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5. Kapitel. Am Newastrande!

»Gatschina! Siehst Du, Schatz, das sind schon all die Datschenorte, wir nähern uns der Hauptstadt!« – – »Datscha heißt Villa!« – – »Ja, siehst Du dort! All diese bunten Holzhäuschen, dazwischen einige Steinbauten, die hier ringsum in Grün gebettet sind? Jetzt sind sie natürlich abgeschlossen, kalt und verschneit. Aber im Sommer ist es reizend! Schade, daß ich Dir nicht die schönen Parkanlagen von Zarskoje, Sselo, Pawlowsk und Peterhof und die riesigen, reichen Schlösser zeigen kann! Na, vielleicht machen wir ein paar Troikafahrten aufs Land. Oder Dein Graf Mock setzt es für Dich, dank seiner Connaissancen, durch und zeigt Dir die Schätze dieser Kaiserpaläste!« – – »Wollen 'mal sehen! Aber sag, Katz, also hier zieht man auch auf Sommer-Wohnung?« – – »Du hast 'ne Ahnung! Bei allen Russen, vom Kaiser herab bis zum ärmsten Fabrikarbeiter, hast Du diese Sehnsucht nach dem Lande. Wenn es irgend angeht, macht sich der russische Muschik alljährlich auf einige Zeit frei und eilt »aufs Dorf«. Dort weilt nämlich gewöhnlich seine liebende Gattin mit den Kindern. Sie besorgt die kleine Landwirtschaft, und er muß zuverdienen, um die Steuern in bar berappen zu können. Ich sage Dir, dieses Leben ergiebt Zustände, wie wir sie uns nicht träumen lassen.« – – »Ruhig, Lotte, keine sozialpolitischen Abhandlungen, sonst wirst Du 'rausgeschmissen!« – – »Gut gebrüllt, Löwe! Also fort von meiner geliebten Nationalökonomie! Du, wenn man bei uns eine eingerichtete Sommerwohnung mietet, dann bezieht man sie doch erst, wenn das Wetter gut ist?« – – »Selbstredend!« – – »Ja, Kuchen, hier ist das Selbstredend nicht am Platze! Die Russen leben und essen, nicht nach ihrem Wollen, sondern genau nach dem Kalender. Jede Zeit hat ihre bestimmten Gerichte, und jedes Fest seine bestimmten geregelten Speisen. So ist es mit dem Landaufenthalt. Am ersten Mai werden die Portieren abgenommen, die Teppiche aufgerollt und die Möbel verhängt. Und zwischen erstem und fünfzehntem zieht man auf die Datsche, auch wenn es noch schneit und friert. Dort sitzt man, kriegt Eisbeine und Frost; aber man ist doch draußen! Ebenso zieht man zum Herbst hinein, und wenn es noch so heiß ist, daß man nicht pusten kann! Ausnahmen, die vorkommen, bestätigen die Regel!« – – Willi lachte: »Das nennt man jedenfalls seinen Prinzipien nachleben!«

