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Eben schlug es auf dem alten Kirchturm von Grafenhoff neun Uhr, als der Assessor Bellert, mit aufgespanntem Regenschirm gegen das Wetter ankämpfend, in der gewölbten Tür des alten Polizeigebäudes erschien, sich umdrehend den triefenden Schirm schloß und durch ein heftiges Aufstampfen mit den Füßen das feuchte Element soviel als möglich von seinem Körper abzuschütteln suchte.
»Das ist ein Heidenwetter,« sagte er dabei. »Nicht einen Hund möchte man 'naus jagen in solchen Sturm. Na, was gibt's, Ortel?«
Der Polizeidiener trat mit der Mütze in der Hand an seinen Vorgesetzten heran:
»Bitt' um Entschuldigung, da drinnen in der Wachtstube sitzt seit anderthalb Stunden ein Herr, der Sie zu sprechen verlangt.«
»Mich? – wer ist es denn?«
»Kenn' ihn nicht, Herr Assessor, trägt einen großen Bart und sieht so blaß aus wie der Tod, und ist dabei so naß, daß das Wasser nur so an ihm herunterläuft. Er muß die ganze Nacht durch marschiert sein, wer er aber ist und wo er herkommt, will er nur Ihnen selber sagen.«
»Hm; na lassen Sie ihn noch einen Augenblick warten, bis ich oben bin – ich werde dann klingeln. Doch kein verdächtig Individuum, Ortel?«
»Glaube nicht, Herr Assessor. Wenn ihn das Wetter nicht so zugerichtet hätte, müßte er ganz anständig aussehen. Wir haben seine Sachen drin ein wenig an den Ofen gehangen, aber er spricht kein Wort und stiert nur immer vor sich nieder. Glaube beinahe, daß es hier nicht recht richtig mit ihm bestellt ist,« – und Ortel deutete auf seine Stirn.
»Dann bleibe einer von euch an der Tür, wenn er bei mir ist.«
Der Herr Assessor ging in sein Bureau hinauf; aber es dauerte wohl eine halbe Stunde, ehe er wieder an den Fremden dachte, der vorgelassen werden wollte. – Vor allen Dingen mußte er es sich da oben bequem machen. Er zog seinen Oberrock aus und den alten Arbeitsrock an, hing den ersten an den dazu bestimmten Nagel, streifte die Schreibärmel über und packte Taschentuch, Frühstück, Brillenfutteral, Tabaksdose und Zeitung aus, was sämtlich in und auf dem Stehpult geordnet wurde. Dann holte er sein Federmesser aus der Westentasche und unterhielt sich dabei mit einem der schon früher gekommenen Kollegen über das schreckliche Wetter und das gestrige Bier; er hatte den Mann, der da unten auf ihn wartete, schon fast vergessen.
Auf einmal fiel ihm Ortels Meldung wieder ein, und mit einem mißvergnügten: »Nichts als Schererei!« zog er an der vor ihm hängenden Klingelschnur.
Wenige Minuten später betrat Ortel mit dem Fremden das Zimmer. Dieser sah aber wirklich so totenbleich aus und zitterte so, daß er sich kaum auf den Füßen erhalten konnte. Der Assessor bot ihm einen Stuhl an, auf den er sich niederließ und dann eine Weile still vor sich hinstarrte.
»Sie haben mich zu sprechen verlangt,« sagte Herr Bellert endlich, der nicht wußte, was er aus dem Mann machen sollte.
»Ja,« hauchte dieser. – »Ich – habe Ihnen eine Mitteilung zu machen; vorher aber wünschte ich noch einen Zeugen dabei zu haben.«
»Herr Aktuar Nielitz hier nebenan wird Ihnen wohl genügen?«
»Nein – einen andern,« sagte der Fremde, ohne bis jetzt die Augen aufzuschlagen.
