge bedeutender, herrischer und koketter erschienen. Sie setzten sich einander gegenüber an einen Tisch mit Schachbrett, und die Verse, die der junge Gentleman deklamirte, lauteten:
Die folgende Scene aus erstem Turnier,
Wo schlagend wird der Sieger geschlagen.
Hat, wie in dem lebenden Bilde hier,
Privatim sich jüngst zugetragen.
Die Jungfrau zieht mit dem Ritter Schach,
Sie wollen nur im Spiele sich messen!
Die Jungfrau attaquirte zu schwach,
Und hatte im Hochmuth die Deckung vergessen,
Schach! bietet der Jüngling – die Dame hat
Nur einen Zug noch, der Jüngling wird siegen;
Im Geiste seht Ihr das drohende Matt!
Schon in der Jungfrau verlegenen Zügen.
Die Situation war in den Mienen der beiden Darstellenden vortrefflich ausgeprägt: der Baron, mit keckem, leise höhnendem Ausdrucke will eben den entscheidenden Zug thun, während Viktorine aus ihrem stolzen Antlitz schmollend dazu zuschaut.
Das Tableau sprach an, aber ohne lebhafte Handlung konnte es keinen lebhaften Beifall erwerben. Der Vorhang rauschte zusammen und Viktorine machte ihrem Gegner eine Miene der Selbstironie, die sagen sollte: wir haben auf unsern Succeß uns nichts einzubilden. Sie blieben sitzen, da jedes Bild zweimal gezeigt wurde; und indem sie das Aufgehen des Vorhanges erwarteten, hörten sie vor demselben von neuem den Deklamator sein Organ bewähren. Viktorine wollte aufspringen, indem sie ausrief: Mein Gott, es kommt wohl schon ein neues Bild und wir sind die ganze Sache glücklich los – da sah sie mit Staunen und Entsetzen Edmund zu ihren Füßen liegen, ihre Hand ergreifend, mit Küssen bedeckend und bebend ihren Namen flüsternd. Sie weiß nicht, ist es Traum, ist es Scherz, ist es Verwegenheit; ihr erster Blick ist, zu sehen, ob sie beobachtet ist; da trifft sie des Malers spöttisch lächelnde Miene. Sie springt auf, aber Edmund hält sie bei der Hand; indem schellt es, der Vorhang geht auseinander und die beiden in der unwillkürlich improvisirten Gruppe bieten sich den Augen des Publikums dar. Viktorine faßt schnell den Entschluß, Edmunds Beispiel folgend, in ihrer Stellung unbeweglich zu verharren und scheinbar in einem beabsichtigten Bilde die überraschenden Blicke der Gesellschaft auszuhalten. Aber bei aller plötzlichen Fassung konnte sie doch nicht hindern, daß von dem doppelten Schreck ihr Busen sanft wallte, ihre Hände zitterten und ihre Augen unstät den Blicke Edmunds sowohl, als der zuschauenden Gäste auszuweichen suchten.
War es die mehr dramatische Situation, oder war es der Reiz, der Viktorinens innere Bewegung, die man in dem Ausdruck der Mienen für Kunst nehmen mochte, – dieses Tableau gewann den lautesten Beifall, und, als der Vorhang geschlossen, wartete man gespannt auf die nochmalige Vorführung desselben.
Indeß hatte Viktorine hinter der Scene eine neue Ueberraschung zu erleben. In der innerlichsten Empörung, mit blitzendem Auge, bebend vor Erregtheit, ganz von dem Gefühle ihres Zornes hingerissen, war sie, schön wie eine Göttin in ihrem Affekte, vor Edmund mit den bittersten Vorwürfen hingetreten, und mit den Mienen lächelnder Ueberraschung antwortete er ihr: Aber mein Gott, was ist Ihnen? Es war ja vortrefflich gelungen. Sie hören, man verlangt die Wiederholung. Lassen wir nicht zu lange warten.
– Ich bin durchaus nicht gewohnt, mit mir spielen und spotten zu lassen! rief Viktorine in gesteigerter Entrüstung, aber ihre Worte und ihre Blicke prallten ab von dem unerschütterlich sich unwissend stellenden Gleichmuthe des Barons, und sie zitterte krampfhaft vor Zorn nicht wissend, wie sie ihre Ehre wahren solle, als der Professor hinzutrat und mit einem Lobe, das Bild sei zwar etwas frei ausgeführt, aber von vortrefflichem Effekt gewesen, sie mit seinem hinterlistigen Lächeln frug, worüber sie sich ereifere.
Viktorine wurde jetzt zweifelnd in ihrer Empörung, und frug mit unsicherem Tone, ob er denn nicht die Verlegenheit gesehen, die der Baron ihr bereitet, und die sie um durch entschlossene Verstellung vor dem Publikum bemäntelt habe.
– Verlegenheit? Verstellung? frug der Professor wie erstaunt. Aber das sollte ja so sein. Wußten Sie denn nicht, das zweite Tableau sollte die Stellung verändert bieten, und Alles war vortrefflich ausgeführt!
Viktorine konnte sich kaum vor Staunen fassen, und sah die Absichtlichkeit der ihr bereiteten Ueberraschung und ein Komplott des Hofmalers und des Barons erst ein, als der erstere ihr die beiden Bilder, zwei neue englische Kupferstiche, vorhielt, von denen sie das eine nur kannte und das zweite unwillkürlich durch Edmunds berechnete Keckheit bestürzt nachgeahmt hatte. Als wolle er sie völlig beruhigen, zeigte Edmund ihr alsdann noch die Verse, die während der Pause auf ihr improvisirtes Tableau vorbereitet hätten. Sie hießen:
Das Spiel ist aus. Wer etwa nicht hat
Das Endziel vermocht zu ergründen.
