Friedrich Gerstäcker
Der Wilddieb
Friedrich Gerstäcker

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X.

Nach Haus! Gibt es ein süßeres, lieberes Wort für den armen müden Wanderer, der sich jahrelang draußen herumgetrieben in der fremden, kalten Welt und nun der Heimat Bild auf einmal wieder liebend, lockend sich entgegenwinken sieht? – Nach Haus! Durch alle Fibern und Nerven bebt es ihm und füllt sein Herz mit seligem, jauchzendem Entzücken – nach Haus!

Vor ihm liegen wieder, von dem gedächtnistreuen Geist mit Zauberschnelle heraufbeschworen, die fröhlichen Bilder seiner Jugendzeit – liegt das stille Vaterhaus, der kleine Garten, die alte schattige Linde vor der Tür; der Brunnen mit dem moosbedeckten Eimer, der im Sommer den kühlen Labetrunk so oft herausgeholt; die kleine Kirche mit dem spitzen Turm und mit dem stillen Friedhof dicht daran; das weite Land mit all den lieben, so oft besuchten Hügeln und Tälern, und treue Freunde breiten sehnend dabei die Arme aus, den Heimgekehrten jubelnd zu empfangen.

Nach Haus! oh, wie das im Herzen pocht und hämmert, wenn der Bug unseres Schiffes sich wieder dem Vaterland entgegenlenkt; wie das die Freudentränen dir ins Auge treibt und dich die Stunden ungeduldig zählen läßt – nach Haus!

Aber füllten solche Gefühle die Brust des Mannes, der dort, zusammengebrochen, tot gegen alles, was ihn umgab, am Bord des guten Schiffes saß, wenn es ihn auch mit noch so straff geblähten Segeln, lustig durch die Wogen schäumend, der Heimat entgegentrug?

Die Hände um das heraufgezogene Knie fest gefaltet, den Kopf auf die Brust gesenkt, saß der Wanderer auf dem Verdeck, Tage, oft halbe Nächte lang. Er sprach fast mit keinem Menschen, gab selten Antwort, wenn er angeredet wurde, und ging nur still und stumm zur Seite, wenn er fühlte, daß er irgendwo im Wege sei. Die Matrosen hatten den finstern, schweigsamen Mann verspotten und zum besten haben wollen. Das aber gewöhnte er ihnen bald ab, und nachdem er ihnen erst einen Beweis seiner Kraft gegeben, lernten sie das unheimlich düstere Auge des seltsamen Passagiers ordentlich fürchten und demselben ausweichen.

So passierte das Schiff nach einer glücklichen und verhältnismäßig raschen Reise den Kanal. In der Nordsee drehte sich jedoch der Wind nach Nordost um, setzte mit Regen ein und wehte noch in der nämlichen Nacht einen fliegenden Sturm. Wohl kreuzten sie mit dichtgerefften Segeln soviel als möglich auf, um nicht gegen die flache französische Küste geworfen zu werden. Aber sie konnten ihre Höhe nicht halten. Das Schiff trieb mehr und mehr nach Lee zu, und am nächsten Abend, während der Sturm indessen nur immer mehr an Heftigkeit zunahm, stieß das Fahrzeug auf, warf seine Masten über Bord und strandete.

Eine Scene der furchtbarsten Verwirrung folgte. Alles drängte in verzweiflungsvoller Hast nach den beiden Booten, um in diesen die Möglichkeit einer Rettung zu finden. Wie unmöglich es für sie sei, in solcher See und Brandung die Küste zu erreichen, bedachten sie ja nicht. Nur fort, nur hinaus drängten die Unglücklichen, das Schiff zu verlassen, das sie dem Verderben geweiht wußten – und draußen lauerte der Tod auf sie.

Nur einer von allen – den Kapitän ausgenommen, der ruhig seine Befehle gab, aber bei den Angstverwirrten keinen Gehorsam mehr fand – hielt sich im Brausen der Elemente so still, so ruhig, so schweigsam, aber auch so fest, wie er sich bei Windstille auf Deck herumbewegt hatte. Er griff mit an, wo anzugreifen war; als sich aber alle vom Deck ab in die ins Wasser gelassenen Boote drängten, stand er still zurück, die Arme um eine der Juffern geschlagen – er, der Kapitän und der erste Steuermann, die einzigen menschlichen Wesen noch auf dem Wrack.

