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9. Kapitel. Ostern auf dem Kreml

Die folgenden Tage waren vormittags den Sehenswürdigkeiten, nachmittags dem Stadtbummel und abends den Freunden gewidmet. Die Galerie Tretjakow, das Rumjanzow-Museum und das Museum für Kunstgewerbe gaben Doktor Feller treffliche Einblicke in die prachtvolle russische Kunst. – Durch seine Verbindungen erhielt er Zutritt in die nach den neuesten Forschungen eingerichteten Kliniken und Wohlfahrtseinrichtungen. Das meiste Vergnügen machte ihm jedoch, mit seiner Lotte weite Wanderungen durch die interessante Stadt zu machen und das Leben und Treiben zu beobachten. Sie unternahmen aufs Geratewohl Pferdebahn- und Droschkenfahrten und besuchten die Märkte. Auch auf dem Ochotny Rjad machte ihnen das Fehlen des weiblichen Elementes Spaß.

So kam der Mittwoch Abend heran. Fellers hatten sich mit Radinow in dem riesigen Hauptgebäude des Bäcker-Konditors Fillipow ein Stelldichein im Café gegeben. So sehr Lotte auch bettelte und brummte, es half ihr nichts. Ihr Gatte wollte sie einer so großen Anstrengung nicht aussetzen, sondern allein nach Nishny Nowgorod fahren. »Na warte, ich kokettiere auf der Straße und schaffe mir einen Verehrer an!« – grollte sie. – »Ich habe unerschütterliches Vertrauen!« – behauptete er lachend. – »Ich esse so lange Sakuska und Kuchen, bis ich mir den Magen verderbe!« – – »Arme Katz, ich beneide Dich nicht um die Kopfschmerzen und die Übelkeit!« – – »Barbar, rührt Dich nichts?« – – »Nichts!« – – »So lege ich mich den ganzen Tag ins Bett und penne!« – – Er nahm ihre Hand und streichelte sie: »Damit thätest Du mir den größten Gefallen, mir und Dir! Die Ruhe wäre Deinem Körper vortrefflich!« – – »Ach! – rief sie lachend – Du bist ein altes Ekel! Erst beschwörst Du Rjepoff, mit mir das Frühstück und Diner einzunehmen; dann soll ich mich ins Bett legen, während Du die Wolga siehst. Nun thue ich keins von beiden, sondern fahre einfach in die Tretjakow-Galerie und schreibe nachmittags Briefe!« – – – »Du bist ein geliebtes, braves Geschöpf und vernünftig genug, Dir nicht selbst zu schaden, nicht wahr? Nebenbei wirst Du doch nicht so egoistisch sein und mir die Reise mißgönnen?« – – »Ach, Schöps! Im Gegenteil!« – – »Na also!« – – Er blickte sie zärtlich forschend an; aber ihr blühendes Aussehen, ihre ungezwungene Frische beruhigten ihn. – »Zu schade, daß all Deine befreundeten Familien im Kaukasus sind, daß ich Dich nicht unter dem Schutz eines bürgerlichen Daches weiß!« – meinte er überströmend und fuhr empor, denn eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. – »Na, kriegt man Sie endlich zu sehen, Herr Doktor! Im Hôtel sind Sie ja nie aufzutreiben! Das ist zu nett!« – – Willi, der aufgesprungen war, erkannte in dem Sprecher Herrn Engrosschlächter Schmidt. Hinter diesem standen abwartend in einiger Entfernung seine Gattin und ein elegant gekleideter, sympathisch aussehender Herr. Der Arzt schüttelte die ihm so warm hingestreckte Hand mit einiger Reserve, während Lotte wieder mit begeisterter Herzlichkeit den Landsmann begrüßte. »Nee, das ist zu nett! – rief sie – Wie geht es Ihnen denn?