Der wird im zweiten lebenden Blatt
Des Bildes die Lösung jetzt finden.
Die Dame ist matt; doch des Ritters Genie
Gewann das Spiel auf dem Brette vergebens:
Verlor sie auch immer die Schachpartie,
Sie hat doch gewonnen die andre des Lebens.
Viktorine konnte nun nichts, als aus ihrer Aufregung in das schelmischste Lächeln übergehen, das ihr zu Gebote stand und mit drohendem Finger dem Baron sagen: Unsere Schachpartie – noch habe ich sie nicht verloren. Sie thaten einen kühnen Zug, – das muß ich Ihnen zugestehen, kühn und berechnet, – nein, es ist zum Staunen! Aber warten Sie, ich werde es erwidern und mich rächen.
– Sich rächen wollen Sie? erwiderte der Baron, wofür sich rächen? Ich dachte Ihnen eine Ueberraschung, eine Unterhaltung mit dem Scherze zu bereiten. Sie sagten mir ja, Sie liebten die hinterlistige Romantik in unserer Gesellschaft, die diplomatischen Galanterien, – nun und zu Füßen zu stürzen, die Hand zu küssen, war das keine Galanterie? – und so offen vor den Augen des Publikums, nicht nur ohne Anstoß, sogar zu allgemeiner Bewunderung, war das nicht diplomatisch? Ich war Ihnen eine solche kleine Freude auch schuldig –
– Und wofür?
– Als Lehrgeld. Sie haben ja versprochen, mich in die Lehre zu nehmen, sagte er mit leichtem Lächeln.
– Spotten Sie nicht, erwiderte sie, – ich Sie in die Lehre nehmen? Ich hätte Sie nur kennen sollen. O, Sie sind der Meister, der Meister in der Kunst, sich zu verstellen und uns arme Mädchen zu düpiren. Aber ich werde mich von jetzt ab vor Ihnen in Acht nehmen, und – zu seiner Zeit auch Ihnen Schach bieten.
– Aber ich sagte es ja, Viktorine, so sprach er ernster, eindringlicher, zum erstenmale sie beim Namen nennend, so daß sie in der Erregtheit, in der sie noch lebte, sich stark zusammennahm, – ich sagte es ja, daß ich schon gegen Sie verloren. Und mich wollen Sie den Meister nennen? O wenn Sie wüßten, was ich schon jetzt bei Ihnen gelernt und gefunden!
– Nun und was ist das? frug sie, noch einmal nach ihm sich umsehend, seinen kecken, schwärmerischen Blick ertragend; und als er in ihrem Anblick sich weidend, mit ernster Geberde schwieg, wurde sie ungeduldig: Nun, schnell, sagen Sie es, ich muß in die Garderobe!
– Mich selbst, ein neues Sein, ein zweites, herrliches, reiches Leben! sprach er mit bebender Stimme; aber er konnte den Eindruck dieser Worte in ihren Mienen nicht mehr lesen, denn plötzlich war sie seinen Blicken entschwunden.
Sie sollte in dem letzten Tableau »die Brautschmückung« die Darstellung der Braut übernehmen. Man flüsterte in der Gesellschaft von einer allgemeinen Ueberraschung, die dabei stattfinden solle, und hörte mit Spannung den Vortrag des Deklamators:
In der zarten Jungfrauen Mitte
Steht die Holde, liebumfangen.
Und das reinste Bild der Sitte
Strahlt von sanfterglühten Wangen.
Um das Haupt den lichten Schleier,
Den ihr wob die Hand der Liebe,
Daß die Zukunft, wie die Feier
Dieser Stunde, heilig bliebe,
Schöner als mit Myrthenzweigen
Kann sich keine Fürstin schmücken,
Wenn die Engel niedersteigen
Um den Ehrenkranz zu pflücken.
Das Publikum wurde darauf durch eine eben so prächtige als geschmackvolle Darstellung eines bekannten Kupferstiches überrascht, Viktorine selbst aber noch mehr durch ein Geschenk, das im Momente des aufgehenden Vorhanges ihr als Brautschmuck nicht nur für das Bild, sondern für ihre eigne Zukunft im Namen ihres Vetters zu ihrem heutigen zwanzigsten Geburtstage übergeben wurde.
Sie hatte sich den Tag über wohl gewundert, ja sogar etwas verletzt gefühlt, daß dieses ihres Festes so ganz und gar keine Erwähnung gethan wurde, aber mit ihrer gewohnten Charakterstärke war sie leicht darüber hinweggekommen; doch jetzt das prachtvolle, von Gold und Brillanten blitzende Geschenk und die herbeieilenden Freunde und Freundinnen, die ihr zum Wiegenfeste und zu dem wunderschönen Geschenke gratulirten, – da war ihr das Alles mit einemmale so gleichgültig, ja lästig und unbequem, sie fühlte eine Trägheit der Nerven, eine Abspannung des Geistes, daß sie wie betäubt war und die Glückwünsche kaum anhören, und noch weniger annehmen oder abweisen konnte. Sie fühlte sich völlig unfähig zu denken, und es war ihr, als müsse sie sich niederlegen, um eine schwere Fieberkrankheit zu bestehen. Aber da begegnete sie einem eisig strengen, durchdringend forschenden Blicke der Mutter, und sie raffte sich auf, küßte dieser die Hände, zum erstenmale nicht mit der aufrichtigen Dankbarkeit, mit der sie es gewohnt war; und dann ging sie den übrigen Freunden und Freundinnen mit der heiter übermüthigen Miene entgegen, aber noch nie war es ihr so schwer geworden, artig zu sein, und noch niemals als heute hatte sie empfunden, wie diese Artigkeit des Gesellschaftstones, nichtssagend sei und falsch sein könne. Als Edmund mit seinem finstersten Blicke, aber Höflichkeit lächelnden Lippen an sie herantrat, da konnte sie mit diesen unwahren Mienen nicht ihm entgegenkommen, und sie wandte sich ab zu dem ersten besten Herren, dessen glückwünschende Schmeicheleien mit unendlicher Heiterkeit und Freundlichkeit aufzunehmen.