»Eine bestimmte Person? Und welche denn?«
»Wie ich von Ihren Leuten gehört habe –«
»Ich muß Sie bitten, etwas lauter zu sprechen. Ich bin wirklich nicht imstande zu verstehen, was Sie sagen.«
»Wie ich von Ihren Leuten unten gehört habe,« wiederholte der Fremde, der Aufforderung mühsam Folge leistend, »so befindet sich hier in Ihrer Strafanstalt ein Gefangener namens – Schöffel, – wegen der Tötung eines Forstbeamten verurteilt. Ist dem so?«
»Schöffel? – Schöffel?« sagte der Assessor, sich besinnend. »Ja, ich glaube. Das ist nämlich eine alte Geschichte, mein Herr!«
»Es sind jetzt etwa neun Jahre her.«
»Ich kenne den Burschen,« rief der Aktuar vom Nachbartisch herüber, der nur durch eine kleine Galerie von dem seines Kollegen getrennt war. »Christoph Schöffel, Nummer 34. – Seine Frau hat neulich wieder ein Gnadengesuch eingereicht, das abschlägig beschieden worden.«
»Es ist derselbe,« sagte der Fremde, sein dunkles Auge gegen den Sprecher erhebend. »Ihn eben wünsche ich als Zeugen.«
»Den Gefangenen?« rief Bellert erstaunt. »Das geht nicht; den kann ich Ihnen nicht herschaffen lassen.«
»Ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen,« lautete aber des Fremden ruhige Antwort, »die nur in seiner Gegenwart möglich ist.«
»Hm – das ist ja eine wunderliche Geschichte,« brummte der Assessor, indem er langsam die Dose öffnete und eine Prise nahm, – »eine sehr – sehr wunderliche Geschichte. Vor allem, welches ist Ihr Name?«
»Ich möchte vorher keine Frage beantworten, bis Schöffel gegenwärtig ist,« sagte der Fremde.
»Hm,« brummte Herr Bellert, stand dann auf und flüsterte eine Weile mit seinem Kollegen. Dieser zuckte ein paarmal die Achseln; endlich setzte sich der Assessor Bellert wieder auf seinen Stuhl, zog die Klingel und bedeutete den darauf eintretenden Ortel:
»Nummer 34 von drüben soll hier herübergeführt werden. Nehmen Sie aber auch gehörige Wache mit.«
»Nummer 34?« frug der Gerichtsdiener zurück, um ja kein Versehen zu machen. Sein Vorgesetzter nickte, und Ortel verschwand.
Der Fremde war indessen auf seinen Stuhl zurückgesunken und holte tief Atem. Endlich stützte er beide Ellbogen auf die Knie, barg sein Gesicht in den Händen und saß laut- und regungslos da. Ein paarmal ging die Tür auf, und er zuckte dann wohl jedesmal zusammen, rührte sich aber nicht, bis draußen auf dem Gang endlich die Schritte mehrerer Männer laut wurden, gleich darauf die Tür geöffnet wurde und Ortel mit lauter Stimme meldete: »Nummer 34!«
Da richtete sich der Fremde langsam auf, und wenn es möglich war, so erschien sein Gesicht jetzt noch fahler, sein Blick hohler denn vorher.
Der Gefangene trat langsam vor. Schöffel war in der langen Zeit seiner Haft alt geworden; die Kerkerluft hatte seinen Zügen eine ungesunde Farbe gegeben, während das Auge allen Glanz verloren. Die roten Haare hatte man ihm dabei kurz abgeschnitten, und er ging in die graue, unheimliche Tracht der Sträflinge gekleidet.
Auch sein Blick war scheu und unstet geworden. Er flog von einem zum andern und haftete zuletzt auf dem Fremden. Die übrigen kannte er gut genug; wie manche peinlich lange Stunden hatten sie ihn hier gequält.