« – – Nun trat auch Frau Schmidt heran und stellte nach freudiger Begrüßung stolz ihren Sohn Franz vor. Dieser, der Direktor eines großen Hüttenwerkes war, entpuppte sich bald als ein sehr gebildeter, liebenswürdiger Herr. Lotte gefiel besonders die gütige, kindliche Art, in der er mit den Eltern verkehrte, deren Unbildung ihn absolut nicht weiter berührte. Man nahm an einem Tisch Platz, und Herr Franz Schmidt, der ein geläufiges Russisch sprach, übermittelte dem Kellner seine Wünsche und die der andern. Bald war ein nettes Gespräch unter den Herren im Gange. Frau Schmidt wandte sich inzwischen an Lotte. »Nee, wissen Se, Frau Doktorn, jestern hatten wa Besuch, lauter Deutschrussen. Un da hab ich mich für Berlin mächtig ins Zeug jelegt und hab die hiesichten Jeschäfte und die Jägerreihen, wo doch der Hauptmarkt von Moskau is, runterjemacht! Da is denn eine von die Freundinnen von meine Schwiejertochter mit mir Leine jezogen, Einkäufe machen. Ick kann et doch schließlich beurteilen, was se uns for 'ne Waren in die Hand stecken, un wie die Uffmachung in die Jeschäfte un de Verpackung von de Einkäufe is! Ich sage Ihn', junge Frau, ich bin imma stilla jeworn! Denn in das wilde Land is et jenau so jut wie bei uns: die Fleischerläden mit blitzende Jeräte und Fliesenböden, so 'ne appetitliche Verkäufer mit weiße Schürzen; und in die Wurstbuden is 'ne Freude, es mitanzusehen; aber am schönsten sind die Butter-, Milch-, Käse- und Eiergeschäfte. – Nee, die reinen holländischen Puppenstuben sind die Spezialjeschäfte hier. Det blitzt und blinkt von die weißlackierten Tonnen und det Zinnjeschirr. Und überall amerikanische Kontrollkasten, und so nett einjewickelt, wahrhaftig, besser als wie bei uns!« – – »Ja, als ich das erste Mal hier war, begleitete ich meine Gastgeberin oft bei ihren Einkäufen und war ebenso entzückt über alles!« – erwiderte Lotte, deren junges Hausfrauenherz sich regte. – »Und die Billigkeit von de Lebensmittel, unjlaublich! Und wat man nich allens kriegt! Einfaches und Delikatessen. Getz Kirschen und Erdbeeren am Strauch! Een Jeld is in das Moskau, püh! – meinte Frau Schmidt eifrig – Aba, nun hörnse, ich also noch nich de Waffen jestreckt, sondern noch 'n Zungenschlag extra riskiert. Ich sag also zu die nette, junge Müllern: ja, Spezialjeschäfte habt Ihr jute; aber sone Bazare wie Wertheim und Tietz jiebt es nich! Wo man allens kriegt und 'ne unjlauliche Freßabteilung obendrein. Des sollten Se mal sehen! – – – Sie lacht und sagt: se hätt's jesehen, und soweit war' es ja och janz scheen. Und dann führt mich die Person durch das Jeschäftshaus von Myrr und Myrriles. – Ich schweije in alle Tonarten vor Überraschung; aber das dickste Ende kam noch hinterher. Kenn' Sie Jelissejew?« – – »Nein!« – sagte Lotte. – – »Nee, denn müssen wa hin! Von hier is es fünf Minuten. So wat hat die Welt nich wieder. Franzeken, mein Herzensjunge, komm, und führ die junge Frau Doktor und Deine olle Mutta mal schnell bei Jelissejew hin. Wir kann' ja in zehn Minuten retour sein! Die andern warten hier so lange!« – – »Aba, Mieze, bei des Wetta?« – warf ihr Gatte ein.