Dagobert hatte dem Baron bereits ins Ohr geflüstert: Der Schmuck kommt vom Geschäftsfreund in Petersburg, der nächstens um Viktorinens Hand abschließen wird! –
Nach länger als drei Wochen erst, in den ersten Tagen des neuen Jahres, sah sie Edmund wieder.
Viktorine hatte ihn anfangs täglich erwartet; dann resignirte sie, aber nicht, wie sie sonst gewohnt war, in selbstbewußtem Uebermuthe, sondern in sanfter Melancholie, die sie bisher noch nicht gekannt hatte, und dem Gedanken an das kostbare Geburtstagsgeschenk zuschrieb, für das zu danken ihr schwer werden mußte. Sie hätte gerade jetzt so gern den Baron in ihrer Nähe gehabt; sie glaubte jetzt erst sein schwankendes, unklares Sonderlingswesen verstehen zu lernen, als sie selbst eine Erschütterung ihrer ewig gleichen Sicherheit erfahren hatte, und nun er nicht kam, sah auch sie den Grund darin in einer tief beleidigenden Zurücksetzung, und nahm sich vor, wenn sie ihn je wieder sähe, mit ihrer trotzigsten Kälte ihm zu begegnen.
Und nun er endlich, endlich kam, als sie ihn schon ganz vergessen zu haben meinte, war ihre erste hastige Frage: Mein Gott, sind Sie krank? – so bleich war seine Farbe, so verstört das Auge, so scharf seine Züge, was alle Sorgsamkeit der Toilette und alle ungezwungene Haltung nicht verdecken konnten.
– O Jammerschade, daß ich nicht krank sein kann!
– Lästern Sie nicht im Spott.
– Ich spreche im Ernst. Krank sein denke ich mir als eine Wohlthat; das ist doch etwas, was man sein muß, was – ähnlich wie eine Leidenschaft – den Menschen packt und hält, er mag nun wollen oder nicht, – und etwas sein zu müssen, auch gegen seinen Willen und mit den peinlichsten Schmerzen, muß doch eine Wonne sein dagegen, Alles sein zu können, aber nichts in Wahrheit zu sein, und zu Jedem durch den Willen sich zu zwingen.
– Was waren Sie denn die Zeit über, wo wir Sie nicht gesehen, wenn Sie nicht krank waren?
– Menschenfeind, sagte Edmund lachend, zur Abwechslung drei Wochen lang Menschenfeind?
Viktorine lachte auf und mitlachend fuhr er fort: Das muß man sein können und bisweilen sein, um nicht zu trivial zu werden, um sich auch einmal einen Gefallen zu thun, und endlich, um die Mitmenschen nicht zu unausstehlich zu finden.
– Keine Schmeichelei für uns, die wir doch auch Ihre Mitmenschen sind. Aber ich kann es Ihnen verzeihen, Sie besitzen gerade so viel von einer gewissen Unausstehlichkeit, als ein Mann haben muß, um liebenswürdig zu sein.
– Ich verstehe diese Impertinenz gut genug, um mich für die Schmeichelei darin zu bedanken. Aber in allem Ernste, mein verehrtes Fräulein, Sie dürfen mir keinen bösen Willen, kein irgend verletzendes Motiv unterlegen, daß ich Sie so lange vernachlässigt, oder vielmehr von der Gunst, Ihre Gegenwart zu genießen, keinen Gebrauch gemacht habe. Ich bin bisweilen wirklich fast krank; es ist mir in der That oft nicht möglich unter Menschen zu gehen, ich mag wollen oder nicht. Lachen Sie mich aus, aber ich kann so thatunfähig, so ohne allen entschiedenen Willen sein, daß ich über die Zweifel, ob ich gern gesehen werde oder nicht, über die Wahl, ob ich diese oder jene Toilette, helle oder dunkle Handschuhe tragen soll, nicht zu dem Entschlusse einen Besuch zu machen hinauskomme. Dieses ewige Spüren nach der Wahrheit in den Anderen und das Berechnen des eignen Benehmens ist mir zu lästig und lohnt sich am Ende nicht. Es können doch nur kleine Zwecke sein, die man durch die kleinen Mittel dieser Welt erreichen kann, und wenn man das versucht, und das daran gesetzt was ich –! O, ich habe mein Sein, mein Leben, mein Interesse, mein wahres Selbst eingebüßt. Sie sehen hier vor sich den ziemlich gebildeten jungen Mann, täglich in frischen Handschuhen, täglich mit neuen Redensarten, höflich, munter, zuweilen geistreich, in Fällen sogar eine eigne Meinung habend, sonst täglich seine Amtspflichten auf dem Büreau abarbeitend, – glauben Sie, daß ich das bin? Nein, das ist eine Maschine, die ich des Morgens aufziehe und die des Abends abgelaufen ist, die ich nicht bin, mit der ich nur mitgehen muß. So schleppe ich mich lügnerisch durch diese lügnerischen Fratzen, weil ich nicht weiß, wo ich sonst mit mir bleiben soll. Aber – was spreche ich da in Wahnsinn, den Sie doch nicht begreifen! – und beneidenswerth sind, nicht begreifen zu können.