Damals berief er sich wohl noch auf seine Unschuld bei dem ihm zur Last gelegten Verbrechen; aber jetzt war das längst vorbei, und die Sache abgemacht. Fünfzehn Jahre Zuchthaus ist eine lange Zeit, und wenn er auch sieben schon davon abgesessen – zwei Jahre dauerte die Untersuchung, die man ihm natürlich nicht zu gute rechnete – so blieb es zweifelhaft, ob er das Leben noch acht Jahre ertragen konnte. Jetzt wußte er in der Tat selber kaum mehr, ob er den Mord wirklich verübt habe oder nicht. Es blieb sich auch nun gleich, und er fürchtete sich fast vor der Zeit, wo er – ein alter Mann mit einem zerstörten Körper und gebrandmarkten Namen, wieder in das Leben hinausgestoßen werden sollte.
Sein Blick und der des Fremden begegneten sich. Aber der Gefangene kehrte sich gleichgültig wieder ab. War er doch nur neugierig, was man von ihm wolle. Jedenfalls freute es ihn, daß man ihn gerufen, gleichviel wozu. Es blieb doch immer eine Unterbrechung seiner monotonen Haft – ein Augenblick, in dem er mit freien Menschen verkehren durfte – und war's auch nur mit Polizeileuten.
»Hier, mein Herr,« sagte der Assessor Bellert, indem er auf den Gefangenen zeigte, »hier also ist der Mann, den Sie zu sehen wünschen. Du bist doch Schöffel von Herslingen, nicht wahr?«
Der Gefangene drehte langsam den Kopf nach ihm hinüber.
»Wer? – ich, Herr Aktuarius? Ja, ich glaube wohl,« setzte er mit einem unheimlichen Lächeln hinzu, »aber gewiß weiß ich's freilich nicht mehr. Es ist so lange her, daß ich meinen eigenen Namen nicht gehört; ich glaube, ich könnte nicht einmal mehr darauf schwören. Hier heiß' ich Nummer 34, wenn ich auch früher nur gedacht, daß so eine Nummer bloß eine Klafter Holz oder einen Haufen Reisig bedeuten könne. Wenn Sie in den Akten hinter der Nummer nachsehen, werden Sie den richtigen Namen wohl finden.«
»Schon gut, schon gut; wir wollen nichts weiter von dir wissen,« sagte der Assessor ungeduldig und winkte ihm mit der Hand, »du hast nur auf an dich gerichtete Fragen zu antworten.«
»Nummer 34 gehorcht!« sagte der Mann ruhig und sah still vor sich nieder.
Der Fremde hatte indessen keinen Blick von den rauhen Zügen des Unglücklichen verwandt. Jetzt aber, als der Assessor schwieg, richtete er sich empor und sagte dann mit gewaltsam gesammelter, aber ruhiger und fester Stimme:
»Herr Assessor Bellert, haben Sie Zeit, eine Geschichte anzuhören?«
»Wenn sie nicht zu lange dauert,« erwiderte dieser, nach der Uhr sehend. »Es ist fast dreiviertel auf zehn Uhr, und um zehn sind Leute herbeschieden.«
»Ich werde mich kurz fassen,« hauchte der Fremde, fuhr sich mit der Hand über die bleiche, mit großen hellen Tropfen bedeckte Stirn und begann:
»Sie wissen, daß vor neun Jahren im Hollendeiker Revier, am Rande einer Kieferndickung, der Forstgehilfe Meier ermordet gefunden wurde?«
Schöffel, der beiseite stand und bis jetzt geglaubt hatte, daß vorher, ehe er vorgenommen wurde, erst noch eine andere, ihm gleichgültige Sache verhandelt werden solle, zuckte, sowie er den Namen hörte, jäh empor.
