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5.
Der Geheimerath.

– Gott im Himmel, um diese Stunde! Ist das eine Zeit für Visiten? Macht man jetzt Staatsvisiten oder macht man jetzt Amtsbesuche? Wie soll ich ihn annehmen, im Leibrock oder im Oberrock? Allbarmherziger Himmel, ist das wieder eine Taktlosigkeit, eine Ausschweifung! O, ich sehe es, er hat sich nicht geändert, er ist der Alte geblieben, der Feind jeder Sitte und Ordnung, der Himmelsstürmer! Und wenn man erfährt, daß er in meinem Hause war. Ich habe ihn erzogen, – die Früchte meiner Saat wird man in seinen verbrecherischen Handlungen sehen; man wird mich im Komplott mit ihm zu seinen hochverrätherischen Plänen glauben. Ich bin ein unglücklicher, ein geschlagener Mann. Ich weiß es ja längst, man paßt mir auf, man stellt mir nach, man will mich verderben. Weil ich nicht wie der Herr Vetter Kriegsrath heucheln kann und schmeicheln und schön Dienerchen machen und fromm thun, so will man mich verleumden als einen Atheisten, einen Republikaner. O, Du allbarmherziger Himmel, warum hast Du mich in meiner Jugend nicht die Augen verdrehen und seufzen lernen lassen? Warum haben damals die sieben Bitten und das »was ist das?« und der ganze kleine und große Catechismus Lutheri noch nicht zum großen dritten Examen gehört? Jetzt kann ich ja das nicht mehr lernen; der Himmel verzeih mir's, aber ich bin einmal zu alt dazu, und nun wird mich das ins Verderben stürzen. Ich weiß es ja schon, man will mich um die Anciennetät bringen, man will mich übergehen, mich sitzen lassen; ich soll nicht wirklicher Geheimerath werden, sondern Zeit meines Lebens Geheimerath, ganz gewöhnlicher Geheimerath bleiben. Und nun kommt noch dieser Taugenichts dazwischen, dieser fortgelaufene Assessor, dieser böse Geist meines Lebens! Rathe mir doch, Frau, sage mir, soll ich ihn nicht annehmen? Aber wie ihn loswerden? Er wird ja wieder kommen und immer wieder, und ich kann doch nicht unartig sein. Und soll ich ihn jetzt empfangen? Aber wie soll ich ihn empfangen? Im Leibrock oder im Oberrock. Frau, Tochter, Ihr seht meine Lage, helft mir doch aus der Verlegenheit. Aber Du allbarmherziger Himmel, ich habe ja noch nicht die Binde um, ich bin ja noch nicht rasirt! Um 9 Uhr muß ich auch im Kollegium sein und es ist schon 8 Uhr durch. Nein, ich kann nicht gewissenlos sein. Ich will auftreten, ich will zeigen, daß ich Grundsätze habe, daß ich mich von meiner Pflicht nicht abwendig machen lasse, und wenn er zehnmal der Sohn meines Bruders ist und wenn er zehnmal so lange bei den Hottentotten und Baschkiren gewesen ist. Ich will ihn jetzt nicht sehen. Er kann kommen, wenn ich weiß, ob es Staats- oder Geschäftsbesuch. Von 8 bis 9 Uhr habe ich keine Amts- und keine Visitenstunde. – Gehen Sie, Auguste, und sagen Sie dem Herrn Assessor a. D., ich sei von 9 bis 1 Uhr im Kollegium, in Geschäften, von 1 bis 3 Uhr zu Hause in Familie zu sprechen, wie der Adreßkalender seit 33 Jahren besagt.

Das waren die Exklamationen, Meditationen und die endliche Resolution des Geheimerath von Brandt, als ihm nach beendigtem Familienkaffee, da er eben, wie zwischen Thür und Angel, so zwischen Schlafrock und Amtsrock an seine einfache Toilette gehen wollte, das Stubenmädchen Auguste den Besuch seines Neffen Edmund von Brandt anmeldete.

