Friedrich Gerstäcker
Der Wilddieb
Friedrich Gerstäcker

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XII.

Wie ein Lauffeuer breitete sich indessen das Gerücht in der Stadt aus, »der Kerdelmann«, den sie alle recht gut gekannt, »der Kerdelmann ist wieder da – ist steinreich von Amerika zurückgekommen, und hat sich selber den Gerichten als Mörder des Forstgehilfen Meier gestellt.«

Noch an demselben Abend wußte es jedes Kind in Grafenhoff sowohl wie in Hollendeik, und wenn es auch im Anfang bezweifelt wurde, bestätigten es doch bald spätere Nachrichten. Überdies begann am nächsten Tag ein neues Zeugenverhör in der schon fast vergessenen Sache und rief eine fast unglaubliche Aufregung in dem kleinen Ort hervor.

Wenn Kerdelmann übrigens geglaubt, daß es nur seines einfachen Bekenntnisses bedürfe, Schöffel, den unschuldig Eingekerkerten, befreit und sich selber der nur zu wohl verdienten Strafe überliefert zu sehen, so hatte er sich darin geirrt. Er kannte unseren deutschen vorsichtigen Gerichtsgang nicht.

Eine neue Untersuchung begann; Zeugen wurden aus allen Ecken und Enden herbeigeholt, die alten Aktenstücke bis auf den Grund durchwühlt und neue aufgehäuft – und warum? – Kerdelmann konnte wahnsinnig sein – und die einfache Tatsache, daß er sich selber auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, bewies beinahe das Mögliche in den Augen des Gerichts. Ängstliche, genaue Untersuchung stellte aber nichts dem Ähnliches heraus. Der Unglückliche hatte seine Sinne fest beisammen; ja, wie der erste für ihn furchtbare Moment der Anklage selber vorüber war, schien ihn sogar eine gewisse freudige Ruhe zu erfüllen.

Er beantwortete alle an ihn gestellten Fragen einfach kurz und deutlich, widersprach sich nie, denn er sprach Wahrheit – und das Geschehene stand ja mit Flammenzügen in seinem Herzen eingegraben – und trieb und drängte nur dem einen Ziel jetzt entgegen, daß Schöffel seine Freiheit wiederbekam. – Das kostete Mühe, aber – es geschah doch endlich. Nachdem man alles mögliche angewandt, tatsächliche Beweise für das Gestandene aufzufinden, nachdem sogar der kleine Fluß abgelassen worden, an der bezeichneten Stelle das dort hineingeworfene Büchsenrohr wieder aufzufinden, und dieses, nach achttägiger Arbeit, glücklich zu Tage gefördert worden war, entließ man den bis jetzt unschuldig Eingekerkerten seiner langen Haft und übergab ihm sogar, in Rücksicht auf dieselbe, das ihm von Kerdelmann geschenkte Geld, ohne die Gerichtskosten des Prozesses davon abzuziehen.

Der Vorschlag dazu wurde allerdings gemacht, aber doch für unpassend befunden und zurückgewiesen.

Kerdelmann hatte indessen mit niemandem mehr in Verbindung gestanden, obgleich er sich während der Untersuchungshaft bei seinem Wächter nach allem in der Nachbarschaft auf das angelegentlichste erkundigte. Der Mann war aus Hollendeik gebürtig und kannte dort jedes Kind. Er wußte auch ganz genau, an welchem Tag der Kronenwirt gestorben und begraben sei, und daß die Margarete Freier die Hülle und die Fülle gehabt, aber keinen genommen habe. Trotzdem sei sie noch ein schmuckes Mädel, wenn auch schon ein bißchen in den Jahren.

Kerdelmann hatte sich das alles wieder und wieder erzählen lassen, und war endlich bei dem Assessor um die Erlaubnis eingekommen, daß ihn jemand aus Hollendeik besuchen dürfe.