Frau Lotte war jedoch neugierig geworden. Da sich der jüngere Schmidt bereitwilligst erhob, zog auch sie sich an und wanderte mit ihm und seiner Mutter fort. – Als sie nach einer Viertelstunde zurückkamen, war Herr Radinow bereits eingetroffen. Sie begrüßte ihn nur hastig und wandte sich an ihren Gatten. Ihre Augen funkelten: »Nein, Liebster, Du mußt sofort hin. Das ist ja eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges! Das hat wirklich die Welt nicht mehr. Denke Dir eine prunkvolle, dabei diskrete Riesenhalle in Rokokostil. Alles Material echt, kein Talmi! Von der Decke hängen zwei Krystallkronen, von denen jede 30 000 Rubel kostet. Nur der Bau des Saales kostet 200 000 Rubel. Und wozu das alles? Du, um Delikateßwaren zu verkaufen! Man schämt sich, dort in dieser Pracht für ein paar Kopeken einen Hering zu kaufen! Und die Büffets, die Ladentische, die Krystallservanten sollst Du sehen! Die Verkäufer! Die elektrischen Beleuchtungskörper! Ein Märchenschloß einfach!« – – »Wer ist der Besitzer?« – fragte Willi. – Jelissejew, ein Kaufmann, dessen Vermögen auf achtzig bis hundert Millionen Rubel geschätzt wird! – entgegnen der Direktor – Kommen Sie, Herr Doktor! Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Sie noch einmal hinzugeleiten! Es lohnt der Mühe!« – – »Da komm ich och mit, mein Junge! Denn kann ich in Berlin an Hase sein Stammtisch doch renommieren!« – rief der alte Schmidt. So verabschiedeten sich denn auch diese drei Herren für ein Weilchen und kehrten danach sehr befriedigt zurück. – »Wir müssen uns vor der Abfahrt noch tüchtig stärken! – sagte Radinow – Wie wäre es, wenn wir alle zu Billo in das deutsche Restaurant führen und dort speisten?« – – »Einverstanden!« –

Fellers erzählten von Willis Ausflug nach Nishny Nowgorod. Lotte mit großem Ärger, weil der vor ihr liegende Tag recht einsam verlaufen würde, denn Rjepoff hätte doch sein Geschäft. Schmidts tauschten Blicke des Einverständnisses aus. Dann wandte sich der Sohn an Lotte: »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, gnädige Frau! Wenn das Wetter morgen besser ist, wollte ich meinen Altchen die Troize-Ssergjewskaja Lawra zeigen, die höchst interessant ist! – Wir können, wenn wir ganz früh fortfahren, schon um vier oder fünf Uhr wieder in Moskau sein. Mein Frauchen geht zwar noch nicht aus; aber sie ist doch wieder flott im Gange und würde sich unendlich freuen, wenn Sie zum Mittagessen unser lieber Gast sein wollten!« – – »Aber Sie sind außerordentlich liebenswürdig, das geht doch wohl kaum – – –« – – Lotte unterbrach Willi: »Thu mir die Liebe, Schatz, und mach nicht soviel Faxen! Wir sind hier in Rußland, und da ist man nicht so kleinlich! Herr Schmidt, ich nehme Ihren Antrag mit Wonne an und komme. Sie brauchen weder mit meiner Mutter noch mit meinem Manne zu sprechen!« – – Alle lachten. Man verabredete sich, daß Schmidts Lotte vom Hôtel abholen sollten und nahm Abschied, nachdem Willi noch die verschiedensten Dankbezeugungen losgelassen.

Das Hôtelzimmer kam Frau Lotte in dieser Nacht ungemütlich und unheimlich vor. – Als es endlich Tag wurde, erhob sie sich und kleidete sich an. Dann ließ sie sich schon um sieben Uhr den Thee auf ihr Zimmer bringen. Sie war verstimmt. Dabei herrschte draußen wieder prachtvolles Wetter.