Die Frau Geheimeräthin, statt ihrem in Verlegenheit mit dem Rasirzeug in der Hand, in welchem schon die Seife eingerührt war, umhertrippelnden Manne seine Fragen zu beantworten, war in mindestens eben so großer, aber anderweitiger Rathlosigkeit in die Sophaecke zurückgesunken, ihre innerliche Emotion in stummem Schmerze in sich verschließend. Sie konnte dem lieben Neffen seine freigeistigen Sympathien und eine Reise ohne Urlaub, deren Ziel sie alle noch nicht kannten, nicht als Verbrechen, wenigstens nicht als unverzeihliches auslegen, und setzte auf ihn noch Hoffnung für den Staat und die Familie; sie sah in ihm noch immer die Partie, den heirathsfähigen Assessor. Sie wollte ihn annehmen, so gerne annehmen, aber – in der »guten Stube« waren die Teppiche zusammengerollt, das Kanapee mit grobem Leinwandüberzug bekleidet, die Vorhänge heruntergelassen, um das Sonnenlicht von den Möbeln abzuhalten. Man brauchte mindestens eine Viertelstunde Zeit um nur einigermaßen das Zimmer in empfangsfähigen Zustand zu setzen, – so lange durfte sie den heirathsfähigen Assessor nicht warten lassen. Das Wohnzimmer aber, in dem sie sich befanden, war – schon seit 8 Tagen – mit Thon bestrichen, um für die Soireen der Saison gereinigt zu werden. Sollte sie den Gast zu Mittag zu »einer einfachen Suppe« bitten? Aber auch die konnte sie ihm nicht einmal in würdiger Weise bieten. Man aß in dem Geheimerathshause von Porzellan und Silber, aber bei den achtzehnhundert Thaler Geheimerathsgehalt und den großen Soireen, die man der heirathsfähigen Tochter wegen seit fünf Jahren geben mußte, aß man in Familie oft genug nur eine Grützsuppe und Pellkartoffel mit Häring von dem Porzellan und Silber. Eine ähnliche Tagesordnung war, auf Rechnung der in nächster Woche zu gebenden Assemblee, bereits für heute und die folgenden Tage festgesetzt; man hatte kein Fleisch, keinen Braten im Hause. Aber die Köchin noch jetzt mit neuer Ordre in Ueberraschung und Bewegung zu setzen, das konnte die gnädige Frau des Hausfriedens wegen nicht wagen, und am wenigsten in diesem Augenblicke, weil sie sonst riskirte, daß die Person, bereits die vierte in diesem Jahre, ihr aus dem Hause lief, wenn sie eben zur Soiree anrichten sollte. So konnte die ideale Seele mit den verwelkt interessanten Zügen und den eingewickelten Locken zu keinem Entschlusse kommen, ob annehmen oder ablehnen den Besuch des Neffen. Es war hier keine Stunde zu verlieren, denn wenn er, hier nicht angenommen, nun zu Kriegsraths ging, welcher Vorsprung konnte dort Kousine Sabine über ihre Cordelie gerade in der erregenden Stunde des Wiedersehns gewinnen! Und dieser frühzeitige Besuch, wie freundschaftlich, wie hastig, wie Hoffnung erregend war er nicht schon um seiner Frühzeitigkeit willen. Der Neffe wollte sich, das sah sie, so familiär ihnen nähern, sogleich in den Schooß der Familie eindringen, – sie wollte ihn annehmen um alles in der Welt, aber sie wußte nicht wie noch wo, und als der Gemahl nach seinem Monologe, während dessen man das Putzzimmer fast hätte in Ordnung setzen können, den Befehl ertheilte, den Besuch abzuweisen, da glaubte die Gnädige der Last ihrer nicht zu bewältigenden Haussorgen erliegen zu dürfen und war bereit über ihr unglückseliges Loos in nervöse Zufälle zu verfallen.

Indeß Kordelie, die Tochter des Hauses, trat in heroischer Begeisterung für den angemeldeten Vetter mit Trotz dem Befehle des Vaters entgegen.

Sie hatte heute schon beim Kaffeekochen Veranlassung zu großem Schreck und Aergerniß gegeben. Man ließ nämlich in dem Geheimerathshause den Kaffee nicht mehr von den Dienstboten besorgen, denn diesen glaubte man keine Bohne anvertraun zu können, ohne daß sie gestohlen oder gefälscht wurde. Es war das eine von den Hauswirthschaften, wie sie in den großen Städten die bei weitem größere Mehrzahl bilden, in denen von einem familiären, patriarchalischen Verhältniß zwischen Herrschaft und Dienstpersonal, von einem Bewußtsein der gegenseitigen Rechte und Pflichten keine Rede mehr ist, wo die Befehlenden nur verlangen, und die Gehorchenden nur ausbeuten zu dürfen glauben, ohne daß dort Anerkennung eines Verdienstes, hier Freude über die Thätigkeit zu finden ist. Alle Quartal mindestens wurde das Dienstpersonal gewechselt, und dennoch – oder vielleicht deshalb wurde es von Quartal zu Quartal schlechter, von Jahr zu Jahr in seinen Ansprüchen zudringlicher, in seinen Veruntreuungen unverschämter. Früher bezog die Köchin bei den Markteinkäufen ihren regelmäßigen Marktgroschen von circa 10 bis 20 Procent; seit man durch persönliche Begleitung oder Anlegung von Rechnungsbüchern diesen zum Theil unmöglich gemacht, hatte man bei der letzten Köchin ein vollständig assortirtes Lager aller möglichen Wirthschaftsbedürfnisse entdeckt, das sie im Kleinen entwendet hatte, um es im Großen von der Familie stets wieder ankaufen zu lassen.