»Allerdings,« sagte der Assessor, »und dort steht sein Mörder. – Er hat zwar bis auf den heutigen Augenblick noch frech geleugnet, die Beweise waren aber so überzeugend gegen ihn, und sein ganzes früheres Leben bezeugte die Tat dermaßen, daß ihn die Gerichte zu der Strafe verurteilten, die er jetzt verbüßt.«
»Einen Zeugen in der Sache haben Sie aber noch nicht vernommen,« sagte der Fremde, »oder wenn er früher vernommen wurde, hat er nicht alles ausgesagt, was er wußte. Ich bin beauftragt, dessen Worte zu überbringen – bitte, nehmen Sie das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, zu Protokoll.«
»Aber Ihr Name –«
»Sie werden ihn nachher ausfüllen können; ich – mag der Erzählung nicht vorgreifen. – Darf ich beginnen?«
Der Assessor nickte ihm zu und griff dann kopfschüttelnd nach seiner Feder. Nach einigen flüchtig auf das Papier geworfenen Worten sah er zu dem Fremden wieder auf, und dieser sagte:
»In jener Zeit lebte in Hollendeik ein Mann, der ein Wirtshaus hielt und in dem Ruf stand, mit Wilderern geheime Verbindung zu haben und ihnen gestohlenes Wildbret abzukaufen.«
»Ja, ich weiß,« unterbrach ihn Herr Bellert – »er hieß Joseph Kerdelmann. Ich habe ihn selber damals verhört. Es konnte ihm nichts bewiesen werden, und er ging später nach Amerika, glaub' ich. Es ist übrigens ziemlich sicher, daß er das wirklich getan, was man ihm zur Last gelegt, und besonders mit dem Burschen da in genauerer Verbindung gestanden, als beide eingestehen mochten. Er hat auch dessen Frau durch ein Geschenk entschädigt. Später bekamen wir noch gewissere Beweise, aber leider war er da schon fort.«
»Er hat nie von anderen Wilderern gekauft,« sagte der Fremde ruhig, »denn was er brauchte, schoß er selber.«
»Da sind Sie im Irrtum,« sagte der Assessor, ungeduldig werdend – »Kerdelmann war allbekannt ein schlechter Schütze und ging nie auf die Jagd. – Bitte, lassen Sie die alten Geschichten und kommen Sie zu dem, was Sie uns sagen wollten, denn damit vertrödeln wir nur die Zeit.«
»Ich habe Sie ersucht, Herr Assessor, das zu Protokoll zu nehmen, was ich Ihnen hier mitteile,« entgegnete ruhig der Fremde – »ich spreche wie unter einem Eid und erzähle Ihnen nur Tatsachen.«
»Und ich habe es immer geglaubt,« murmelte der Gefangene vor sich hin, und wußte in dem Augenblick kaum noch, daß er gefangen war. Auge und Ohr hing an dem Fremden, und wie eine Ahnung ging es in ihm auf, daß ein Wendepunkt seines Schicksals eingetreten sei – zum Guten oder Schlechten? – bah, was da kam, mußte ja zum Guten kommen; zum Schlechten war es nicht mehr möglich!
»Und womit wollen Sie beweisen, was Sie hier sagen?« frug der Assessor, noch immer zweifelnd.
»Mit dem, was weiter folgt,« erwiderte der Fremde, »und bitte, unterbrechen Sie mich nicht mehr. Noch hab' ich die Kraft zu reden; aber mein Körper ist in der letzten Zeit aufgerieben und überspannt worden, und – ich möchte meine Sinne beisammenhalten. Ich wiederhole deshalb, jener Mann, der das Wirtshaus zum Roten Hirsch hielt, hat nie Wild von Wilderern gekauft, stand deshalb auch nie mit jenem Schöffel« – »Nummer 34« murmelte der Unglückliche – »in Verbindung.
»Ob Schöffel damals selber noch gewilddiebt hat, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn mit schlimmer List suchte er jenen Joseph Kerdelmann zu verleiten, ihm angeblich gestohlenes Wild abzukaufen. Kerdelmann wurde gewarnt – von wem, kann ich nicht sagen, aber nicht von Schöffel selber. Doch auch ohne die Warnung hätte er es ihm nicht abgekauft, denn er mißtraute ihm gleich von Anfang an, haßte den Menschen aber deshalb noch mehr als vorher, weil er die Hand dazu geboten, ihn vor Gericht zu bringen.