Lotte war froh, als ihr der Groom meldete, daß unten ein Herr ihrer harre. Rasch machte sie sich fertig und fuhr mit dem Fahrstuhl hinab. Die alten Schmidts und der Direktor erwarteten sie bereits in einem Landauer, wo sie wenigstens alle Platz fanden. »Na, Madame Doktor, Sie sehen ja heute ein bischen misepetrig aus! Sie wer'n doch nich an verkniffene Sehnsucht leiden?« – fragte der Alte neckend und war erstaunt, als sie offen eingestand: »Ja, es ist doll; aber ich kann es nicht leugnen, er fehlt mir! Das heißt, bitte sagen Sie es ihm nie, damit er sich nicht etwa noch was drauf einbildet! – Ich wollte, es wäre erst morgen um diese Zeit!« – – – – »Das sind Frühlingsjefiehle, Frau Doktorn, die hat man nur im ersten Jahre. Mit der Zeit wird man ruhiger!« – meinte Frau Schmidt. – – »Na, hoffentlich, wenn das so bliebe? Donnerwetter! Wie gut, daß ich mitgereist bin! Himmel, was wäre in Berlin aus mir geworden? So dumm habe ich mich denn doch nie taxiert!« – – In lebhaftem Gespräch erreichten sie den Bahnhof und fanden ein leeres Coupé erster Klasse. Die Wagen zweiter Klasse waren sehr besetzt und die der dritten überfüllt, da zahllose Wallfahrer nach dem berühmten Heiligtum unterwegs waren. Wer die Unterhaltung dieser Urberliner im Herzen Rußlands belauscht, hätte entschieden seine Freude daran gehabt. Die beiden alten Leutchen tauten auf, Lotte gab sich dem geliebten Dialekt voller Wonne hin. Und Herr Schmidt junior, der doch schon zu lange von der Heimat fern war, um noch mithalten zu können, hörte voller Entzücken zu. Die ganze liebe Vaterstadt tauchte vor ihm auf. – Trotz allem mußte sich Lotte zu der Fröhlichkeit zwingen, um über das öde Gefühl, welches sie beherrschte, fortzukommen. –

Nach nicht ganz zwei Stunden erreichten sie das hübsch gelegene Städtchen Ssergjewo, das dem Kloster seine Existenz zum größten Teil verdankt. Da sie den Ort nicht weiter besuchen wollten, fuhren sie in zwei Wagen direkt zur Lawra. – Diese (Dreifaltigkeitskloster) liegt auf einer Anhöhe und ist von einer hohen Ringmauer umschlossen, deren neun Türme mit den dahinter liegenden Gebäuden sich höchst malerisch vom lichtblauen Himmel abhoben. – Dreizehn Kirchen und Kapellen in allen möglichen Stilen und Bemalungen, die Klostergebäude, die Asyle, Malschulen, die große theologische Akademie, der Bazar etc. boten das Bild einer in sich abgeschlossenen Stadt. Die vergoldeten oder bunten Kuppeln mit ihren Metallkreuzen und goldenen Sternverzierungen funkelten im Sonnenschein. Mönche, Popen, Klosterdiener und zahllose Wallfahrer gaben dem Ganzen eine lebhafte, interessante Bewegtheit. – – »Nun sehen Sie sich das Bild an! Ist das nicht gerade so farbenprächtig und orientalisch, als ob wir uns mitten im Orient befänden? Die grelle Sonne heute vergrößert die Illusion! Wenn hier einige Palmen ständen und Kamele lagern würden, könnten wir uns direkt nach Arabien versetzt wähnen!« – sagte Lotte zu dem Direktor und blickte begeistert umher. – – »Ich weiß nich, Vata, aber unse Jebäude in 'n Zoologschen sind doch och so südlich und scheinen mir vill solider jemacht – erwähnte Frau Schmidt bedächtig – Ich mag hier un' in Moskau die olle Buntheit nich! Ne Stadt derf keene Wiese sind oder keen Bettteppich mit bunter Stickerei, un 'n Kloster keen Zoologscher Garten. Mehr Farben, als die hier an ihre Jebäude schmieren, habe ich in unse Bettvorlejer och nich schattiert!