Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Zeit verstrich. Schöffel war in das Stadtgefängnis abgeführt worden, und die gegen ihn eingeleitete Untersuchung nahm den gewöhnlichen, tödlich langsamen Gang. Was nur irgend als gegen ihn zeugend aufgefunden werden konnte, wurde mit ängstlicher Sorgfalt gesammelt, und sein früheres wildes und oft gesetzloses Leben bot der Anschuldigung leider nur zu vielen Stoff.
Vormals schon, als Schöffel noch vom Wilddiebstahl lebte, wie er eingestanden, war ein Jäger in jener Gegend erschossen und der Täter nicht aufgefunden worden. Auch dieses Mordes suchte man ihn jetzt zu überführen, und aus allen Teilen des Landes wurden deshalb Zeugen vorgefordert. Vergebens ermahnte man ihn aber wieder und wieder, daß er durch ein reumütiges Bekenntnis sein Gewissen entlasten solle, vergebens suchte man ihn durch Kreuzverhöre zu verwirren. Er blieb bei seiner Aussage, daß er unschuldig an diesem wie an dem früheren Morde sei, und lange Monate schmachtete er fort in enger, qualvoller Haft, während die Seinen daheim mit dem Mangel zu kämpfen hatten.
In Hollendeik war die ganze Sache unter der Zeit schon fast vergessen, und kam wirklich das Gespräch einmal darauf, so hörte man höchstens die Frage, »ob der Schöffel schon gestanden hätte«. Ein anderer Forstgehilfe war an Meiers Stelle getreten, und das Leben dort ging seinen gewöhnlichen Gang.
Der Wirt Kerdelmann hatte allerdings ebenfalls zum Verhör in die Stadt nach Grafenhoff gemußt, aber der Verdacht, der ihn traf, war kein anderer, als daß er gediebtes Wild von Schöffel gekauft hätte. Das leugnete er und fügte hinzu, obgleich er Ursache habe, gegen Schöffel bös zu denken, weil dieser ihn einmal habe ins Unglück bringen wollen, so hege er doch keinen Groll mehr gegen ihn. Ja, er hoffe, der Kreiser werde sich von der schweren Anklage zu rechtfertigen wissen und auf seinen Posten und zu seiner Familie zurückkehren.
Im Roten Hirsch fehlte es aber jetzt sehr häufig an Wildbret, denn der Wirt verbrauchte tatsächlich nur, was er von den benachbarten Forsteien kaufte. Er selber sprach natürlich nie über diese Veränderung und wich den deshalb an ihn gestellten Fragen aus; aber die Jäger vom Hollendeikschen Revier zweifelten keinen Augenblick, daß Schöffels Gefangennahme die einzige Ursache derselben sei, und freuten sich, diese Geißel des Wildstandes los zu sein.
Etwas Neues gab übrigens den Leuten zu Hollendeik bald andern, nicht gerade unerwünschten Stoff zur Unterhaltung, und das war die verunglückte Werbung des Wirtes vom Roten Hirsch um die Tochter des Kronenwirtes. Kerdelmann war in der Tat vor einiger Zeit zum Kronenwirt gegangen und hatte den gebeten, seinen Groll gegen ihn fahren zu lassen, da er gern in ein freundnachbarliches Verhältnis mit ihm zu treten wünsche. Dagegen hatte sich der Kronenwirt fürs erste etwas gesträubt, denn er wie alle anderen im Dorf teilten den Glauben, daß Kerdelmann mit Schöffel unter einer Decke gesteckt und der unglückliche Meier infolgedessen seinen Tod gefunden habe. Beweisen konnte man dem Mann aber doch nichts; nachsagen ließ sich ihm sonst kein Unrecht, er betrug sich still und höflich gegen jeden, und da er den ersten Schritt zu einem guten Vernehmen getan, so mochte der Kronenwirt zuletzt nicht »nein« sagen.
Vergebens suchte aber Kerdelmann, so vorher wie nachher, eine Zusammenkunft mit Margareten, umsonst gab er ihr das verabredete Zeichen viele Abende hintereinander; sie kam nicht, und so oft er nach der Aussöhnung mit dem Vater dessen Gastzimmer betrat, wich sie ihm aus, so rasch sie irgend konnte.
Kerdelmann ward dadurch mit peinlicher Angst erfüllt: er ahnte den wahren Grund. Margarete hatte den Verdacht gegen ihn nicht fahren lassen, und ihre Liebe war dem Grausen vor seiner Tat gewichen. Aber was hätte es ihr geholfen, wenn sie selber als Anklägerin gegen ihn aufgetreten wäre? Der einzige Beweis, der wirklich gegen ihn zeugen konnte – das, was er an jenem Morgen in seinem Keller vergraben, um es nur augenblicklich aus dem Wege zu räumen – war vernichtet, und der Mund des Toten selber stumm. Sowie er sich etwas sicher wußte, hatte Kerdelmann die blutigen Kleider ausgegraben und in seinem Ofen verbrannt. Auch den Kolben der Büchse verbrannte er, den Lauf endlich hatte er mit Schloß und Beschlägen in ein tiefes Loch des Flusses geworfen; dort mochte es rosten. Trotzdem wurde ihm der Aufenthalt an dem Orte seines Verbrechens mit jedem Tage drückender; er wußte nur noch nicht recht, wie er ihn, ohne Aufsehen zu erregen, verlassen könne.