»In jener Zeit war der Wirt fast jede Nacht draußen im Walde. Mit allen Schleichwegen bekannt, gelang es ihm leicht, die Wachsamkeit der im Anfang etwas schläfrigen Jäger zu täuschen. Nur einer, jener Meier, war fleißiger als die übrigen, und weil er Schöffel für einen Wilderer hielt, suchte er diesen zu erwischen. Auf Kerdelmann hatte niemand Verdacht, eben weil sich dieser absichtlich für einen schlechten Schützen ausgab und nie öffentlich mit auf die Jagd ging.«
»Aber woher wissen Sie das alles?« fragte der Assessor, zu den erregten Zügen des Redenden erstaunt aufsehend.
»Kerdelmann,« fuhr der Fremde ruhig fort, ohne die Frage zu beantworten, »war denn eines Nachts heimlich hinausgegangen, ein Stück Wild zu schießen. Er wußte, daß der Forstgehilfe Meier im Walde herumspionierte, aber durch seine bisherigen glücklichen Erfolge tollkühn gemacht, lachte er der Gefahr, der er schon zu begegnen hoffte. Da er die Wechsel des Wildes genau kannte, brauchte er dabei nicht viel Zeit mit Birschen zu verlieren, auch verringerte er die Gefahr, entdeckt zu werden, indem er sich ruhig in den Rand eines Dickichts auf den Anstand setzte.
»Es war schon ziemlich kalt, aber geduldig saß er, bis der Mond hell aus den Wolken trat, und nun auch nicht lange nachher ein Rudel Wild über einen offenen Schlag vertraut herüberkam. Nur etwas höher als gewöhnlich hielten sie sich in dieser Nacht, und der Wildschütz, als er merkte, daß sie nicht in Schußnähe von ihm kommen wollten, schlich etwas weiter im Dickicht hinaus, nahm, als das Rudel langsam dort vorüberzog, eine gelte alte Gais aufs Korn und schoß sie aufs Blatt, daß sie in ihrer Fährte verendete. – Er fehlte fast nie.«
»Kerdelmann?« flüsterte der Gefangene, und sein ganzer Körper zitterte vor innerer Bewegung, die Augen traten fast aus den Höhlen, die Hände hatte er bebend vorgestreckt, und jedes Wort verschlang das gierig lauschende Ohr.
»Aber woher um Gottes willen wissen Sie das alles?« rief der Assessor noch einmal. »Ich begreife gar nicht –«
Der Fremde winkte ihm leise mit der Hand zu schweigen, und so stier, so geisterhaft war dabei sein Blick, daß der erschreckte Assessor die Frage nicht wiederholte, denn aufs neue drängte sich ihm der Verdacht auf, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun habe.
»Das alte feiste Tier war zusammengebrochen und lag langgestreckt am Boden,« fuhr der Fremde mit ruhiger, monotoner Stimme fort, »aber der Schuß hatte ein so donnerndes Echo in den Bergen gefunden, daß der Wildschütz sich nicht gleich auf die offene Blöße hinausgetraute. Das andere Rudel war schon lange zum Kamm des Berges hinaufgeflohen. Totenstille herrschte wieder im Wald, und noch immer lag er vorsichtig lauernd auf der Wacht, ob der Knall nicht seinen Feind, jenen Meier, herbeiführen würde. Aber alles blieb ruhig – kein Schritt im Laub, kein knickender Ast verriet, daß noch ein lebendes Wesen außer ihm dort draußen sei.
»Da endlich, als er sich wieder vollkommen sicher fühlte, glitt er hinaus auf den Schlag, um das Stück Wild in die Kieferndickung hineinzuholen.«
Der Fremde schwieg einen Augenblick und starrte vor sich nieder. – Schöffel war unwillkürlich einen Schritt vorgetreten, sein von ihm abgewandtes Gesicht besser sehen zu können, und selbst der Assessor starrte ihn jetzt in wachsender Spannung an. Der fremde Mann war jedenfalls in einer ganz unnatürlichen Aufregung, und er selber neugierig geworden, wo er hinaus wolle. Daß er sich übrigens mit jenem Kerdelmann irre, davon fühlte sich der Assessor überzeugt, denn er selber als damaliger Aktuar Bellert hatte den Prozeß geführt und mußte natürlich am besten wissen, wie die Sachen standen.