« – – »Du mußt nich reden, Miezeken! – tadelte Herr Schmidt, der Lottes kurzes Lächeln und seines Sohnes momentane Verlegenheit bemerkte – Was sich for Rußland schickt und modern is, paßt wieder vor Berlin nich! Ich finde des allens hier recht ampart. Sieh mal, 'n rosa Haus und 'n jrünet Dach oder det hellblaue Haus mit det dunkelblaue Dach und die helljelbe Leisten macht sich hier janz jut. Des macht eenen sone verjnüjte Stimmung, wie wenn man als Schuljriebsch seine Münchner Bilderbogen antuschen durfte. Je doller bunt je scheener! Des is des Zeichen, daß die Russen eben noch in ihre Kinderjahre stechen! Du siehst ja, mit die Neubauten sind se schon wie wir!«

»Sie sind ja ein famoser Philosoph! – rief Lotte anerkennend und nickte dem Sohn zu – Das war eine weise Bemerkung, wahrhaftig, Herr Schmidt. Doch nun kommen Sie, Herr Direktor brennt schon, seine Kenntnisse los zu werden!« –

Herr Schmidt geleitete sie zu der niedrigen, kleinen Dreifaltigkeitskirche, deren Inneres von Gold, Silber und Edelsteinen, sowie alten Heiligenbildern strotzte. Am südlichen Ikonostas stand unter silbernem Baldachin der silberne, juwelenbesetzte Sarkophag, in dem die Leiche des heiligen Sergius unter einem kostbaren roten Sammettuch lag. Unaufhörlich traten die Gläubigen heran, küßten das darauf liegende goldene Kreuz, sowie die Hand des daneben stehenden Geistlichen und eilten, nach zahllosen Bekreuzigungen und Küssen des Erdbodens, davon. – Das Bild des Heiligen, welches Peter der Große stets im Kriege mit sich geführt, wurde besichtigt, dann wandten sich unsere Berliner der schönsten byzantinischen Kathedrale zur Himmelfahrt Mariä zu. Die Grabmäler des Zaren Boris Godunow und seiner Familie erregten Lottes ganzes historisches Interesse. Die blendende Pracht des Innern, sowie die Gemälde kamen dagegen nicht zu ihrem Recht. Eine armselige Schar von zerlumpten Wallfahrern füllte die Kirche bis zum letzten Winkel. In allen Kapellen fanden Andachten statt. Um die Aufbahrung des Sarges Christi, der mit der »Plaschtscheniza« bedeckt war und mit Hyazinthen umstanden, drängten sich die Beter. Ein betäubender Duft von Blumen mischte sich mit dem Geruch ungewaschener Menschen und schmutziger Kleider. An den verschiedenen Ständern mit Heiligenbildern standen Geistliche und hörten die Beichte. Die Form dieser heiligen Handlung war recht primitiv; denn der Beichtende legte seinen Kopf einfach gegen den Ständer. Der Priester bedeckte das gebeugte Haupt mit einem Tuch und neigte sich herab, um die geflüsterten Worte zu vernehmen. – Lotte fühlte einen Schwindel heraufsteigen, Sie zupfte Herrn Schmidt am Ärmel: »Bitte – – raus!« – stieß sie hervor. Er sah ihr Erblassen, packte sie hastig um die Taille und drängte sich energisch durch die Beterscharen. Im Freien wurde ihr sofort besser. Auf den Arm des alten Schmidt, der sie sorglich geleitete, gestützt – promenierten sie zwischen den vielen Gebäuden umher. Der Direktor zeigte ihnen den prachtvollen Glockenturm und den Obelisk, auf dem die Heldenthaten der Mönche aus der historischen Entwicklung des Klosters eingegraben sind. Dann beäugten sie den heiligen Brunnen, aus dem die Wallfahrer mit Inbrunst tranken, und besuchten noch verschiedene Kirchen, die