– Und doch verstehe ich schon Etwas von Ihrer Stimmung. Ich habe gehört von modernen Titanen in Politik und Kunst; sind Sie vielleicht ein Epigone derselben im Salon? Dann möchte ich Ihnen zurufen mit dem Dichter des Egmont: Lerne nur das Glück ergreifen, und das Glück ist immer da, – aber freilich von einer Maschine, und namentlich für die Arbeiten in den Minister-Büreaus, wird das Glück sich kaum greifen lassen.
– Und doch können Sie mir das zurufen, denn nicht immer bin ich der selbstlose Leichnam; in Ihrer Nähe bin ich mein eigen Ich, mit aller meiner Menschenwürde, mit meinem wahrsten Hassen und Lieben. Wenn ich es durch meine diplomatischen Galanterien Ihnen noch nicht zu verstehen gab, so lassen Sie es mich Ihnen jetzt in aller biederen Ehrlichkeit gestehen, daß ich vom ersten Augenblick, wo ich Sie sah, gefesselt war von jedem Ihrer Worte, jeder Miene, jedem Blick. Jeder Zug Ihres Wesens ist Freude, Lust und Leben, jeder Blick eine Herausforderung, eine Beleidigung und ein Reiz zugleich, jede Miene voll Ausdruck und Geist, jedes Wort feinste Beobachtung, sicherster Takt. Um dieses stete Geöffnetsein Ihrer Sinne, dieses ewig Sprudelnde Ihres Geistes und Willens, wie mußte ich Sie darum bewundern und beneiden. Nach all' den großen, unendlichen Interessen und Ideen, die seit dem Erwachen meines Bewußtseins mein einziges Leben waren, um die ich banquerott, banquerott bis auf Nichts geworden war, lehrten Sie mich die Freude und Theilnahme an all' den schönen Einzelheiten des Lebens, jetzt an einem geschmackvollen Bilde, dann an einer anmuthigen Blume und an einem sonderbaren Menschen, an liebenswürdigen Kindern und harmlosen Spielen. Sie lehrten mich vor allem die Grazie und den Humor, mit denen, fern von ausgelassener Frivolität und Satire, eine reiche Persönlichkeit auch alltägliche Verhältnisse ausschmücken kann; Sie lehrten mich im Wirklichen und Vorhandenen ein neues reizendes Leben kennen, – aber auch nur kennen. Denn ob ich es je mir erwerben werde –
Edmund sprach die letzten Worte mit zitternder Stimme; es war ihm eine Erleichterung und doch auch eine Pein, daß er unterbrochen wurde, indem Herr Löwe mit einem Zeitungsblatte an Viktorine herantrat mit den Worten: Erschrick nicht, Viktorine; wir hatten es ja halb vorausgesehen, und, worauf wir uns längst gefaßt machen konnten, das ist geschehen – –
– Was, um des Himmels willen, was? Mit Leo –? so rief Viktorine erbleichend aus. Herr Löwe nickte ein trauervolles Ja, und Edmund, der es merkte, daß Familienverhältnisse zu besprechen waren, entfernte sich.
Die vorgeahnte Nachricht war die, daß Leo Sternberg, der an einem der Mai-Aufstände Theil genommen hatte und in Folge dessen flüchtig war, soeben zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilt und so dem Vaterlande auf immer entfremdet war.
Das Märtyrerthum nicht jeder Zeit ist ein verklärendes; oft genug wird von der öffentlichen Meinung für gescheiterte Unternehmungen, auch wenn sie aus idealem Interesse hervorgingen, der Spruch: die Weltgeschichte ist das Weltgericht, in Anwendung gebracht, um zu urtheilen: Was vergeht, ist nicht werth, daß es besteht.
Soll man glauben, daß da, wo eine unglückliche Katastrophe von der allgemeinen Stimmung durch Glorie gekrönt wird, die Idee fortlebt, daß sie aber da, wo der mißlungene Versuch verleugnet wird, für immer ihre Lebensunfähigkeit bewiesen hat?
Oder sind vielleicht auch die Märtyrer nur da verklärt worden, wo sie bloß zur Anerkennung ihrer Gedanken aufforderten, aber stets dort verketzert, wo sie Theilnahme an ihren Thaten und ihrer Aufopferung verlangten?
Jedenfalls wird ein unbefangener und allgerechter Geschichtsbetrachter in der unbedingten Anerkennung, die den nur mit dem Worte ausgerüsteten Vorkämpfern der revolutionären Ideen fast allgemein gezollt wurde, nicht weniger Uebereiltes und Ungerechtfertigtes finden, als in der grausamen Verdammung, die die Verfechter derselben Ideen mit dem gezückten Schwerte jetzt ernten.