»Ihre Billets, bitte!« – erklang es im Kommandoton. Der Billeteur und sein unvermeidlicher Begleiter erschienen und nahmen die Billets ab. »Siehst Du, Schatz, nun wird man nicht mehr mit der Kontrolle belästigt. Es ist doch direkt scheußlich bei uns, wenn man mühsam all seine Packete zusammengerafft hat und zur Droschke will. Wupp 'ne Barrière, 'n Beamter, und nun heißt es: Billets vorsuchen. Dabei sind die Gedanken schon auf Droschkensuche und die Gefühle bei der Ankommensfreude!« – – »Die hast Du diesmal nicht! Warum warst Du eigensinnig und hast Deine Verwandten und Freunde nicht benachrichtigt?« – – »Weil ich die liebe Bande kenne! Sie bei dieser Kälte so früh heraustrommeln, hieße ihre Liebe aufs Spiel setzen!« – – »Nun, die stände dann auf schwachen Füßen!« – – »Ach, Blague! Der Mensch vergöttere die Sucher nicht! Hab keine Angst! Wir überraschen die Leutchen. Erst ins Hôtel und menschlich gemacht! Du siehst so etwas sezessionistisch nebelhaft aus!« – – »Du auch!« – – »Na ob, das war erst 'ne Ravage und dann noch die große Reise! Danke! Und doch, Willischatz, ich fühle mich so frisch und so voller Wonne, daß ich mit Dir gleich durch die ganze Stadt fahren möchte, um Dir all ihre Herrlichkeiten zu zeigen!« – – »Erst kannst Du mich zu Mocks kutschieren! Katz!« – – »Nanu?« – Lotte machte ein tief enttäuschtes Gesicht. – »Gewiß, Liebchen, sie und nur sie sind der Zweck meiner Fahrt. Zum Vergnügen bin ich nicht gereist. Man muß eine Mutter von ihrer Unruhe erlösen!« – entgegnete er ernst. – Seine Gattin kannte seine Pflichttreue und schätzte sie gebührend. Sie drängte daher nicht, seufzte nur und sagte aus vollster Überzeugung: »Natürlich, das hatte ich in meiner Wonne verschwitzt, ich Esel! Gott, welche Wahrheit liegt in dem Worte: verfluchte Pflicht und Schuldigkeit! Und doch will ich nicht brummen, denn den Mocks danke ich ja auch mein Hiersein – – – – – ah, wir sind da! Hurrah, Willi, wir sind in ›Pieter‹, wie das russische Volk sein Petersburg nennt!« – – Begeistert fiel Lotte dem Gatten um den Hals und küßte ihn stürmisch. – – – – – – Der Zug fuhr in die unwirtliche, kahle und wenig saubere Bahnhofshalle. Ein Gepäckträger erhielt ihr Handgepäck und den Schein über den Koffer. – – Großes Hasten und Lärmen herrschte auf dem Bahnsteig. Muschiks in unglaublichen Schmutz- und Fetzen-Gewändern, Bettler, eilten zwischen den Bessergekleideten. Willi wandte sich lächelnd um: »Wie in England so still und sauber!« – – »Ach, Kaffer, Du verdienst wirklich nicht hier zu sein! – schalt sie ärgerlich – Gerade dieser urwüchsige, ungenierte russische Dreck, diese prätentiöse Zerlumptheit ist ja das Pittoreske hier zu Lande! Daran weide ich mich immer wieder, und nun komme erst mal nach Moskau. Da sperrst Du Augen und Ohren auf! Hui! – – – In England, Schottland und Irland hatten die Schmutzigen, Zerlumpten etwas so Trostloses, Herzbeklemmendes, aber hier haben sie eine solch unbefangene Selbstverständlichkeit!« – – »Ich danke, russischer Hunger soll auch weh thun!« – wandte er ein. – »Na aber, da hast Du recht! Das Elend hier ist auch herzzerreißend! Aber nun verdirb einem die Ankunft nicht! Daß hier Radau ist – – wonnig. Wanjka hat eben kein Froschblut wie Dein John Bull!« – –

Sie waren den Bahnhof entlang geschritten und standen jetzt an der Freitreppe. Einige elegante Equipagen, einige Privatschlitten standen da, sonst nur zwei niedrige winzige Schlittchen. »Brrr! Ist das ein Morgenlüftchen!« – meinte Willi und schlug den Kragen hoch. Lotte war eine Verehrerin großer Kälte und entzückt. – »Sag 'mal, Katz, sollen wir mit Koffer und Handgepäck in diese Puppeninstrumente da?« – fragte er. Auch sie zweifelte an einer Möglichkeit; aber es ging alles. Der Nossilschtschik lud alles Gepäck auf einen Schlitten und band es mit Hilfe des Iswosschtschiks (Kutschers) fest. Dann wies er mit der Hand auf den zweiten und deutete an, daß dieses Gefährt für das Ehepaar bestimmt war. Er wurde entlohnt und verschwand. »Nun paß auf, Liebster, wie ich mit dem Kerl fertig werde, und wie Du begaunert worden wärst! Erst frage ich harmlos nach dem Preis!« – – Sie that es und bekam die Antwort: »Acht Griwenik.« Das hieß achtzig Kopeken. Eilig übersetzte sie es. »Siehst Du, soviel hättest Du blechen müssen. Mich betrügen die Kerls aber nicht! – – – – ›Du Esel, bist verrückt‹ – schalt sie wütend – Was sprichst Du? Ich gebe vierzig Kopeken, mehr nicht!« – – »Herrin, es geht nicht! Gieb fünfundfünfzig!« – – »Durák!« – – Sie that, als ob sie weitergehen wollte. – – »Fünfzig!« – schrie der Mann. – »Vierzig! – beharrte sie energisch. Kleine Pause. Dann erklang sein: »Bitte!« – – »Aha, sie sind die Alten geblieben! – frohlockte Lotte – Ein Schwindlerpack! Man muß es nur zu nehmen verstehen!« – – »Giebt es hier nicht Taxen?« – – »Ja, aber naplewatj, d. h. zum Draufspucken!« – – Beide setzten sich und quetschten sich fest aneinander, um nicht aus dem zu engen und schmalen Gefährt geschleudert zu werden. Willi mußte sogar den Arm um Lotte legen, sonst hätte seine, durch den Pelz noch verstärkte Masse, sie zweifelsohne hinausgepreßt. Er drückte sie daher fest an sich, und sie schmiegte sich wohlig an ihn. Sein Ausruf: »Dir fehlen gerade noch russische Kraftausdrücke, Katz! Dein Sprachschatz ist in dieser Beziehung eigentlich durch Berlin reich genug!« – blieb unbeachtet. Dagegen meinte sie: »Für Liebespaare sind doch diese Schlitten raffiniert ersonnen!« – – »Aber nur für solche! Sonst finde ich sie schon für Durchschnittsehepaare gräßlich. Wahre Marterinstrumente, die höchstens für eine Person genügen und auch da unbequem, weil sie ohne Lehnen sind.« – – »Sieh Dir mal mein Petersburg an! Alles in diese unglaublichen Massen von Schnee begraben. Diese Lautlosigkeit und Glätte, mit der wir dahinsausen! So habe ich es noch nicht erlebt, denn sonst ist das Pflaster fürchterlich! Sieh da, ganze Züge von Wagenkolonnen, welche den Schnee fortschaffen! Und hier Soldaten, die das Eis aushauen. Die Kerle dort, die das Trottoir vor den Häusern vom Schnee und Eis befreien, sind die Dworniki, die in den roten Hemden mit den ärmellosen schwarzen Jacken und weißen Schürzen mit Latz. Sieh Dir das an, ist das nicht malerisch? Da, fast alle in Fausthandschuhen und Pelzmützen!« – – »Na, die städtischen Wagen und Pferde sind nun weder solide gebaut noch sauber oder elegant. Elende Vehikel und Mähren!« – – »Stimmt; aber was ahnen wir von klimatischen Schwierigkeiten. Achte nur mal darauf, wie unsauber anscheinend die Truppen aussehen, weil ihre Equipierung sofort vom Wetter mitgenommen wird!«