Daß ihn Margarete nicht mehr liebe, davon mußte er sich nach ihrem Betragen für überzeugt halten. Hatte er doch keine Ahnung davon, mit welcher Treue das arme Herz noch immer an ihm hing und wie es sich in Zweifeln, Kummer und Schrecknissen abmarterte, unfähig, den furchtbaren Argwohn zu bewältigen, der ihr den Geliebten für immer zu entreißen drohte. Aber um sein Verhältnis mit dem Mädchen zu einer Entscheidung zu treiben, ging er, ohne vorher mit Margareten Rücksprache genommen zu haben, eines Morgens zum Kronenwirt und warb um sie. – Er wußte es vorher, daß er sie ihm abschlagen würde.
Acht Tage später wußte ganz Hollendeik – obgleich der Kronenwirt mit keinem Menschen darüber gesprochen – von dem Korbe, den Kerdelmann von der »Kronen-Margaret« davongetragen. Darauf wollte er nun, so hieß es weiter, seinen Hirsch verkaufen und nach Amerika ziehen. Noch acht Tage später stand sein Wirtshaus zum Verkauf angezeigt, und bald hatte sich auch ein Liebhaber dazu gefunden.
Natürlich bildete das in Hollendeik für eine ganze Weile das Tagesgespräch. Kerdelmann aber besorgte ruhig und ohne irgend etwas zu übereilen, seine Geschäfte, verkaufte sein Haus und Inventarium um einen billigen Preis gegen bar Geld, und behielt nur ein kleines, dazu gehörendes Stück Land von etwa anderthalb Acker mit einem kleinen Häuschen darauf zurück, für das er, wie er meinte, eine andere Verwendung hatte. Welche? sagte er niemandem.
Der Tag der Abreise rückte heran, und gern hätte er Margareten Lebewohl gesagt, wenn er sich auch vor einer Zusammenkunft mit ihr fürchtete. Er durfte sich aber nicht fortschleichen; das hätte ihren Verdacht nur noch mehr bestärkt. Das Zeichen warf er ihr deshalb auch in den Garten und harrte am Abend wohl eine Stunde lang, daß sie kommen solle – aber sie kam nicht. Die Tür blieb verschlossen, auch in ihrem Zimmer war kein Licht. Nur als er, eigentlich froh darüber, nach längerem nutzlosen Harren den Platz wieder verließ, sah er die Gestalt des Mädchens wie damals still und regungslos am Fenster stehen. Er floh, als er den Hofraum verlassen hatte, in sein Haus hinüber, als ob er die Häscher auf seinen Fersen wüßte.
Am nächsten Morgen war er aus Hollendeik verschwunden. Eine Stunde vor Tag schon hielt der leichte Wagen, der ihn nach der Stadt bringen sollte, vor dem Roten Hirsch. Sein Gepäck hatte er schon vorausgeschickt. Von der Stadt weiter ging er dann mit der Eisenbahn nach Bremen oder Hamburg oder England. Niemand wußte genauer wohin – niemand kümmerte sich aber auch viel darum, denn Kerdelmann hatte sich in Hollendeik, obgleich er gegen alle freundlich war, doch auch nicht einen einzigen wirklichen Freund erworben. Sein zurückhaltendes, verschlossenes Wesen stieß jeden ab, der sich ihm herzlich hätte nähern wollen, und eigentlich gönnte man es ihm, daß er von der »Kronen-Margaret« den Korb bekommen hatte und ihm damit der fernere Aufenthalt im Orte verleidet worden sei.
Der Wagen aber, der den bisherigen Hirschenwirt in die Stadt führen sollte, hatte nicht den nächsten Weg dorthin eingeschlagen. Er bog draußen im Felde rechts ab und zwar nach Herslingen hinauf. Durch Herslingen fuhr er durch, und erst eine Viertelstunde davon, dort, wo das kleine vereinzelte Häuschen stand, ließ Kerdelmann halten und stieg aus. – Es war das Häuschen des früheren Kreisers Schöffel.
Es mochte acht Uhr morgens sein, und die arme Frau saß eben mit ihren beiden Kindern bei der dürftigen Morgensuppe. Als der Wagen vor dem Hause hielt, erschrak sie, daß ihr der Löffel aus der Hand fiel. Erwartete sie doch nichts anderes als wieder einen Herrn vom Gericht, mit bitteren Worten und neuen Vorladungen oder gar – die Glieder flogen ihr ordentlich am Leib – mit der Anzeige von der Verurteilung ihres Mannes.