Um nun nicht bei jedem Bissen, den man genoß, bestohlen zu werden, hätte man in dem von Brandt'schen Hause am liebsten gar nicht mehr essen mögen. Den Kaffee, den man einmal nicht entbehren konnte, sollte Cordelie eigenhändig auf der Maschine kochen. Cordelie hatte ihren Shakespeare deutsch und englisch gelesen und die schönsten Gedanken darin, oder die sie dafür hielt, reichlich mit Nadel und Bleistift bezeichnet. Sie schwärmte für ihre Namensschwester, die Tochter des unglücklichen Königs, verabscheute die entarteten Geschwister Regan und Gonerill, und hätte für ihren Vater zehnmal größere Thaten thun mögen, als Cordelie, der Engel, für den ihren, – aber Kaffeekochen für die Familie, das war ja keine große That. Als man ihr das zumuthete, erklärte sie, man verstehe sie ganz und gar nicht, und durch die mancherlei Unfälle bei dieser Verrichtung, indem sie sich verbrühte oder, den brennenden Spiritus vergießend, den ganzen Tisch in Flammen setzte, so daß der stets ängstliche Geheimerath schon. »Feuer! Feuer!« zum Fenster hinausgerufen hatte, bewiesen in der That, daß sie nicht dazu geschaffen oder nicht geschickt genug war, ein Wirthschaftsgeschäft zu übernehmen.

Heute hatte sie nun gar dabei eine tragische Scene, glücklicher Weise noch mit komischem Ausgang, der ganzen Familie bereitet. Als Papa und Mama den fertig gebrauten Kaffee an den Mund setzen, stoßen sie mit Abscheu und Schrecken das schwarze Getränk von sich. Gift! Gift! schreit der Alte, die Mama will in Ohnmacht fallen, Cordelie beschuldigt die Dienstboten und schon will man die Polizei zur Constatirung dieses Vergiftungsversuches einer ganzen Familie, einer drohenden cause celèbre herbeirufen, als sich der Vorfall dahin aufklärt, daß Cordelie, stets in vornehmer Unachtsamkeit auf die gemeinen Dinge der Wirthschaft, statt des gemahlenen Kaffees ein Packet Schnupftabak des alten Herren in die Maschine geschüttet hat.

Kaum hatte man von dieser Exaltation, statt zu Gelächter zu allseitigem Schmollen, sich erholt, indem nun die vorhin ohnmächtige gnädige Frau dem Herrn Gemahl die übereilte Angst durch ein einziges Achselzucken zum tiefsten Vorwurf machte, – als auch die Anmeldung des wiedergekehrten Neffen die Familie in neue Bestürzung versetzte. Cordelie, spitz wie immer gegen den Vater, warf diesem ein, als er den Vetter abweisen wollte, er brauche ihn ja weder als Amts- noch als Staatsbesuch, weder im Leib- noch im Oberrock, sondern einfach und ungenirt im Schlafrock als den Neffen zu empfangen. Da der Alte aber über die Zumuthung solcher Formlosigkeit gegen einen königlichen Assessor, wenn auch immer a. D., empört war, warf sie entschlossen über ihr Hauskleid von ungewisser Farbe einen seidnen Shawl, gab mit wenigen Zügen der Hand ihren ungeordneten Haaren den Anstrich genialer Verwirrung und eilte hastig, den Vetter auf ihren Namen in ihrem Zimmer anzunehmen.

Der boshafte Neffe Oskar hatte sich gegen den Geheimerath, als er wegen seines Avancements zum Wirklichen Geheimen-Rath sich sehr besorgt geäußert hatte, den Spaß erlaubt, wie er sich ausdrückte, »ihm den Floh ins Ohr gesetzt,« ihm im strengsten Geheimnisse anzuvertraun, man habe ihn im Verdacht der Freigeisterei. Der gute alte Herr, der so wenig darüber nachgedacht, weß Geistes Kind er war, daß er selbst nicht wußte, ob er freigeistig sei oder nicht, bekam dadurch einen gewaltigen Schreck und hielt sich nun in der That der Freigeisterei für schuldig. Keine Gelegenheit ließ er vorübergehen, Gründe für diesen Verdacht herbeizuziehen und sich Vorwürfe gegen sich selbst zu machen. Daß die Entartung Edmunds, der in seiner Jugend als Waise viel in seinem Hause gewesen war, ihm zur Last gelegt werden mußte, hatte er heute sich schon in Erinnerung zurückgerufen. Jetzt fand er auch in dem Betragen Cordeliens den Grund zur Verdächtigung der Freigeisterei. Aber erst, als sie zur Thüre hinaus war und diese geschlossen hatte, wagte er sich auszusprechen, da er sonst gegen ihren tragischen Seufzer, daß sie ewig unverstanden sei, nichts zu erwidern wußte.

– Ich halte es für unmöglich, ihn anzunehmen, so klagte er, und das Mädchen giebt sich soweit blos. Was fehlt da noch zu völliger Emancipation? Ist es da ein Wunder, wenn kein Mann sich für sie findet? Wer muß sich nicht fürchten vor solchem Wesen? Wer kann Achtung davor haben? Sie lebt ja völlig wie ein Student. Und dieser Umgang mit den Kaufmannstöchtern, den Juden, – muß das nicht kompromittiren? Müssen wir nicht alle für Emancipirte, für ein frivoles Haus gelten? Ja, ja, man wird sagen: der Apfel fällt nicht weit von dem Baume, und an diesen Früchten wird man mich erkennen wollen.