alle überfüllt waren. – Der alte Zarenpalast, der zur Akademie umgestaltet war, sowie der berühmte Kirchenschatz sollten der »Marterwoche« wegen nicht gezeigt werden. Herr Schmidt junior kannte aber einen der einflußreichsten Geistlichen des Klosters. Dieser, ein liebenswürdiger, perfekt deutsch sprechender Mann führte sie selbst in das pompöse Refektorium mit seinen bunten, herrlichen Mosaiken. Dann ließ er ihnen in einem andern Gebäude den Kirchenschatz zeigen. Vor diesem stand die weitgereiste Frau Doktor Feller einfach wortlos. Außer den Kirchengeräten, Meßgewändern und Altardecken, die mit Gold, Perlen und Brillanten übersäet waren, zeigte man ihnen ganze Schalen und Schubladen mit ungefaßten Edelsteinen und Perlen. »Donnerwetter, das ist überwältigend! – rief sie aus – Hier liegen vielleicht für hundert Millionen Schätze zinslos aufgehäuft!« – – Ihr Führer lächelte fein: »Oh, gnädige Frau, Sie taxieren recht niedrig! Unsere Risnitza (Kirchenschatz) wird auf sechshundertfunfzig Millionen Rubel taxiert! Aber es ist eher mehr als weniger!« – – »Miezeken, herste? – sagte Schmidt kopfschüttelnd – Nee, da bleibt einem der Verstehmich stille stehen. Nee, nee, det läßt sich absolutemang nich ausdenken!« – Lotte stand zuerst stumm und starrte den wohlbeleibten Herrn an: »Was? – sagte sie endlich zornig – Hier liegen 6508nbsp;0008nbsp;000 Rubel tot und nutzlos? Und da nehmen Sie von diesen jammervollen Krüppeln und Elenden da draußen noch die abgedarbten Kopeken an? Sie lassen die Leute, die Armen, noch Geld geben, anstatt ihnen von diesem nutzlosen Reichtum Almosen in Hülle und Fülle zu geben? Oh, pfui! Das ist – – – –« – – »Um Gotteswillen, Frau Doktor!« – flüsterte der Direktor ihr zu. Sie hielt erschrocken inne. Ihr Zorn hatte sie fortgerissen. Das liebenswürdig lächelnde Gesicht des alten bärtigen Priesters erstarrte plötzlich, seine lächelnden Äuglein sprühten. »Wir sind fertig!« – sagte er zu Franz Schmidt und winkte den Dienern. In der Eisenbahn philosophierten sie leise und vorsichtig weiter über diesen Gegenstand. Es war ein Glück, daß sie ihr Abteil allein inne hatten, denn Lotte konnte sich über all das immer noch nicht erholen. In Moskau auf dem Petrowsky Boulevard bewohnte Schmidt ein eigenes kleines Haus. Der Nachmittag und Abend verfloß für Lotte recht lehrreich, denn Herr Schmidt plauderte höchst anregend über seine Erfahrungen in der Fabrik. Er brachte die junge Frau ziemlich spät in der Nacht in das Hôtel zurück. – Dort überraschte Willi sie am Morgen noch bei der Toilette. Das gab ein Wiedersehen wie nach jahrelanger Trennung! – Er war begeistert von seinem Ausflug. Lebhaft malte er Lotte den herrlichen Wolgastrom und den Zusammenfluß von diesem mit der Oka aus. Er beschrieb ihr den zu dieser Zeit leeren, tiefgelegenen Meßplatz mit seinen steinernen Ambarren (Lagerhäusern), seinem Haupthaus und den Kathedralen, sowie den mit Schiffen bedeckten Bétancourt-Kanal. Dann zeichnete er ihr die am anderen Ufer gelegene eigentliche Stadt, die in einen oberen und unteren Bazar zerfällt. Er erzählte ihr von den malerischen Hohlwegen, »Schluchten«, die hinaufführen oder von dem elektrischen Elevator, der zur Erleichterung des Aufstieges angelegt wurde. »Herr Gott, Katz, wie stellten wir uns dies Nishny Nowgorod falsch vor, und wie interessant und schön ist es. Du solltest nur die Kirchen, den Kreml und die Gymnasien- und Theaterbauten sehen!