»Als Kerdelmann,« fuhr endlich der Fremde fort – »das Dickicht schon fast erreichte – er war kaum vier oder fünf Schritt davon entfernt – donnerte ihm plötzlich ein lautes ›Halt!‹ entgegen – halt! – er hat den Anruf nie vergessen können, sein ganzes übriges Leben lang – und ein Jäger, das Gewehr im Anschlag, stand vor ihm – er war verloren. – Seine eigene Büchse lehnte drin im Busch, gerade an derselben Stelle, wo jener stand, und er befand sich also rettungslos in der Gewalt des Feindes. – Es war jener unglückliche Meier, den sein böser Stern zu jener Zeit hierhergeführt, und Kerdelmann kannte und – haßte ihn. – Wie er ihn nachher überlistete, bleibt sich gleich, aber als er ihm vergebens Geld und gute Worte geboten, ihn ungestraft ziehen zu lassen, machte er ihn so weit sicher, daß er ihm half, das im ersten Schreck abgeworfene Wild wieder auf die Schulter zu heben, um es ins Dorf hinabzutragen.
»Kerdelmann wußte, er war verloren, sobald der Jäger am Leben blieb, und den ersten möglichen Augenblick benutzend – – stieß er dem Forstgehilfen sein Messer in den Leib.«
»Kerdelmann?« schrie der Gefangene auf – »Kerdelmann? Und ich – ich habe die langen Jahre schuldlos sitzen müssen? Meine Familie ist zu grunde gegangen – ich selber bin ein elender, erbärmlicher Zuchthäusler geworden – Gerechtigkeit! – ist das Gerechtigkeit? O du heiliger, barmherziger Gott!«
»Haltet Euer Maul!« fuhr ihn der Assessor finster an. Er mochte sich nicht, nur auf die Aussage eines Fremden hin, gleich so leicht davon überzeugen lassen, daß durch seine eigene Schuld ein armer Teufel so lange Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen. – »Das ist eine gar wunderbare Geschichte, die Sie uns da erzählen,« wandte er sich dann gegen diesen, »und ich möchte wissen, wie Sie es beweisen wollen.«
»Hören Sie mich weiter,« sagte der Fremde, der, zwar mit vollkommen blutlosen Wangen, aber jetzt mit fester Stimme und unbewegten Zügen fort erzählte. – »Der Mörder floh nach der Tat in das Dorf zurück. Unentdeckt erreichte er sein Haus, vergrub dort die blutigen Kleider, die er später vernichtete, sowie sein Gewehr, und ließ die Sache ihren Lauf gehen. Durch eine Jagd kam der Mord allerdings früher an den Tag, als er erwartet hatte, da ihm ein frischer Schnee außerordentlich günstig gefallen. Aber der Verdacht des Mordes lenkte sich auf einen Mann, den er von Herzen haßte, und der ihn selber erst vor kurzer Zeit hatte durch List überführen und den Gerichten übergeben wollen. Mit Schadenfreude sah er deshalb, wie er zwei Fliegen mit einem Schlag getroffen, und dachte nicht daran, den unschuldig Angeklagten durch ein entschlossenes Geständnis frei zu machen. – Er wußte nicht, daß er den schlimmsten Ankläger im eigenen verstockten Herzen trug. Aber doch litt es ihn nicht länger hier in Deutschland, anderes, das nicht hierher gehört, kam dazu, daß er sich unbehaglich – nicht recht sicher fühlte, und er – wanderte aus.«
»Und wo ist er jetzt?« frug der Assessor, der, aufmerksam werdend, die Züge des Erzählenden schärfer und forschender betrachtet hatte.