Auch Edmund von Brandt, schon seit so lange aus dem Zusammenhange mit den Parteien des Vaterlandes gerissen, hatte diesem Umschwunge mehr der Stimmungen als der Ideen sich nicht ganz entziehen können. Wenn er die demokratische Bewegung in Deutschland, soweit er sie gefördert hatte, bis zum November 1848, vor sich selbst in ihren Grundprincipien rechtfertigen konnte, so glaubte er das nicht durchweg in ihren ferneren Unternehmungen zu vermögen, die er nicht aus der Anschauung, sondern nur vom Hörensagen, und zwar aus den Darstellungen feindlicher Berichterstatter oder des empörend unparteiischen Oskar oder endlich aus den in der Voruntersuchung »aktenmäßig« festgestellten Ergebnissen des Sternberg'schen und anderer Processe kennen gelernt hatte. In dieser Stimmung war ihm die Anklageführung gegen Sternberg und seine Mitschuldigen in die Hand gegeben. Die Gesinnungslosigkeit und Verderbtheit des öffentlichen Charakters, die er jetzt in den Zuständen der Restauration verachten gelernt, hatte er auch auf jene Ausläufe der Revolution übertragen, und während er in seiner Anklageschrift jene Unternehmung nach äußerlichen juristischen Principien als hochverrätherisch darstellen mußte, konnte er nicht umhin, innerlich sie als leichtsinnig, frivol und zum Theil selbst als aus dem gemeinsten Egoismus hervorgegangen, zu verdammen. Auch er war von der epidemischen Reaktion in der allgemeinen Richtung der Geister angesteckt, und, wenn er die Verurtheilung jener desperaten Revolutionsversuche nie aus eigenem Interesse angeregt hätte, so war er doch schon so weit, in der Betheiligung daran keine Beschwerung seines Gewissens zu fühlen.
Edmund würde anders gefühlt haben, hätte er den Verurtheilten, den er für einen moralisch banquerotten Abenteurer hielt, als Viktorinens Bruder erkannt, und es gewußt, wie sie, die er als das edelste menschliche Wesen anstaunte, in aller Hingebung des Herzens und vollster Uebereinstimmung der Ueberzeugung mit demselben innerlichst verbunden war, – ja, hätte er nur das Urtheil Herrn Löwe's über den politischen Verbrecher gehört.
Herr Löwe, nicht oberflächlicher Liberaler, sondern Politiker von Studium, Charakter und Profession, gehörte zu der geringen Anzahl der Staatsmänner, die es nie vergaßen, zwischen der Erwägung der Thatsachen und der Energie des Handelns das richtige Gleichgewicht zu erstreben. Während der Extravaganzen der Volksherrschaft mit Charivari's bedroht, hatte er doch nie zu denen gehört, die sich rühmten, eine Stütze der starken Regierung zu sein; und nie mit einer großen Partei in völliger Uebereinstimmung konnte er behaupten, stets ein Bewußtsein von allen Möglichkeiten der Zukunft, die nun Gegenwart war, gehabt, und stets das Streben bewiesen zu haben, daß der gewonnene Boden staatlicher Freiheit und verfassungsmäßiger Entwicklung nach mehr als einer Seite vertheidigt werden mußte. Von diesem seinem Standpunkte sprach Herr Löwe über die Theilnahme seines Verwandten an jener Waffenerhebung vor den wenigen anwesenden Freunden des Hauses sich aus. Ohne die That zu billigen, konnte er ihre Motive bei Leo nicht verdammen. Es ist wohl ein bedeutsames Wort, sagte er, daß ein vollkommener Politiker stets ein glücklicher sein müsse; nur muß man nicht statt mit der ersteren Eigenschaft die letztere, diese vor jener erstreben, die als Weisheit gepriesene Charakterlosigkeit, den Verhältnissen Rechnung zu tragen. Wie es allerdings auch das Ideal der vorwärts strebenden Staatskunst ist, vorwärts zu drängen und doch nie weiter zu wollen, als eben die Tragkraft in den Thatsachen und Ereignissen liegt, so wird doch dieses Ideal für den berechnenden Verstand stets ein incommensurables, für den thatkräftigen Charakter in Wirklichkeit nur momentan und annäherungsweise, nie absolut, nie völlig und für immer zu erreichen sein, und nach der Seite der Vorsicht oder der der Thatkraft von dem geschichtlichen Gange der Ereignisse abgewichen zu sein, ist bisher noch jedem sterblichen Staatsmanne begegnet, und wird ihn als Charakter nicht ruiniren, – freilich wird er beweisen müssen, daß er in unausgesetztem Suchen der Linie beizubehalten strebt, welche das Weltgericht der Geschichte als die zum Heile führende bezeichnen wird. Was übrigens meine persönliche Neigung nach meinem Charakter und Temperament betrifft, so liebe ich mehr die Charaktere, die ein wenig zu weit, als die nicht weit genug in der Energie gehen, – der nachgebenden und nur mitgehenden Naturen haben wir ja immer nur zu viele gehabt. Deshalb thut mir auch der Verlust Leo's so weh; er ist ein kerniger, in sich gehaltener, kein zerfahrener, excentrischer Mensch, – ein ganzer Charakter. Man wird mir ja wohl das wenigstens lassen, daß ich kein Anarchist bin, kein Revolutionär, der die Revolution will, um des Revolutionirens willen; und ich bin mit Leo, – wir haben uns oft genug gegeneinander ausgesprochen, – in den Grundprincipien und Endzwecken stets übereingekommen. Seine Feldherrenschaft in der unglücklichen Schilderhebung rechtfertigte er damit, daß er, von vornherein den traurigen Ausgang ahnend, sich persönlich von der Schuld frei wissen wollte, das Vaterland durch Trägheit des Denkens und Handelns in die alten Fesseln zurücksinken zu lassen; es trieb ihn die moralische Forderung der Konsequenz; er sagte sich, wäre ein Jeder entschlossen zur That, der frei im Denken ist, die gute Sache würde siegen. Aber da sagt sich ein Jeder: der Aufstand wird doch nicht allgemein, wozu Dich opfern, – nun, nähme nur Jeder daran Theil auf die Gefahr hin, sich zu opfern, wir wären alle gerettet, – und so wollte er denn nicht der Letzte sein, der das Seinige dazu beitrug, um eine That des Allgemeinen zu versuchen. Leider war ein Mißverständniß in allen jenen verfehlten Versuchen sein und unser aller Unglück. Im Süden und Westen war man zu verwegen, weil man die Apathie im Norden nicht kannte, und die Apathie bei uns blieb unbewegt, weil sie die Allgemeinheit und den edlen Enthusiasmus jener Verwegenheit nicht ahnte. So war es die Zersplitterung der deutschen Verhältnisse, die ihn dort den Aufstand anschüren ließ, den ich hier niederhielt, während wir doch ganz eines Sinnes und eines Willens gewesen sind und bleiben werden.