« – – »Na, ist der Kreml so schön wie der hiesige?« – – »Oh nein! Aber die Aussicht ist vielleicht, sogar entschieden noch großartiger! Aber, Katz, die Ströme, die bunte Stadt, die sich hügelauf, hügelab hinzieht mit ihren Kirchen und Klöstern, Kasernen und Fabriken – – das ist wundervoll! Dabei ist der Ort mit der Zeit mitgegangen und gut verwaltet. Denke Dir, elektrische Bahnen dort! Pflaster natürlich unter aller Kanone! – – – Leider war ja jetzt keine Messe, und so fehlte das Haupttreiben und die Nationaltrachten. Aber wir freuten uns, daß der Eisgang vorbei war und die Wolga und Oka schon belebt von all den Schiffen und Kähnen. Wie großartig muß es sein, wenn der Jahrmarkt dort ist und all das Löschen und Verladen der Waren beginnt!« – – Lotte umarmte ihn und sagte: »Versprich mir, Liebster, daß wir einmal zur richtigen Zeit dort hingehen! Natürlich, wenn Du mal kannst?« – – Er schloß sie in die Arme: »Das kann schon passieren, Schatzlieb! Dein Rußland hat es mir anscheinend auch angethan!« – – »Hurra!« – –

Das Wetter war schön, und da man sich mit Schmidts verabredet hatte, wurde der Ausflug per Dampfer nach den Sperlingsbergen gemacht. In dem noch recht leeren Restaurant Krykin wurde ausgezeichnet gespeist und der Rückweg mit Wagen gemacht. Der Tag war nun einmal, wie Lotte meinte: »Angerissen verbummelt«. Man traf sich daher noch abends mit verschiedenen Bekannten im Petrowsky-Park und besuchte die Gräber der auf dem Chodynskoje-Felde umgekommenen Menschen. Danach betrachtete man das alte, im gotisch-lombardischen Stil erbaute rostrote Schloß. Nach diesen kultur-historischen Studien widmete man sich den Genüssen, die von den Lokalen »Yar« und »Strelna« geboten wurden. Doch war das sonst so lebhafte, ausschweifende Leben dieser Stätten durch die Osterzeit außerordentlich beeinträchtigt, denn es fanden weder Aufführungen noch Konzert statt. – Man mußte sich mit den Tafelrunden und der Beobachtung der Menschen begnügen. – »Und nun noch morgen, dann geht es heim!« – klagte Lotte. – »So ein Bummelgeschöpf! – schalt Willi – Du scheinst gar nicht mehr zu wissen, daß Du noch eine Wirtschaft und ich noch eine Praxis habe!« – – »Beides ist wohl versorgt, Liebster! Und wie lange werden wir uns jetzt die Reiserei verkneifen müssen. Ich hätte gar nichts gegen noch eine Woche Rußland!« – – »Unersättliche!« – – »Wer weiß, Frau Doktor! Unverhofft kommt oft!« – tröstete Radinow. – »Ach, Pustaki, was sollte jetzt noch kommen?« – brummte sie. –

Es kam aber doch! Nämlich eine fast brieflange Depesche des Grafen Mock aus Kiew. Seine Gattin sollte mit dem Knaben und ihrer Begleitung auf Wunsch eines neuerdings konsultierten, berühmten, russischen Arztes nach Berlin, um dort einen großen Kinderarzt zu befragen. Mock bat nun Willi himmelhoch, schon bald nach Kiew zu kommen und selbst die Reise zu überwachen. – Lotte tanzte vor Wonne. Nun sollte sie auch das »russische Jerusalem« noch sehen. – Der ganze Oster-Sonnabend verregnete jämmerlich. Lotte blieb im Bett, da sie ja die Nacht auf dem Kreml verleben sollten, und sie Kräfte sammeln mußte. Willi durchwanderte die Passagen und betrachtete die Moskauer, welche noch fieberhaft Geschenke einkauften, da man sich in Rußland Ostern wie Weihnachten beschenkt. Er beklagte auch das kalte, schlechte Wetter, welches die Nacht zu verderben drohte. Zum Glück ließ jedoch der strömende Regen gegen Abend nach, und der Wind trocknete den Boden noch ein wenig. – Um neun Uhr speisten Fellers im Speisesaal des Hôtels, und Lotte verpackte sich auf ihres Gatten Geheiß, als ob »sie direkt zum Nordpol gondeln müsse!