»Hören Sie mich weiter,« sagte der Mann, langsam die Hand gegen ihn aufhebend. »In Amerika ging es ihm im Anfang gut. Mit dem Geld, das er hinübergebracht, kaufte er unter günstigen Verhältnissen eine Farm – heiratete und hatte liebe Kinder – aber der Wurm fraß an seinem Herzen. Sah er im Anfang, den Mord nicht achtend, selbst gleichgültig auf das Los des Unglücklichen zurück, der unschuldig seinethalben im Gefängnis schmachtete, hoffte er von der Zeit, daß sie das Ganze in Vergessenheit begraben würde: so ward die Zeit gerade sein schlimmster Feind. Mit jedem Tag wuchs die Angst, daß da oben doch ein Rächer wohnen könne, mit jedem Tag trat der blutige Leichnam, traten die bleichen Züge des Eingekerkerten mahnender, lebendiger vor seine Seele. Er mied den Umgang mit anderen Menschen – verließ auf halbe Jahre lang die Seinen, um in der Wildnis, von dem Gewissen gejagt, umherzuirren – umsonst – das Schreckbild folgte – folterte ihn, wohin er sich auch wandte. Nicht in der Kirche, nicht im stillen Wald, nicht in der wildesten Gesellschaft mied es ihn. An seine Sohlen geheftet, jagte es ihn das weite Land auf und ab, bis er endlich, an Kraft gebrochen, zu den Seinen wiederkehrte. – Aber auch dort verließ es ihn nicht, und bald trat auch der Fluch, der ihn bis dahin nur in seiner eigenen Brust gequält, tatsächlich ihm ins Leben. Seine Kinder erkrankten, eins von ihnen starb. Brand, Mißwachs und Seuchen erschütterten sein Vermögen. – – Endlich legte sich auch die Frau, die mit eines Engels Geduld seinen finstern Trübsinn ertragen, und vier Wochen später war sie eine Leiche.
»Was der Mann damals geduldet und gelitten – eine Menschenzunge wäre nicht imstande es zu beschreiben – und doch war sein Leidenskelch noch nicht zur Hälfte geleert. – Sein letztes Kind – sein Liebling – lebte noch, und auch das mußte er endlich langsam hinsiechen – mußte es sterben sehen.« –
Der Mann schwieg, und in der Erinnerung an all das Entsetzliche, das er überstanden – in dem Gefühl der Verzweiflung, die seine Seele erfaßt, zermalmt hatte, versiegte ihm fast die Sprache, jagte sein Blut in Fieberhast durch seine Adern, zitterte sein ganzer Körper.
»Wie ist mir denn,« sagte da der Assessor – »Ihr Gesicht kommt mir eigentlich so bekannt vor – die ganze Gestalt – ich weiß nicht – sind denn Sie selbst am Ende –«
»Hahahaha!« lachte der Unglückliche laut und grell auf, daß es dem Assessor fröstelnd über die Haut lief und der Gerichtsdiener draußen den Kopf erschreckt zur Tür hereinsteckte – »hahahaha, kommt Ihr endlich auf die richtige Spur, Ihr Schergen der Gerechtigkeit? – Ja,« rief er, und seine Stimme klang hohl und wild, sein Auge glühte von einem unheimlichen Feuer, seine ganze Gestalt hob sich und er schien wie außer sich – »ja, von dem Augenblick an litt es den Vernichteten, den Ausgestoßenen, den Verdammten nicht mehr unter den Menschen – Gottes Finger deutete auf ihn, er war den finsteren Mächten verfallen, und nur der Drang, sein Herz hier noch durch Buße zu erleichtern – einen Teil des Unrechts wieder gut zu machen – wenn auch das nicht schon zu spät war, hielt ihn noch am Leben. Sobald ich aber zu dem Entschluß gekommen war, sobald ich erst einmal das klare Bewußtsein gewonnen, daß mir durch einen solchen Schritt jene zürnende Gottheit wieder versöhnt werden könne, machte ich alles, was ich besaß, zu Geld und floh zu Schiff – nach Deutschland –«
»Sie?« rief der Assessor, von seinem Stuhl aufspringend, während Schöffel, keines Lautes mächtig, mit gefalteten Händen daneben stand.