Da die Untersuchung gegen ihn geschlossen war, hatte man nichts dagegen. Er bekam sogar auf seinen Wunsch Schreibmaterialien in seine Zelle, und der Schließer erhielt darauf von Kerdelmann einen Brief zur Beförderung, der die Adresse trug:

»An Margarete Asfeldt zu Hollendeik
in der Krone.«

Da der Brief unversiegelt war, so gehorchte der Schließer dem Drange seiner Neugier, die Zeilen sofort zu lesen. Sie lauteten einfach:

»Wollen Sie, Margarete, einen Unglücklichen noch einmal sehen, ehe ihn die Strafe seines Verbrechens erreicht hat, so bitte ich Sie dringend, sich morgen nach Grafenhoff und zu mir zu bemühen. Ich habe die Erlaubnis erhalten, einen Besuch zu empfangen – aber ich habe nur Zeit bis morgen. Sind Sie um vier Uhr nicht bei mir, so nehme ich an, daß Sie den Elenden nicht wieder sehen wollen, der unsägliches Leid auf so viele unschuldige Häupter gehäuft hat, wenn sein eigenes Herz auch jetzt von Reue zerknirscht und gebrochen ist. Ich selber betrachte Ihren Besuch als die einzige Gunst, die ich noch vom Leben erflehe.

Joseph Kerdelmann.«

Der Schließer musterte die Zeilen kopfschüttelnd ein paarmal durch. Da fiel ihm ein, daß der Gefangene von eben diesem Mädchen in früheren Jahren einen Korb bekommen und daß dieser Korb für die alleinige Ursache seiner Auswanderung nach Amerika gegolten hatte. Es war natürlich, wenn er Margarete geliebt, daß er sie noch einmal sehen wollte, bevor ihn die Mauern des Strafhauses für immer von der Welt schieden.

Der Brief mußte, der Ordnung nach, erst dem Assessor vorgelegt werden. Herr Bellert hatte aber nicht gleich Zeit oder Lust, ihn durchzusehen. Er ließ ihn bis zum nächsten Morgen liegen. Dann wurde er befördert und Margarete erhielt ihn des Nachmittags.

Kerdelmann verhielt sich indessen vollkommen ruhig in seiner Zelle und sprach so heiter mit seinem Wächter, wie dieser ihn noch gar nicht gesehen. Am nächsten Morgen räumte er seine Zelle auf, legte reine Kleider an und bereitete sich auf seinen Besuch vor.

Aber Stunde auf Stunde verging und niemand kam. Eine eigentümliche Angst schien sich des Gefangenen unter der Zögerung zu bemächtigen. Der Mittag rückte heran, und Kerdelmann berührte die ihm gebrachte Kost nicht, aber unzähligemal fragte er den Schließer, ob denn auch sein Brief ordentlich bestellt sei. Von diesem, der um die Verzögerung nicht wußte, erhielt er nur bejahende Antworten, – die Zeit jedoch verstrich.

Es schlug vier Uhr draußen – der letzte Termin, den er Margareten gesetzt – und sie war nicht gekommen.

Wohl eine Stunde noch saß er still und schweigend, den Kopf in die Hände gestützt, auf der Pritsche, die ihm zum Lager diente, dann richtete er sich langsam auf und ging zu seinem Tisch, auf dem das Schreibzeug von gestern noch stand.

Es fing schon an zu dämmern, aber es waren auch nur einige Zeilen, die er auf ein Blatt schrieb, das er offen auf dem Tisch liegen ließ.

Als bald darauf der Schließer die kleine Klappe von außen öffnete, von der aus er seine Zelle übersehen konnte, lag der Gefangene auf seinen Knien neben dem Bett und betete. Erstaunt sah ihm der Schließer eine Weile zu. – Es war das erste Mal, daß er ihn in solcher Lage traf, und er wollte ihn nicht stören. Er schloß leise die Klappe wieder und ging langsam den Gang entlang in seine Stube oben.

Eine halbe Stunde mochte verflossen sein, als ein Wagen vorfuhr, aus dem ein Bauernmädchen stieg, und gleich darauf wurde der Schließer hinabgerufen. Die eben Gekommene verlangte einen der Gefangenen zu sprechen.