« – Um zehn holte der Direktor Schmidt sie ab. Ihm war es unter großen Schwierigkeiten gelungen, für seine Eltern, die beiden Fellers und sich noch Eintrittskarten in die Blagowjetschtschensky-Kathedrale auf dem Kreml zu erhalten. Dort versammelten sich das gesamte in Moskau lebende höhere Hofbeamtenpersonal und die Spitzen der Behörden. Die übrige große Welt feierte ihre Andacht in der »Erlöserkirche«. – Die glänzend erleuchtete Kapelle bot ein wunderbares Bild. Schranken trennten das heute gleichfalls feiertäglich gekleidete, gewaschene Volk von der Aristokratie. Die Herren in großen, blitzenden Uniformen – die Damen in hellen Balltoiletten, mit Brillanten und Juwelen behängt, standen und hielten jeder vorsichtig eine brennende Kerze, deren unterer Rand mit breiter Papierhülse umschlossen war, um das Abtropfen des Wachses zu verhüten. – – Die Andacht dauerte lange genug für Lottes verzückte Stimmung. Herrlicher Gesang und das blendende Bild brachten sie mit Energie über die glühende Hitze und den Weihrauch und Blumenduft, die sie stehend ertragen mußte. Willi und Schmidt stützten sie zwar von den Seiten, aber Lotte war innig froh, als der Gottesdienst beendet war und die Prozession um die Kirche begann. –

Das Kremlplateau war mit abertausenden von Menschen bedeckt, die Lichter trugen. Die Paläste und Kirchen waren hell erleuchtet. Die Kirchenkuppeln sämtlicher Kirchen unten in der Stadt mit Feuerbränden versehen. Öffentliche und private Gebäude illuminiert. – Ein nie zu vergessendes Bild zauberhafter, märchengleicher Schönheit. Dabei musterhafte Ordnung und große Ruhe. Punkt zwölf Uhr begann die Riesenglocke vom Iwan Weliky-Turme zu läuten, alle Moskauer Glocken fielen ein, einhundert und ein Schüsse wurden abgegeben. Das eherne Gedröhne der Glocken, die Schüsse und der allgemeine Freudentaumel, der nun begann, waren atemraubend. Lotte bebte und schluchzte, ihre Nervenkraft ließ vor der Größe dieses Momentes absolut nach. Auch Willi fühlte seine Knie erzittern. – Alles schrie: »Christus ist erstanden!« – – und die Antwort kam jubelnd zurück: »Christus ist wahrhaftig erstanden!« – Dann küßte und gratulierte man sich. Dazu das Dröhnen und Summen der Glocken, das Brummen der Kanonen, das Lichtmeer ringsum und unten – – – – – wer kann diesen Eindruck je vergessen? – Durch ein gutes, fröhliches, jauchzendes Volk, durch die sinnverwirrende Stadt fuhren Fellers mit zu Schmidts. Dort waren große, üppige Büffets im Speisesaal und in der Küche für das Personal aufgestellt. –

Die Fastenzeit, welche für die Orthodoxen vollkommen vegetarianisch, selbst ohne Eier, Butter und Milch verläuft, war vorbei. Rußland stürzte sich auf seine Festtagskost. Die Salate, Sakusken, Braten, Torten, Früchte, die Paschi und Kulitsch mit all den geweihten Broten kam zu ihrem Recht! Der Rest der heiligen Osternacht war für die Russen ein langes Gelage!


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