So hypochondrisirte der alte, schwache Herr nicht ohne sophistische Geschicklichkeit sich in ein Gewebe von Verläumdungen hinein, indem er noch immer die Seife im Rasirbecken zusammenrührte, da die Hand ihm zum Führen des Messers von den Aufregungen des heutigen Unglückstages noch zu sehr zitterte. Als er aber nach einer Viertelstunde sich endlich beruhigt, die Seife auf die Wange gestrichen hatte und nun, schon von der Stunde gedrängt, mit der Klinge in der Hand an den Spiegel getreten war, – wer begreift nicht seinen Schreck und seine Entrüstung, als da plötzlich die Thüre aufging und, ungebeten, ohne zu fragen, Vetter Edmund, den Hut in der Hand, keck und verwegen, nicht ohne spöttisches Lächeln, und doch unendlich demüthig, wodurch er Oskar fast völlig zu gleichen schien, in das unaufgeräumte, mit Thonflecken versehene Wohnzimmer hereintrat.

Edmund hatte in dem mit Büchern und Dichterbüsten gezierten Boudoir die Kousine Cordelie, für die er immer eine Neigung, wenn auch nur zweiten Ranges, gehegt hatte, heute interessanter denn je gefunden. Sie war noch ein junges Mädchen, denn sie zählte erst 22 Jahr, – so wird sie selbst und jede Altersgenossin sagen, während jede jüngere Dame sich ausdrücken würde: obgleich sie schon so alt war. Ein trauriges, dem schönen Geschlechte so häufiges Loos, die schönsten Jahre des Lebens noch vor sich zu haben, und schon zu dem verblühenden Leben gerechnet zu werden! Und doch ein selbstverschuldetes Loos, – selbstverschuldet, wenn nicht vom Einzelnen, von der Gesellschaft. Nur da, wo der oberflächlichste Blüthenstaub allein Würdigung und Ansehn der Schönheit erlangt, kann der Glaube an so schnell verblühende Jugend möglich sein: wahre Schönheit verblüht nie, und wo man Vorzüge des Geistes und des Charakters zur Geltung bringen kann, da steigt gerade in den Jahren der reifenden Jugend um Unberechenbares der Werth der Persönlichkeit.

Cordelie von Brandt hatte es selbst veranlaßt, daß sie nicht mehr unter die frischesten Frühlingsblumen gerechnet wurde. Sie war nie ein Kind gewesen und dünkte sich mit 15 Jahren so reif, daß sie die Mutter zwang, sie in die Gesellschaft einzuführen, in die sonst ein Mädchen zwei bis drei Jahre später erst einzutreten pflegt. Die zarteste Jugend verfliegt am schnellsten und Cordeliens etwas starke Züge ließen sie älter erscheinen als sie war. Auch pflegt man die jungen Damen nach Jahrgängen zu schätzen, von der Zeit ab, wo sie in Gesellschaft aufgetreten sind, und so wurde Cordelie um so viel Jahre höher im Alter geschätzt, als sie früher denn andere Mädchen eine Dame geworden war. Dabei war ihr frühes Auftreten nicht einmal ein glückliches gewesen. Ihr äußeres Wesen zeugte von Ernst, Verschlossenheit und Hochmuth, die sie aus dem väterlichen Hause mitgebracht hatte, wodurch sie aber nicht beliebt werden konnte. Der alte Geheimerath hatte eine ganz ansehnliche Stellung in der Staatsverwaltung und den Stolz darauf hatte sie vom Vater ererbt; aber durch welche Vorrechte konnte sie ihn in der Gesellschaft begründen? Des alten Brandt Posten erstreckte seine Bedeutung nicht über sein Büreau hinaus und war nicht einmal einflußreich für junge Männer, die Carrière machen wollten. Er hielt keine Examina ab und hatte keine Anstellungen zu vergeben; sein Gehalt reichte für die Ansprüche an Repräsentation kaum hin und auf Vermögen konnte er gar nicht pochen. So war Cordelie mit all ihrem verschlossenen Stolz nichts weniger als eine gute Partie. Die jungen Referendarien und Assessoren tanzten, – sie nannten es »scharwerken« – pflichtschuldigermaßen mit der Tochter des Vorgesetzten, sprachen mit ihr so geistreich sie es konnten, und versicherten sie ihrer unbegrenzten Hochachtung, – aber sie heiratheten reiche, wenn auch ungebildete Fabrikantentöchter. Und innere Vorzüge –? Cordelie war zwar sehr anmaßend und eingebildet auf ihre Persönlichkeit; aber es würde ihr gewißlich sehr schwer geworden sein, irgend eine anziehende oder bedeutende Eigenschaft oder Fähigkeit zu nennen, auf die sie ihre Ansprüche hätte begründen können. Sie studirte fleißig die Dichter, aber sie hatte kaum je über einen ein geistreiches Urtheil gefällt; seelenvolle Schwärmerei lebte in ihren Augen, aber sie verstand nicht sich liebenswürdig zu geben; ihr Wesen erschien interessant, aber es fehlte ihm jede Mannigfaltigkeit und Bewegung. Sobald sie mit all der Empfindlichkeit aber, die solch innerlichen Naturen eigen ist, wahrgenommen hatte, daß sie in den Gesellschaften ihr Glück nicht zu suchen habe, wurde ihr Ernst finster, ihre Verschlossenheit gereizt, ihr Hochmuth beleidigend.