»Die Boote können in der See nicht leben,« schrie der Kapitän den Leuten zu – »ihr seid verloren, wenn ihr abstoßt!«

Sie waren es schon. Eine rückschlagende Welle schmetterte die schwankenden Boote gegen die Seitenwand des Wracks – einige Minuten lang wimmelte es in dem weißen Schaum von mit dem Tod ringenden Menschen – dann war alles vorbei. – Nur einen einzigen Matrosen hatte die Spitze der Welle emporgehoben und wieder zurück an Deck geworfen, wo er sich anklammerte. Er war wie durch ein Wunder gerettet worden.

Eine böse Nacht folgte – das Wrack setzte immer fester auf den Sand hinauf und die See brach darüber hin; aber die Planken hielten noch zusammen, und gegen Morgen legte sich der Sturm. Aber erst gegen Abend – als sich die See genug beruhigt hatte – konnten sie vom Land aus gerettet werden.

Mit eiserner Ruhe hatte der »Passagier« das alles ertragen. Kein Laut kam über seine Lippen, keine Klage – kein Jubelruf, als das rettende Boot endlich vom Land aus sichtbar wurde. Als das kleine Fahrzeug, das die Schiffbrüchigen aufgenommen hatte, den Strand berührte, als die Seeleute hinaussprangen und ihren wackeren Rettern mit Tränen in den Augen die Hände drückten, als die Frauen herbeieilten und weinten und lachten über die dem Tod Entrissenen: da schritt der Mann mit dem bleichen Antlitz und den erstarrten Zügen still hindurch zwischen ihnen, daß sie ihm scheu Raum gaben – immer vorwärts, den Hang hinauf und über den Hügel hin, bis er ihren Blicken entschwunden war.

Und so fort schritt er durch das Land, weiter und weiter bis zu der Stadt, wo er die Eisenbahn zuerst berührte. Sein Paß war in Ordnung, sein Geld trug er in einem ledernen Gürtel um den Leib geschnallt, und wenige Stunden später riß ihn die keuchende Lokomotive in wilder Schnelle der Heimat – seinem Schicksal entgegen.

Wie das seine Bahn dahinsauste, so rasend schnell – kein Halten mehr – nur dürftige Minuten, und weiter, immer weiter fort, den Tag hindurch, die Nacht entlang. – Einzelne der Reisenden klagten über Zögerung der Fahrt, über Säumnis auf den Stationen – ihm flog der Zug mit Sturmes Flügeln durch die dunkle Nacht, und zu Minuten, zu Sekunden drängten sich die Stunden zusammen. Zug schloß an Zug, und jetzt war das letzte Ziel erreicht – drüben in jenen dunkeln Kiefernwaldungen, die den Horizont umgrenzten, Hollendeik, und in der Kiefernwaldung? – – Als der Heimkehrende sein Auge zum erstenmal wieder auf die bekannte Stätte richtete, da wurde ihm das Blut zu Eis in den Adern und die Glieder zitterten ihm so, daß er sich in die Ecke lehnen und sein Antlitz mit dem Tuch bedecken mußte.

»Sind Sie krank?« frug ihn sein Nachbar, der bis dahin umsonst gesucht hatte, ein Gespräch mit dem finstern, verschlossenen Mann anzuknüpfen – aber er erhielt auch jetzt keine Antwort. Der Unglückliche hatte mit der Welt außerhalb abgeschlossen; er war tot für alles andere, und nur der Wurm in seinem Herzen lebte in ihm und bohrte und wühlte mit täglich neuer Kraft. Er selber hatte auch keinen eigenen Willen mehr; es war, als ob er aufgehört habe selbständig zu handeln und der Körper von nun ab einer andern Macht als seiner Seele gehorchen müsse. Er wußte, was ihm bevorstand, wie aber der ruderlose Kahn, von reißender Strömung getragen, mit dieser in wilder Schnelle dem Abgrund entgegenschießt, der ihn an den Felsen unten zerschellen muß, so trieb es ihn, den Gezeichneten, in wilder, verzweifelter Hast, mit der er sich selber entfliehen wollte, seinem endlichen Schicksal entgegen.

Der Zug hielt. Der düstere Passagier ermannte sich, als der Name der Station ausgerufen ward, nahm sein Gepäck, das aus einem Bündel unterwegs gekaufter Wäsche bestand, stieg aus und suchte, so spät am Abend es auch war, sofort ein Geschirr zu bekommen, das ihn von der Eisenbahn nach Grafenhoff hinüberführe.