»Ich – ich – ich!« schrie der Unglückliche, in furchtbarster Aufregung um sich blickend – »ich bin jener Elende, Verworfene; der Mörder, der den Jäger erstochen, der Räuber, der diesem Unglücklichen da sein ganzes Leben heimtückisch gestohlen. – Schöffel!« stöhnte er plötzlich und warf sich in wilder Heftigkeit vor dem Gefangenen auf die Kniee – »Schöffel, armer mißhandelter, geknechteter, zertretener Mensch, vergib einem Elenden, der aus Rache und Bosheit, der in feiger, nichtswürdiger Angst sich heimlich durch die Flucht der verdienten Strafe entzog. – Ich bin der Hirschenwirt – ich bin Kerdelmann – ich –« Er vermochte nicht mehr; sein Körper, der das Unglaubliche ertragen, brach unter der Last zusammen, und ohnmächtig lag er zu den Füßen Schöffels.
Die Gerichtsdiener, die bei den letzten dröhnenden Worten des Mannes in das Zimmer getreten waren, sprangen jetzt zu, ihn aufzuheben. Der Assessor wechselte dabei einige Worte mit Ortel, und einer der Leute wurde rasch nach einem Arzt geschickt. Ehe der kommen konnte, hatte sich indessen Kerdelmann schon wieder erholt.
Von jetzt an schien aber eine vollkommene Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Er war plötzlich verwandelt; die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und mit dem Bewußtsein, das Ziel erreicht zu haben, dem er mit einer wahren Todesangst die letzte Zeit entgegengestrebt, handelte er von dem Augenblick an besonnen und vollständig leidenschaftslos.
Schöffel war noch im Zimmer. – Der Assessor wußte in der Tat nicht, was er mit dem Mann jetzt anfangen sollte – und Kerdelmanns erster Blick suchte und fand ihn. – Schöffel selber stand wie in einem Traum; das volle Glück dieses Augenblicks war er noch nicht imstande zu fassen. – Kerdelmann handelte für ihn.
Er stand auf, strich sich die Haare zurück, und ersuchte dann mit vollkommen ruhiger Stimme den Assessor noch um einige Minuten Gehör. Dieser wollte jetzt die Gerichtsdiener entfernen, aber er bat, sie im Zimmer zu lassen, da er der Zeugen bedürfe. Dabei legte er dem Beamten seine Papiere vor, die er in einer kleinen Brieftafel in der Tasche trug – es war sein alter und sein neuer Paß, und während der Assessor diese durchsah, schnallte er sich den Geldgürtel ab, den er noch immer um den Leib trug.
»Dies,« sagte er dabei, »ist der Rest meines Vermögens, den ich mir von Amerika gerettet – Kinder habe ich nicht mehr; meine Frau ist tot, und dies Geld gehört von Gott und Rechts wegen dem Unglücklichen, der meinethalben die vielen Jahre schwerer Haft unschuldig ertragen mußte. Hier, Schöffel – nehmt es – Ihr habt es Euch schwer und sauer verdienen müssen, und wenn es Euch auch die Schmach und das Herzeleid, das Ihr ertragen habt, nicht in seinem tausendsten Teil vergüten kann, so bedenkt, daß es alles ist, was ich, mit meinem Leben, Euch imstande bin zu bieten. – Ihr werdet es wahrscheinlich hier bei Gericht deponieren müssen, bis Ihr freigelassen seid, aber das kann jetzt nicht mehr lange dauern – und alle hier sind Zeugen, daß es Euch gehört. Und nun bitte ich, laßt mich mit dem Herrn Assessor noch eine kurze Zeit allein, daß ich die ihm nötig dünkenden Fragen beantworten und ihm noch den letzten Zweifel benehmen kann. – Ihr habt nichts zu fürchten,« sagte er wehmütig lächelnd, als er sah, daß die Leute zögerten, ihm zu gehorchen. »Ich bin den weiten Weg übers Meer zurückgekommen, mich den Händen des Gerichts zu überliefern, und werde euch jetzt wahrlich nicht entfliehen.«