So sah Edmund seit länger als Jahresfrist heute sie wieder. Sie beide waren vordem Seelenfreunde gewesen. Cordelie dichtete auch, aber bei all ihrer Schwärmerei hatte sie nicht Talent genug, gute Gedichte zu machen, und zu viel Verstand, um die schlechten für gut zu halten. So hatte sie ihre Poesien Niemandem gezeigt; sie selbst behauptete, es sei Stolz und Weltverachtung, daß sie in sich selbst sich zurückzog; in der That aber fühlte sie, daß sie sich nicht geltend machen konnte, wie sie geschätzt sein wollte, und wie sie es sein konnte, das war dem Hochmuth ihres Idealismus nicht genug. Nur Edmund hatte Vertraun bei ihr. Ein ähnlicher Zug seines Inneren, ein ähnliches Loos zog ihn zu ihr hin. Ohne jemals in ihrem Umgange eine völlige Befriedigung und die Anregung zu vollkommen offener Mittheilung zu finden; eben weil sie ihm vielleicht geistig zu verwandt war, so mußte doch dieses leidende Wesen, diese innerlich verschlossene Erregtheit ihm interessant sein, und das Wiedersehen jetzt war um so rührender, als er ihre Wangen blässer, ihre Mienen düsterer, ihr Auge schmachtender wieder erblickte. Mit schmerzlich freudiger Erregung erfaßte er ihre Hand, drückte sie an seine Lippen und mit tief in ihre Seele dringendem Blicke sagte er: meine theure, theure Kousine!

Sie seufzte, bot ihm den Stuhl au und beide saßen einander gegenüber, ohne ein Wort zu finden, durch Blick um Blick unsagbare Empfindungen ausforschend.

– Du warst weit, Edmund? warst bei den Türken? frug sie endlich und setzte hinzu: Ach, wer in die Welt könnte, weit, weit! – mit jenem Blicke eines Mädchens, das viel in George Sand gelesen hat und mit seiner erträglich glücklichen Existenz nicht zufrieden, ein unendlich unglückliches aber unendlich poetisches Loos, ein Roman-Schicksal haben möchte oder gar hat.

Edmund wollte einer solchen Seele gegenüber nicht lügen und sagte abweichend: Lassen wir das! Dann schwieg er; auch sie redete nicht und in finsterem Brüten starrten beide vor einander hin. Das stumme Bewußtsein gemeinsamen Weltschmerzes war von jeher das Element ihres Umganges gewesen.

Edmund fühlte sich mit anmuthigem Behagen zurückversetzt in die sentimental-pikante Stimmung, in der er so manche harmlose Stunde mit der Kousine verlebt hatte. Aber gerade, indem er sich die Erinnerung daran hervorrief, mußte er bemerken, daß sie sich seitdem verändert hatte; sie war kälter, unbefangener gegen ihn; aber ihr Blick ernster, eindringlicher, rückhaltsloser; ihr ganzes Wesen verständiger, gereifter, mehrsagend, – sollte sein Verhältniß zu ihr von jetzt ab ein anderes werden? Die Rückkehr nach so langer Trennung, die Schicksalswendung seines ganzen Lebens, sollte sie vielleicht auch eine Katastrophe in seiner Stellung zu Cordelie herbeiführen?

Er suchte mehreremal dem Sinne der Blicke auf den Grund zu dringen, die ihm begegneten, als sie ihn unterbrach: Und was willst Du jetzt hier?

– Haha! lachte er aus seiner melancholischen Träumerei plötzlich in frivole Ausgelassenheit überspringend: Was ich machen will? Carrière machen! Carrière en carrière! Ich bin klug geworden; ich habe meine Sünden abgebüßt; ich will meine Talente zur Geltung bringen. Wer war der Narr, ich, der ich einer Einbildung folgte, die ich meine Gesinnung nannte, oder die Welt, die eine Thatsache ist? Die Welt hat Recht behalten, denn sie hat immer Recht, – ich bin der Narr. Aber ich will gescheudt werden, und – Carrière machen. Alles andere ist ja eitel Wahn und Thorheit; alles andere ist Luxus, Modesache, die vergeht wie sie entsteht. Jedes Jahr bringt neue Zeitideen, neue Fragen, die brennend auftreten und unbeantwortet vorübergehen; nur eines bleibt – eine fixirte Anstellung, und selbst wenn sie zu Ende geht, hinterläßt sie Titel und Pension. Auch ich muß leben, und will jetzt erst herrlich und in Freuden leben. Sie sollen ja Millionen verwenden, um Talente zu besolden! Nun gut, ich stehe da zum Preise. Sie sollen nur kommen, gar nicht mit einer Million, nur mit lumpigen paar Tausend Thaler jährlich, – ich bin zu haben! Wo ist Dein Vater, Cordelie? Ich will ihn sprechen, – bald, eiligst sprechen, – er soll mir rathen, welche Branche wählen, welchen Charakter sie am besten bezahlen.