Schon am andern Tage sollte Edmund erfahren, in welchen tragischen Konflikt er durch seine Untreue an seiner Gesinnung zu der so geschätzten Familie gerathen war.
Es war wieder die Freitagsgesellschaft beisammen. Zu den an diesen Tagen sich einfindenden Persönlichkeiten gehörten sowohl Cordelie von Brandt, der man nachsagte, seit sie in den Geheimerathszirkeln nicht reüssire, versuche sie es in den Krämerhäusern, als auch der Dr. Stern, dem Leser aus den ersten Capiteln dieser Erzählung und seiner Bekanntschaft mit Cilly Döbbelin bereits bekannt.
Dr. Stern mit seiner souveränen Ironie, mit der er zu Allem, worüber er sprach, wie zu etwas seiner kaum Würdigen sich herabzulassen schien, brachte Viktorinen einen spöttischen Glückwunsch zu einem nahe bevorstehenden Balle, nachdem sie sich schon fast blaß gesehnt, um endlich mit dem neuen Schmucke aus Petersburg und dem neuen Kleide aus Paris auftreten zu können. Wie glücklich, rief er aus, ist die Jugend, die sich auf einen Ball freuen kann.
– Nun ja, erwiderte Viktorine schnippisch, das Köpfchen zur Seite neigend, gewiß glücklicher als solch ein würdiger alter Herr, als der Herr Doktor mit seinen jungen dreißig Jahren schon sein will!
– Was? fuhr Stern auf, ich ein alter Herr? Wer, wer hat das gesagt?
– Sie selbst oft genug.
– Ich? – Niemals! Bringen Sie Zeugen herbei! lärmte der Schriftsteller, der stets widersprechen mußte, um seiner Person Gewicht zu geben.
– Haben Sie nicht zehn, nicht hundertmal gesagt, für Sie bliebe nichts mehr zu erleben übrig?
– Für mich bleibt nichts mehr zu erleben übrig, – ja das habe ich gesagt, mein Fräulein Viktorine, aber sagen Sie selbst, meine Herrschaften, heißt das: ich bin ein alter Mann, ein Roué? Nein, mein liebes Fräulein Viktorine, das soll vielmehr sagen: ich bin ein Mann von ursprünglicher, unverwüstlicher Kraft, aber es ist jetzt in der Welt keine Gesellschaft, wo eine solche Natur sich geltend machen darf. Und deshalb habe ich nichts mehr zu erleben, weil meine Seele müde ist, an den Säulen dieser Gesellschaft zu rütteln, um sie über den Häuptern der Philister in Trümmer zusammenstürzen zu lassen. Sich selbst dabei mit begraben zu lassen –? Ah, die Welt ist noch nicht reif für unsere neue erlösende Religion. Philister lebt, wie Ihr wollt und könnt! Ein geniales Herz muß darauf verzichten, in Eurer Societät Recht zu finden. Ich lebe nur mir, und ganz allein wird ein freier Geist sich niemals sichten, – auch die Pilger in der Wüste finden sich zusammen. Aber wie gesagt, in dieser Gesellschaft noch Etwas zu erleben, darauf bin ich resignirt. Ich bin mir selbst genug.
– Eine Bescheidenheit, die anerkannt werden muß, sagte Viktorine, mit dem Serviren des Thee's beschäftigt, und beobachtete Cordelie, deren Augen bei jenen Worten innerlichst aufgeflammt waren und dann verlegen auf die Tischdecke sich geheftet hatten.
Dr. Stern führte ferner das große Wort, als sei er es gewohnt, von Andern stets mit Staunen vernommen zu werden. Man kam auf das zu sprechen, was Genuß sei, indem Viktorine behauptete, man müsse nur zu leben und zu genießen verstehen, so gewähre das Leben stets Genuß.
Cordelie, die bisher geschwiegen hatte, sprach erröthend, – sie erröthete stets, wenn sie in Gesellschaft sprach – mit ihrer sanften Stimme: Es kennt aber nicht Jeder einen Genuß des Lebens; es giebt, glaube ich, Menschen, die außer in ihrer Innerlichkeit kein Glück kennen, und wenn wirklich von Außen ein Genuß, eine Freude an sie herantritt, erst dann das Glück davon empfinden, wenn seine Gegenwart an ihnen vorüber gegangen ist und das momentan Erlebte zu unvergänglicher Erinnerung wieder auflebt.
– Selbsttäuschung! rief Stern mit seinem apodiktischen Tone aus, Selbsttäuschung! Falsche Sentimentalität, deutsche Träumerei! Fort damit, in Innerlichkeit und Erinnerung sich einzuspinnen! Wir werden nicht eher zu Glück und Freiheit gelangen, als bis wir den Augenblick zu schätzen, in den Moment des Lebens ganze Bedeutung zu setzen wissen. Wer dem Moment ins Angesicht schauen kann, der allein ist der wahre Mann! Was meinen Sie? so frug er Viktorinen herausfordernd, als sei es unmöglich, gegen seine Meinung etwas zu erwidern.