»Hallo, Gretchen,« sagte der Mann, der sie von Hollendeik aus gut genug kannte, »der arme Teufel da oben hat mit Schmerzen schon den ganzen Tag auf dich gewartet – er muß dir doch wohl 'was recht Notwendiges zu sagen haben.«

»Kann ich ihn sehen, Thomas?« sagte Margarete mit leiser, zitternder Stimme – »ich habe ja den Brief erst heute nachmittag bekommen.«

»So spät? – ja, sehen kannst du ihn gewiß; der Herr Assessor hat's erlaubt. Die Untersuchung ist vorbei, und ich denke, morgen früh wird ihm sein Urteil publiziert werden. Es ist heute abend eingetroffen.«

»Ist er oben?«

»Ja, Schatz, wo soll er denn sonst sein? Unsere Gesellschaft findest du immer zu Haus.«

»Bitte, Thomas, führe mich zu ihm hinauf.«

»Nun, warte nur einen Augenblick, mein Schatz,« sagte der Mann. »Auf der Treppe wird's schon finster sein und sie sind erst dabei die Lampen anzustecken. Ich will ein Licht mit hinaufnehmen.«

Der Mann ging unten in die Wachtstube hinein, holte von dort ein angezündetes Licht heraus, und mit den Worten: »Na, nu komm und nimm dich ein bißchen in acht, daß du mir nirgends gegenrennst,« stieg er, von dem Mädchen gefolgt, langsam die breite steinerne Treppe hinauf, die zu der Zelle des Gefangenen führte.

In den Gängen war es indessen vollständig dunkel geworden und einer der Leute eben draußen beschäftigt, die dort aufgehangenen Lampen anzuzünden – der Docht wollte nur noch nicht recht brennen.

Thomas, der Schließer, schritt langsam den Gang entlang, und Margarete, die sich dicht hinter ihm hielt, faßte es mit unheimlich wildem Schauer, als sie an den mit Schlössern behangenen niederen Türen vorüberging. Wieviel Elend, wieviel Jammer lag dahinter verborgen, wieviel Verbrechen lauerten hinter jenen Riegeln – und wenn sich jetzt die kleinen Klappen geöffnet hätten – wenn irgend ein Schreckbild seinen Arm nach ihr herausgestreckt hätte! Eiskalt überlief es das Mädchen bei dem Gedanken, und scheu warf es den Blick nach links und rechts hinüber und auf den eigenen Schatten zurück, der von dem unsicher getragenen Licht bald da, bald dorthin unstet schwankte.

»Nummer 17,« sagte da Thomas, das Licht etwas emporhebend, daß er die kleine rauchgeschwärzte Nummertafel über dem Eingang erkennen konnte – sahen sich doch die Türen einander gleich – »da drinnen ist er. Heda, Kerdelmann!« rief er dann, die kleine Klappe öffnend, ehe er die Tür aufriegelte und aufschloß, »seid Ihr bereit? – es kommt Besuch.«

Es war vollkommen finster in dem dunkeln Raum, aber niemand antwortete.

»Er ist wahrhaftig ausgegangen,« lachte Thomas in sich hinein, und deckte seine Augen mit der Hand gegen das Licht, um besser sehen zu können – »he, Kerdelmann! – schlaft Ihr?«

Keine Antwort.

»Hm,« sagte der Mann, den Kopf schüttelnd, während er ohne weiteres die Klappe wieder schloß und die beiden schweren Riegel zurückschob, »der muß schlafen wie ein Dachs.«

Das schwere Schlüsselbund klirrte, das Schloß kreischte, und gleich darauf öffnete sich die dicke, eisenbeschlagene Tür in ihren Angeln.

Margarete faßte ein eigenes, herzzerschneidendes Weh – das Blut stand ihr still, und sie mußte sich an die Wand lehnen, um nicht umzusinken.

Der Mann trat mit dem Licht hinein; das Mädchen wagte nicht ihm zu folgen – und doch blieb er so lange, und auf dem Gang war es so düster und wie leises, unheimliches Flüstern tönte es von allen Seiten an ihr Ohr. – Auch in der Zelle wurde kein Wort gesprochen. – Endlich kam der Schließer zurück, aber anstatt sie hineinzuführen, schloß er die Tür wieder hinter sich und schob die beiden Riegel vor.

»Ist er nicht drinnen?« frug jetzt Margarete zögernd.