Cordelie mit schwerem Blick an der interessanten Verwilderung seiner Züge hangend, sagt, nur auf sein Aeußeres sich beziehend, die romanhafte Redensart: »Du bist fürchterlich, Edmund.« Im übrigen begriff sie nicht, worüber er gerade jetzt so exaltirt war, und fand es so völlig natürlich und vernünftig, daß er Carrière machen wollte.

Ueber der Romantik der Situation hatte sie seine praktische Frage ganz überhört, und er mußte wiederholen: Aber sage doch, wo ist Dein Vater?

– Er ist nicht zu sprechen, er rasirt sich noch, antwortete sie mit derselben edlen Miene auf die Prosa des Lebens sich einlassend.

– Er rasirt sich, und deshalb soll ich ihn nicht sprechen, nicht wiedersehen nach der jahrelangen Trennung? so deklamirte Edmund: und wenn nicht nur sein Kinn, wenn der ganze Onkel eben eingeseift ist, nichts soll mich abhalten, an das verlangende Neffenherz ihn zu drücken. Laß mich zu ihm, zu Onkel Otto, Onkel Otto!

Damit eilte Edmund über die zusammengerollten Teppiche des dunklen Putzzimmers in die tonbestrichene Wohnstube und bereitete hier durch seinen alle Formen durchbrechenden Ungestüm dem Ehepaar die schon erwähnte neue Bestürzung. Die gnädige Frau wußte nicht, wie sie die zerrissenen Ellbogen ihres aus mannigfachen Ursachen glänzenden seidenen Schlafrockes verbergen sollte, und der gnädige Herr war geradezu entrüstet, daß der Geheimerath in der Flanelljacke gesehen wurde. Aber Edmund ließ beide nicht zu zürnenden Worten kommen, und mit dem vortrefflich gelungenen Pathos, das er schon in Cordeliens Zimmer anzuschlagen begonnen hatte, spielte er jetzt eine Scene der Wiedersehnsfreude, die Onkel und Tante fast zu Thränen rührte. Obgleich sie keine Handschuh anhatte, küßte er der Tante einmal über das andere die Hand, und fiel während dessen wieder dem Onkel um die Flanelljacke, seine Lippen auf dessen rechte Wange drückend, da die linke noch mit Seife bestrichen war.

Aber dennoch blieben all seine Exklamationen unverstanden; eine solche Exaltation konnte man in diesem Hause der Wohlerzogenheit nur für Verrücktheit ansehen. Der Geheimerath, ohne die zweite Backe zu rasiren, versteckte sogar sorgfältig sein Messer, eine Absicht des wühlerischen Vagabunden auf sein Leben fürchtend. Edmund mußte seine Komödie als verfehlt aufgeben, wenn ihm nicht noch zu rechter Zeit einfiel, seine besten Trümpfe auszuspielen. Was alle Bezeugungen der Liebe und Zärtlichkeit nicht vermochten, das erreichte er mit wenig Worten durch die Erklärung, was für eine hoffnungsvolle Persönlichkeit er war.

– Ihr sollt mich wieder in den Schooß Eurer Familie aufnehmen, so sagte er, aber das that noch keine Wirkung. Er mußte fortfahren: Was ich an mir selbst versäumte, hoffe ich noch gut machen zu können. Wißt Ihr, daß ich im Wasser des Jordan vor Gott meine Sünden abgewaschen habe? Ich komme direkt aus dem gelobten Lande, wo ich die Vergebung des Himmels für meine exaltirten Wühlereien geholt; daß ich dieselbe auch bei dem Minister hier finde, hat mir Bruder Oskar versprochen, da ich alles bereue, was ich Böses gethan, und einen ganz neuen Adam anziehen werde. Deshalb komme ich zu Ihnen, theurer Onkel, um Ihnen meine Reue, meine Besserung kund zu thun – und zugleich meinen Wunsch, Carrière zu machen.