Viktorine öffnete eben den Deckel des Theekessels und als der Dampf mit einem leisem Knall herauspaffte, mußte sie unwillkürlich lächeln. Dann sagte sie mit ihrer schnippisch bescheidenen Bestimmtheit: Ich meine, daß das wahre Glück nicht in die Momente des Genusses, sondern in den Genuß jeden Momentes zu setzen sei. Freilich bin ich ja ein ganz unerfahrenes, kleines Kind, aber trotzdem – oder vielleicht deshalb scheint es mir möglich, nicht bloß für einzelne Momente, sondern für alle, für seine ganze Lebensstimmung Glück zu erlangen. Ich freue mich, – ich glaube fast über Alles, was mir begegnet, selbst das Unangenehme. Und warum denn nicht? Man erlebt doch, man lernt doch bei Allem. Es muß doch viel angenehmer sein, auf seine Meinung einen Widerspruch als gar Nichts zu hören, und Beistimmung ist ja oft genug noch weniger als gar Nichts. So scheint mir, als müßte jedem Menschen das ganze Leben sein Glück sein, nicht blos dieser oder jener Augenblick, – denn der Augenblick verschwindet, das Leben bleibt uns.
Ist Ihnen, so frug Edmund plötzlich dazwischen, der stumm zugehört hatte, so daß Stern überrascht sich jetzt nach ihm umwandte, – ist Ihnen nicht aber doch ein Augenblick oft unendlich mehr werth als der Andere?
– Das wohl, fuhr Viktorine sanft erröthend fort; aber ich glaube, daß der wahre Werth eines solchen Augenblickes sich eben darin beweisen wird, daß seine Nachwirkungen lange in unserer Erinnerung und in unserem ganzen Fühlen, Denken und Handeln fortleben werden. Und so ist es wohl wahr, was Du sagst, liebe Cordelie, der Genuß beginnt erst als der wahre und dauernde, wenn die flüchtige Freude vorüber ist, und wie reich, wie unergründlich reich kann ein Augenblick, der vielleicht gleichgültig, ja bitter erschien, uns dann werden, wenn wir in der Erinnerung ihn aufs Neue durchleben. O, wenn man sich in solche vorübergeeilte Momente dann zurückversetzt, wie wird dann das Herz so voll davon, daß man es nicht mitzutheilen weiß –
– Also begegnet Ihnen dann auch etwas Unsagbares? fiel Edmund ihr ins Wort, das ist aber das Zeichen eines wahren Künstlergemüthes, und wenn Sie solche Stimmungen erleben, so müssen Sie in Wort, Ton oder Farbe sie zu äußern suchen.
Stern, der vom Baron sich zurückgesetzt fühlte, weil er ins Gespräch sich mischte, ohne an ihn sich zu wenden, drängte sich, in seiner Eitelkeit als Schriftsteller verletzt jetzt hervor: Künstlergemüth? Mein Herr Baron von Brandt, wissen Sie, was das heißt ein Künstlergemüth? Ich muß Ihnen sogleich vorausschicken, daß ich wohl weiß, es giebt zweierlei Weisen des Gemüthes und darstellenden Geistes, die sich für künstlerische ausgeben. Erstens jene realistische, die sich die Aufgabe stellt, das wirkliche Leben wiederzugeben, also eine reproducirende, reflektive, – die Göthe'sche Kunstrichtung. Zweitens die producirende, idealistische, die wahrhafte Kunst, der die Wirklichkeit keine Schranke ist, welche das Leben gestalten und den Idealen, die seine Vollkommenheit enthalten, zuführt, – die Kunst, welche die Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Liebe zu realisiren, die den Menschen der Zukunft, den absoluten Menschen herauszuarbeiten beginnt. Nur diese ist Poesie, denn sie ist Schaffen, Erfinden, Gestalten; jene aber, die nur meinen können, Herr Baron, die eben aus der Erinnerung schöpfen soll, ist nichts, als eine Reproduktion, ein Wiederholen, und deshalb in unsrer Zeit eine reaktionäre, eine nichtswürdige, denn wer nicht für uns ist, ist wider uns. Mit meinem ganzen Sein und mit der Literaturepoche, die wir jetzt heranarbeiten, stehe ich Ihnen dafür ein, diesen Retrospektivismus christlich germanischer Trägheit und Schwachköpfigkeit zu vernichten. Die Revolution der Barrikaden und des Steinpflasters gegen die Brutalität des individuellen Absolutismus ging zu Grunde an ihrer eignen Brutalität. Wir Ritter des Geistes werden eine neue Revolution vollenden ohne Schwertstreich, ohne Roheit, die Revolution der Ueberzeugung. Sie freilich als Beamter, Herr Baron, mögen anderer Meinung sein, –
– Die auch eine ehrenwerthe ist, obgleich oder weil sie keine demokratische ist! warf Edmund ein, verletzt durch den leichtfertigen Hochmuth des schöngeistigen Politikers. Und dieser, um am vornehmen Stolze des Gegners sich zu rächen, erwiderte: – auch ehrenwerth, als Sie die Anklage gegen Leo Sternberg aufsetzten?
Die Anwesenden, unter denen auch Viktorine war, erschraken. Doch noch größer wurde die Bestürzung, als Edmund erwiderte: Gewiß! Denn er war ein Hochverräther, ein desperater Abentheurer –
Der Baron wollte weiter reden, aber die Bestürzung auf den Gesichtern Aller brachte ihn in momentane Verlegenheit, und Dr. Stern gewann Zeit, ihm das Wort abzuschneiden: Herr Baron, ich kann Ihnen nicht länger widersprechen. Jemand, der so zarte Verhältnisse nicht zu schonen weiß, ist von mir an Bildung und Lebensart so weit verschieden, daß es mir unmöglich ist, irgend einen Disput mit ihm zu führen.