Den Wirt kannte sie nur dem Namen nach; sie hatte ihn nie vorher gesehen. Kerdelmann nannte sich ihr auch nicht. An ihren bleichen, angsterfüllten Zügen mochte er aber wohl merken, was sie fürchtete, denn er sagte rasch:
»Habt keine Sorge, liebe Frau; ich bringe Euch keine schlechte Nachricht und möchte Euch vielmehr eine Freundlichkeit erweisen – Euch wenigstens einen Vorschlag machen, den Ihr vielleicht annehmbar findet.«
»Ach du mein lieber Gott,« sagte die Frau mit einem aus tiefster Brust herausgeholten Seufzer – »es ist eine lange, lange Zeit her, bester Herr, daß etwas Gutes über diese Schwelle gekommen wäre. Not und Herzeleid aber sind wir hier gewohnt – das sind tägliche Gäste.«
»Ich weiß alles, liebe Frau,« sagte Kerdelmann, dem daran lag, jedes Gespräch über das Vorgefallene abzuschneiden – »deshalb komme ich eben her, Euch eine Hilfe anzubieten.«
»Uns? eine Hilfe?« stöhnte die Frau, langsam den Kopf schüttelnd – »was kann uns helfen? Der Vater sitzt im Gefängnis, der arme Mann – unschuldig, so wahr da oben ein Gott im Himmel lebt, und ich kann nur mit den armen Würmern da ins Wasser springen – sie zu ernähren bin ich doch nicht imstande.«
»Habt Ihr hier Feld bei Eurem Haus?« fragte der Wirt nach einer kleinen, aber für ihn entsetzlich beklemmenden Pause.
»Feld? – nein,« erwiderte die Frau, sich mit der Schürze die Tränen abtrocknend – »und wenn wir's auch hätten. Das Grundstück gehört nicht uns, und übermorgen müssen wir ausziehen – Gott allein weiß wohin.«
»Das hatt' ich eben gehört,« sagte Kerdelmann, »und deshalb komme ich her. Ich selber habe bis jetzt in Hollendeik gewohnt, verreise aber auf längere Zeit und besitze dort unten noch anderthalb Acker Land und ein kleines, aber für Euch doch wohl genügendes Häuschen. Das möcht' ich Euch gern für einen mäßigen Pacht überlassen.«
»Du lieber Gott,« sagte die Frau, »ich habe keinen Kreuzer mehr im Haus, uns für diesen gesegneten Tag Brot zu kaufen; wie sollte ich imstande sein, irgend einen Pacht zu zahlen, und wenn er noch so billig wäre.«
»Das läßt sich doch wohl ordnen,« bemerkte der Fremde. »Wahrscheinlich bleibe ich längere Zeit weg, und mir liegt mehr daran, das Grundstück im Stand zu halten, als andern Nutzen daraus zu ziehen. Schafft nur getrost Eure Habe hinunter. Für dieses Jahr sind die Steuern darauf bezahlt und erlasse ich Euch den Pacht ganz. Später verlange ich – nun, das wird sich finden, wenn ich von meiner Reise zurückkomme. Seid Ihr's zufrieden?«
Die Frau horchte hoch auf, sie konnte sich nicht denken, daß ihr so Gutes geboten würde. »Und was wäre sonst noch zu tun?« fragte sie schüchtern.
»Nichts, als was ich Euch eben gesagt habe,« erwiderte Kerdelmann. »Nichts, als drüben einzuziehen, das Grundstück in Besitz zu nehmen – hier sind die nötigen Papiere, die man Euch etwa abfordern kann. Mit der Pachtzahlung wartet Ihr, bis ich selber danach komme, was vor drei Jahren keinenfalls geschieht.«
»Aber wie kommen Sie dazu, mir und den armen Kindern da so viel Gutes zu erweisen?« stotterte die Frau, die sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholen konnte. »Wie heißen Sie und wer sind Sie?«
»Das findet sich alles in den Papieren,« beschwichtigte der Mann, indem er sich der Tür zuwendete. Es wurde ihm so schwül in dem kleinen, niedrigen Zimmer, daß er glaubte, die Decke erdrücke ihn noch.
»Aber ich begreife nicht,« versetzte die Frau und begann die Dokumente zu entfalten. »Es ist mir, als träumte ich nur.«
»Lebt wohl!« sagte der Fremde und verließ rasch das Haus. Vor der Tür hielt sein Wagen und er sprang hinein.
Die Frau hatte indessen mit zitternden Händen in den Papieren geblättert, es schwamm ihr alles vor den Augen und sie konnte die große deutliche Schrift kaum lesen. Da fiel ihr Blick auf den Namen.
»Jesus Maria Joseph!« schrie sie auf, »Ihr seid es, der Hirschenwirt!«
Der Mann hatte sich in die Ecke des Wagens geworfen, und der Kutscher hieb in die Pferde hinein, die jach mit ihm den Hang hinunter trabten.