Edmund mußte sich zusammennehmen, bei seiner Beichte nicht zu humoristisch zu werden. Aber die Verwunderung darüber, wie man ihm so harmlos Alles glaubte, auch das, was er für das gewagteste hielt, ohne die geringste Unnatürlichkeit und Charakterlosigkeit darin zu finden, machte ihm den Muth, so weit zu gehen, daß er seine frühere revolutionäre Gesinnung für einen partiellen Wahnsinn erklärte, und mit der Annahme jenes Gelehrten entschuldigte, der geradezu in jener allgemeinen Exaltation der Geister eine ansteckende Krankheit, morbus democraticus, hatte sehen wollen. Der alte Geheimerath fand allmählig, daß der Herr Neffe ganz vernünftig sei, wagte es, sein Rasirmesser wieder hervorzuholen, rasirte sich völlig, band die Binde um, zog den Rock über die Flanell-Jacke und reichte jetzt dem Neffen, beruhigt und erfreut die Hand. Sei uns willkommen! Glück auf Deine guten Wege! Was ich kann, werde ich für Dich thun, sagte er und empfahl sich ihm, da es zehn Minuten vor 9 Uhr sei.

Edmund war durch das Reüssiren seines Debüts in so glückliche Laune versetzt, daß er der Tante eine Flasche ächtes Jordanwasser versprach, das er selbst am Flusse eigens für sie geschöpft habe. Als sie sich aber unendlich darauf freute und ihm erklärte: sie habe es stets gewußt, daß er Gemüth habe, eben so viel Gemüth, wie ihre edle Cordelie, – da konnte er die Freude über seine künstlerischen Triumphe nicht länger unterdrücken, und unter dem Vorwande, er sehe der leidenden Tante die Angegriffenheit durch seine Zudringlichkeit und die Freude des Wiedersehns an, entfernte er sich, um mit der edlen Cordelie in deren Zimmer sich zurückzuziehen.

Die Geheimeräthin ließ das gern geschehen bei einem Vetter, der am heiligen Grabe gewesen und Carrière machen wollte. Edmund trug Verlangen, mit der Kousine allein zu sein; mitten in der Freude über die gelungene Lüge vergaß er nicht das Bedürfniß, ehrlich zu sein gegen irgend Jemand, und er meinte in Cordelie die Seele zu finden, gegen die er sich ganz und rückhaltslos mittheilen könne. Er hatte gehofft, sie werde ihm jetzt entgegenstürmen mit Fragen und Vorwürfen: wie ist es möglich? wie konntest Du? was soll ich davon denken? – aber von all diesen Verwunderungen ließ sie nichts laut werden; sie fand Alles so völlig in der Ordnung, geradezu erfreulich, daß sie mit träumerisch-schmachtendem Blicke nur ihren Glückwunsch schien sagen zu können. Da wurde Edmund diese stumme Schwärmerei, diese sentimentale Langeweile unerträglich; in der Stimmung, die keine Ruhe findet, nur Abwechselung will um jeden Preis, war er eben im Begriffe aufzubrechen, als eine unerwartete Erscheinung ihn fesselte.

Mit scharfen Pfötchen hörte man es an der Thüre kratzen und munter bellen. Viktorine! sagte Cordelie, ohne aus ihrer sentimentalen Leblosigkeit sich stören zu lassen. Die Thüre öffnete sich, ein kleines Wachtelhündchen sprang herein und ihm folgte in elegantester Promenanden-Toilette mit rauschendem Seidenkleide und prächtigem Spitzenschleier die Herrin Viktorine.

– Cordelie! rief sie, wie in französischer Aussprache den Ton auf die letzte Silbe legend, so schwungvoll, so spitz, in diesem einen Worte einen so ganz anderen Accent des Redens und Fühlens anschlagend, als Edmund eben sprechen gehört und selbst gesprochen hatte, daß er aufgeweckt wurde wie durch eine Musik in neuem animirtem Takte.

Viktorine umhalste die Freundin, küßte sie mit der Lebhaftigkeit, die ihr ganzes Wesen durchbebte, und mit dem anapästischen Accente nochmals ausrufend: Cordelie, brach sie aus in einen Schmerzensruf, der, obgleich Thränen in ihren diamantnen Augen glänzten, doch nur halb ernsthaft gemeint schien: und denke Dir nur, wir gehen nicht auf den Ball!

Sie hielt Cordelie umschlungen, küßte sie nochmals schmerzlich-herzlich, und jetzt erst gewahrte sie den Fremden im Zimmer. Mit momentanem, sicherem Blick ihn bemerkend, erröthete sie bei dem Gedanken, daß er Zeuge ihrer Zärtlichkeit zu Cordelie gewesen sei und darin eine Koketterie habe erblicken können.

Sobald ihr Edmund als Vetter des Hauses vorgestellt war, wußte sie leicht und ungenirt gegen ihn sich zu benehmen, und jeder Zug ihres Wesens offenbarte stets in neuer Frische denselben eigenthümlich bestimmten lebendigen Accent, den sie im Aussprechen des ersten Wortes bekundet hatte. Sie selbst wußte das Gespräch jetzt anzuregen und in ihrem Sinne zu leiten. Sie wollte über Politik reden; er wich dem aus, indem er das Glück der jungen Damen beneidete, die darüber weinen könnten, daß sie einen Ball nicht besuchen dürften.