Edmund merkte, daß er ein arges Versehen begangen haben mußte; er war froh, daß Stern sich in ein anderes Zimmer begab, und er nicht in der Notwendigkeit war, in Gegenwart der Uebrigen den Disput zu lautem Streite ausarten zu lassen. Die Gesellschaft schwieg und that, als habe sie das Ende dieser Unterhaltung nicht gehört; Edmund war in Verlegenheit und der Doktor hatte von den Anderen Recht bekommen. Es wurden einige allgemeine Aeußerungen gethan, aber das Gespräch stockte wieder, und die gedrückte Stimmung, die auf dem Kreise ruhte, wurde erst gehoben, als man zu Tische ging.
Edmund hatte bemerkt, daß Viktorine vor allen Anderen von der gemeinsamen Bestürzung betroffen war, die sich in ängstlicher Aufmerksamkeit auf ihn äußerte, und unter außergewöhnlicher Höflichkeit sich barg.
Als man vom Theetische sich erhob, suchte sie unverkennbarer Weise in seine Nähe zu kommen. Sie mußte an mehreren Gruppen von Herren und Damen vorüber, die sie nicht ohne Anrede lassen konnte. Sie wußte aber bei jeder sehr bald eine Veranlassung, um weiter zu gehen und endlich auch an Edmund heranzutreten, der mit Dagobert sich unterhielt.
Sie mußte hören, wie Herr Dagobert, der etwas pedantisch sich gern in Auseinandersetzungen einließ: so eben docirte: Wie schön das klingt, Religion unserer Zeit! Wie beneidenswerth Sie sind in solcher Sehnsucht! Aber glauben Sie mir, für unsere Zeit giebt es keine Religion mehr. Alle allgemeinen Ideen, alle religiösen Gedanken sind jetzt unmöglich oder gefährlich; es handelt sich nicht mehr um ihre principielle Anerkennung, sondern um ihre tatsächliche Anwendung, und darüber eben gehen alle Meinungen feindlich auseinander, darüber ist die Literatur eine parteiliche, eine Sekten stiftende geworden. Die einfache, in sich ruhende Plastik, in der unsere klassische Literatur-Epoche die ewigen Ideale reiner Humanität darstellte, ging unter in dem Streben der Epigonen-Periode, welche zwischen jenen Idealen und der widersprechenden Wirklichkeit Abrechnung zu halten begann, in dem mehr oder weniger einseitigen Tendenzwesen, das bis in die letzten Jahre unsere Literatur fast ausschließlich erfüllte, und das eben die Religion im Streite der Konfessionen verloren gehen ließ. Die beiden vergangenen Jahre aber, die Jahre der Ereignisse, der Reaktion der Thatsachen gegen die Revolution der Tendenzen, werden Sie jene abstrakte Gehaltlosigkeit nicht in Miskredit gebracht haben? Die Phrase ist ruinirt, die Thatsachen dominiren; den Tendenzen sind die Handlungen, den Ideen die Charaktere über den Kopf gewachsen, – wird nicht in der Kunst wie im Leben eine neue realistische, konkrete Geistesrichtung sich geltend machen? Freilich ist jene hohe edle Einfachheit ideeller Schöpfung, jene ungestörte Beschaulichkeit rein menschlichen Wesens, wie sie in solcher Harmonie wohl nur in der Zeit unserer Klassiker möglich und auch gerechtfertigt war, uns jetzt verloren gegangen. Aber wenn nur die darstellenden Talente zur Energie lebenswahrer Gestaltung sich gesammelt haben, so wird eine Zeit, wo jene ewigen humanistischen Ideen die Thatsachen wie ein innerweltliches Feuer zu durchleuchten und durchglühen beginnen, wo eine jede Individualität mit dem Inhalt eines eignen besseren Selbst gegenüber einer Außenwelt altersschwacher, zerbröckelnder Moralität sich selbst ihre Stellung vermitteln, und mit dem doppelten Rechte in ihr und außer ihr sich abzufinden versuchen muß, – wird eine solche Zeit dem Künstler nicht Stoff genug aufdrängen, die Einfachheit durch Mannigfaltigkeit und Fülle von Gestalten, die Idealität durch Reichthum und Schärfe der Charakteristik zu ersetzen? – Doch was plaudere ich da in den Tag hinein! Ich komme ja in die Gefahr, wie es modernen Schriftstellern ergeht, die Möglichkeit des guten Neuen statt durch Werke durch Redensarten erweisen zu wollen, mit Phrasen gegen die Phrasen zu Felde zu ziehen und aus der Tendenzlosigkeit wieder Nichts als eine Tendenz zu machen.
Er wollte trotzdem weiter sprechen. Aber schon ging man zum Essen, und, war man erst bei Tische, so konnte Viktorine mit Edmund nicht mehr unbemerkt sprechen. Da wurde Dagobert glücklicher Weise abgerufen. – Viktorine und Edmund stehen allein. Sie ist unverkennbar aufgeregt; mehr als einmal öffnet sie die Lippen, und scheint doch das Wort nicht zu finden, das sie sprechen will. Sie sieht sich um, ob man sie beobachtet. Dann tritt sie, ihm winkend, entschlossen an ein Bild heran, und mit bebender Stimme, die sich zu Sicherheit zwang, sagte sie: Sie wissen es also wohl nicht? – Leo Sternberg ist ja mein Bruder! Ich bin nur ein Pflegekind des Hauses! – Wollen Sie mich zu Tische begleiten?
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