»Ja,« brummte der Gefängniswärter, – »aber – er nimmt keinen Besuch mehr an.«

»Habt Ihr ihm gesagt, daß ich da sei?« forschte das Mädchen mit schüchterner Stimme.

»Hm – komm, Gretchen,« sagte der Schließer, und putzte das Licht, das er in der Hand trug, »es ist – es ist besser, wir gehen hinunter.«

»Was ist geschehen – um Gottes willen – Ihr seid – Ihr seid so sonderbar – darf ich denn nicht hinein?«

»Nein, mein Herz,« sagte der Mann ruhig – »lieber nicht. Es sieht häßlich da drinnen aus. – Ich glaube nicht, daß sie der Nummer 17 ihr Urteil morgen früh vorlesen werden.«

Margarete blieb stehen – ihr Herzblut stockte, und das Gewölbe fing an sich mit ihr herumzudrehen; aber stark, wie sie immer war, sammelte sie sich rasch wieder, faßte den Arm des Schließers und sagte:

»Thomas – führt mich hinein zu dem – Toten.«

Der Schließer sah sie verwundert an und schien keine Lust zu haben, ihren Wunsch zu erfüllen; aber das Mädchen fuhr fort:

»Ich habe die Erlaubnis erhalten ihn zu sehen – lebend oder tot, was liegt daran! Er war ja doch schon tot für die Welt – ob er auch noch atmete.«

»Es sieht häßlich aus, Gretchen,« versetzte der Schließer abmahnend.

»Bitte, guter Thomas.«

»Na – meinetwegen – mir kann's recht sein,« sagte kopfschüttelnd der Mann und schloß die Tür wieder auf – »aber lange dürfen wir nicht bleiben, denn ich muß gleich die Meldung machen.«

»Nur einen einzigen kurzen Augenblick.«

Die Riegel klirrten wieder zurück, das Schloß knickte in seiner Feder und die dunkle Zelle lag offen vor ihr da. Der Schließer aber trat voran hinein, und das Licht hoch haltend, deutete er schweigend auf den Körper, der ausgestreckt auf dem Lager ruhte. Über die Art seines Todes brauchten sie auch nicht lange im Zweifel zu sein; ein abgebrochenes Stück des irdenen glasierten Schreibzeuges hatte ihm dazu gedient, sich mit dem scharfen Bruch die Adern an Händen und Füßen zu öffnen, und das Leben war längst entflohen.

Sein Tod aber mußte leicht und schmerzlos gewesen sein, denn stiller Frieden lag über dem Angesicht des Unglücklichen, der sein Verbrechen schwer und lange gebüßt.

»Hm – der arme Sünder,« brummte der Schließer leise – »ist nur von Amerika wieder herübergekommen, um den Schöffel frei zu machen.«

Margarete sagte kein Wort. Sie war neben dem Toten auf die Knie gesunken und betete still.

Als sie einige Minuten so verbracht, richtete sie sich langsam auf und wollte die Zelle wieder verlassen. Da fiel ihr Blick auf den Tisch, auf dem ein beschriebenes Blatt lag. Sie trat hinzu, und es zum Lichte haltend, las sie die wenigen Zeilen. Sie lauteten:

»Auch das Letzte ist mir versagt worden. Sie will mich nicht mehr sehen und ich kann nicht länger warten. Heute ist der Jahrestag, an dem ich jenen Unglücklichen erschlug – heute noch muß ich vor meinen Richter treten, der meiner verzweifelnden Reue gnädig sein möge. Was ich auf der Erde noch zu tun hatte, hab' ich erfüllt – was mir dort bevorsteht, weiß nur er – seinen Händen übergeb' ich mich – Lebt wohl!

Nummer 17.«

Langsam legte Margarete das Blatt auf den Tisch zurück; große, helle Tränen tropften aus ihren Augen. Thomas hatte das Blatt ebenfalls aufgenommen und durchgelesen und schritt jetzt ebenso schweigend mit ihr die Treppe hinab.

Der Wagen hielt noch unten vor der Tür.

»Gute Nacht, Thomas,« sagte sie, als sie ihr bleiches Antlitz noch einmal gegen ihn drehte, und wenige Minuten später rollte das Fuhrwerk rasch die Straße nach Hollendeik zurück.

 


 


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