Viktorine frug ihn, er besuche wohl keine Bälle, und als er erwiderte, daß er darüber in der That hinaus sei, mußte er fühlen lernen, daß es gefährlich genug sei, sich mit ihr in Neckereien einzulassen und sie von oben herab behandeln zu wollen. Mit dem allerunbefangensten, aber darum desto treffenderen, kindlich-naiven Tone sagte sie ihm die bittere Wahrheit: das konnte ich mir wohl denken; aber ich will doch lieber ein junges Mädchen sein, das um ein fehlgeschlagenes Vergnügen weinen und also bei einem gelungeneren mit ganzem Herzen dabei sein kann, als solch ein siebenundzwanzigjähriger alter Herr, solch ein armer, junger Greis, – um nicht anzüglich zu scheinen, wie man sie so oft sieht.

Sie meinen von jener Art, die es für ehrenvoll halten, die Haare eher zu verlieren, als sie grau werden können, so nahm Edmund ihre Rede auf, um zu zeigen, daß er sich nicht getroffen fühlte, und schüttelte dabei nicht ohne bezügliches, selbstgefälliges Lächeln seine vollen, dunkeln Locken. Sie antwortete mit einem jener rasch vorüberfliegenden sicheren Blicke, durch die sie im Moment so scharf zu beobachten verstand, und mit einer launigen Miene, die ihm das Recht auf diesen augenscheinlichen Beweis gern zuzugestehen schien. Und er, um sich ihr gegenüber das Ansehn einer vollwichtigen Persönlichkeit zu geben, fuhr fort: Man kann ja wohl die Gesellschaft meiden, nicht bloß deshalb, weil man die Fähigkeit zum Genusse nicht besitzt, sondern auch deshalb, weil man größere Ansprüche auf Genuß und Unterhaltung macht, als sie jene gangbaren Soireen von mehr praktischem als interessantem Zwecke gewähren können. Schon daß sie eben einen solchen reellen Zweck haben, ist lästig; man merkt die Absicht und wird verstimmt. Wer aber einen solchen Zweck nicht verfolgt, und das war bei mir, vielleicht weil ich noch keine Anlage zum jungen Greise habe, bisher noch immer der Fall, für den ist im Uebrigen an ein Geltendmachen seiner Persönlichkeit, an ein Ausgeben und Einnehmen geistiger und gemüthlicher Eindrücke nicht zu denken. Man darf nur sagen, thun und lassen, was sich von selbst versteht. Der ganze Inhalt unsres Gesellschaftslebens ist nichts, als das eben ausreichende Maaß von Höflichkeit. Darf man es noch wagen, ausgenommen aber in jener reellen Absicht einer Dame eine Galanterie zu erweisen? Darf man hoffen, und wenn man Jahrelang die Gesellschaften besucht, mit Jemandem zu einem Umgangstone herzlicher Vertraulichkeit zu gelangen? Der Privatmensch und der Gesellschaftsmensch sind in jedem Einzelnen völlig getrennt, und es ist eine riskante Frage, welchem von Beiden man sich anzuschließen vorziehen soll. Jedes Haus hat seine Putzstuben und seine Wohnstuben. In jenen begegnet man sich nur mit Glaceehandschuhen und eingekniffener Lorgnette, in diesen trifft man sich mitten in der Kinder- und Familienmisere. Welche von beiden Lebensarten ziehen Sie vor?

Obgleich Viktorine über diese Moquerien sich freute und laut auflachte, mußte sie doch widersprechen. Aber das ist ja nicht überall so, sagte sie.

– Wo haben wir es nicht so gefunden? frug Edmund maliciös seine Kousine.

Ehe diese zur Antwort kam, hatte Viktorine erwidert: Aber mein Gott, es ist ja Sache der Einzelnen die Gesellschaft sich einzurichten, wie sie wollen. Die Gesellschaft besteht ja aus uns, und wir – sind wir nicht souverain? Schon in unserem Hause, will ich meinen, ist es nicht so schlimm.

– Für die Eingeweihten vielleicht nicht.

– Zu denen aber ein Jeder gehören kann, der das Examen guter Sitte und – vorurtheilsfreier Denkungsart bestehen kann.

– Und wie legt man das Examen ab?

– Man meldet sich nur dazu.

– Und bei wem?

– Wenn man Vertraun zu mir hat, bei mir.

– Und wo und wann darf ich das wagen?

– Begleiten Sie mich, Herr Baron? Ich gehe von hier nach Hause.

Viktorine schied von der Freundin. An der Thüre hatten die beiden sich natürlich noch einmal so viel zu sagen, als sie bei dem ganzen Besuche gethan. Endlich brach man auf. Nach zehn Minuten empfahl sich Viktorine ihrem Begleiter, in ein stattliches Haus eintretend, indem sie sagte: Hier wohnen wir. Nach Tische von 5 Uhr ab hat Mama Visitenstunde. Adieu, auf Wiedersehn – nicht wahr?

An dem Hause las Edmund auf blanker Messingtafel: »H. J. S. Löwe u. Comp.«

*

 


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