Es war eine stürmische Oktobernacht, kein Mond am Himmel, und Regen und Schnee peitschten, von dem kalten Nordwest gejagt, die gelben Blätter von den Bäumen nieder. Endlich fand sich ein Kutscher, der ihn um doppelten Preis hinüberzubringen versprach, und das kleine Fuhrwerk arbeitete bald darauf, dem Unwetter entgegen, durch die Nacht.

Und still und allein im Wagen saß der Unglückliche – allein mit seinen düsteren, unheimlichen Gedanken, mit dem Bewußtsein dessen, was die nächste Sonne für ihn bringen mußte. Was kümmerte ihn das Wetter, was der Sturm, der draußen die Bäume faßte und zerzauste. Er hörte nicht einmal, wie die Windsbraut draußen über die Höhen strich – er fühlte die einzelnen Tropfen nicht, die, kalt und stechend, bis hinein zu ihm gepeitscht wurden. Ja, als der Wagen endlich, von den scheuenden Pferden zur Seite gerissen, umschlug und in Stücken brach, wand er sich ingrimmig lachend aus den Trümmern heraus und schritt allein hinein in den ächzenden Wald.

»Holla – Sie da – lieber Herr!« schrie ihm der arme Teufel von Kutscher nach, »Sie wollen mich doch hier nicht bei Nacht und Nebel und dem Wetter allein mit dem zerbrochenen Wagen sitzen lassen? – Sie finden ja auch den Weg nicht in der Finsternis!«

Keine Antwort – die düstere Gestalt schritt schweigend hinein in die Nacht, und der Kutscher murmelte, sich ängstlich bekreuzend:

»Wenn das nicht der böse Feind war, der mich in dem Wetter hierhergeführt, will ich nicht selig werden – Herrgott – er lachte auch noch – o alle guten Geister!«

Er hatte recht. Schauerlich mit dem heulenden Sturm gellte das rauhe Lachen des dunkeln Wanderers zu ihm herüber, der dem Wetter entgegenarbeitete.

»Hahahaha – alles muß untergehen, was meiner Fährte folgt. Verflucht – ein Ausgestoßener der Erde, soll ich allein die dunkle Schreckensbahn verfolgen. Alles, was ich mein nannte auf der Welt, an dem mein Herz noch hing, in dem es noch Vergessen seines Elends finden konnte – es ist tot – tot – tot – das Schiff, das mich führte, zerschmettert; der Wagen selbst, der den Verdammten getragen, in Stücken auf der Straße. – Und wie der Sturm mir entgegenpeitscht, als ob er alle Kraft anwenden wollte, mich von dort zurückzutreiben, wo ich Ruhe finden will und muß! – Ruhe – Ruhe – endlich Frieden für dies arme unglückselige Haupt! – Ja wehe nur! und wenn du mir den ganzen Wald in meinen Weg schleudertest, und wenn ich über jeden einzelnen Stamm hin die mühselige Bahn suchen müßte, mich treibst du nicht mehr zurück. – Hei! wie das pfeift, wie das rast – blas, alter Bursche, blas, und nimm die Backen voll – hier ist ein Fahrzeug, das dir in die Zähne fährt – ein lebendes Gespensterschiff, das gegen Wind und Wetter nur dem einen festen Ziel entgegenstrebt – dem Tod!«

Es war fast, als ob die frevelnden Worte den Sturm zu zwiefacher Wut angestachelt hätten. Die schwere Gestalt des Mannes konnte sich kaum gegen die Wucht stemmen, die sich ihm entgegenwarf, und alte, wetterfeste Stämme, die einem Jahrhundert trotzig die Stirn geboten, riß er aus und schmetterte sie in den Pfad des nächtlichen Wanderers. Rechts und links vor ihm und zurück brach und prasselte es und stürzte krachend splitternd auf den Boden, aber er achtete es nicht. Die Zähne fest zusammengebissen, mit jedem Fußbreit Boden hier bekannt, drängte er weiter, weiter an gegen den Sturm, sich seinen Weg oft Schritt vor Schritt erkämpfend, bis endlich mit der Morgendämmerung unten im Tal, von grauen jagenden Wolken überhangen, der kleine Ort vor seinen Blicken lag.

 


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