Sie passierten verschiedene Straßen und kreuzten den Ssennoi-Markt. Jetzt trat Willi aus seiner Reserve heraus. »Das ist ja ein prachtvoller Anblick!« – rief er entzückt. »Siehste, Knöppchen, Du hast meinen Geschmack! – jauchzte Lotte begeistert – der Ssennoi ist meine alte Schwärmerei! Diese echt russische Kirche mit ihren goldenen Kuppeln, daneben die vier netten Markthallen, das städtische Laboratorium, wonnig! Und wie sauber die Hallen innen sind! Ich sage Dir, da müssen wir mal alle vier durchwandern! Schau Dich mal um und sieh die ganzen äußeren Verkaufsbuden an. Merkste was?« – – »Nein!« – – Allerdings waren sie schon aus dem Marktbereich. – »Denk mal, Willi, hier giebt es keine Marktfrauen! Der ganze Markt wird von Männern besorgt. An jedem Stand eine Überfülle an Männern. Bedienen recht nett; aber zu gaunern verstehen sie trotz fester Preise auch und schnattern können sie wie unsere Weiberchen!« – – »Du, ich bin hieb- und stichfest.« – – »Hoffentlich hast Du Dich nicht getroffen gefühlt?« – – »Oh nein, wir Maskulina – – –« – – »Sind en gros genau wie die Feminina! Ihr klatscht und zankt und neidhammelt wie wir, denke nur an Eure politischen Parteitage oder Eure Sitzungen und Stammtische, brr! Aber ich wünsche, ich könnte meine Einkäufe auf dem Ssennoi machen. Das beste, gestempelte Fleisch kostet pro Pfund 18 Kopeken, das schlechteste 12 bis 14. – Die Butter zwischen 40 und 60 Kopeken pro Pfund!« – – »Woher weißt Du das denn noch?« – – »Von meiner Cousine, die mit mir hier war. Sie selbst kaufte zwar in ihrer Gegend, zeigte aber und erklärte mir alles! Oh, es war höchst interessant! Jetzt, wo ich selbst Hausfrau bin, werde ich noch besser auf solche Fachsachen achten!« – – »Oh, welche breite Straße!« – – »Der Newsky, der schöne alte Newsky!« – meinte Lotte ordentlich andächtig und fuhr in ihren Erklärungen fort. Trotz der Morgenfrühe bot die grandiose Straße, die fünf Kilometer lang und fünfunddreißig Meter breit ist, schon ein bewegtes Bild. – Die junge Frau zeigte ihm die in dem Gostiny-Dwor (Kaufhaus) vereinigten Geschäfte, die Duma: das Rathaus der Stadt, und versprach ihm die andern Herrlichkeiten für ein andres Mal.

Ihre Schlitten hielten vor dem großen Hôtel de l'Europe, wo sie sich telegraphisch Zimmer bestellt hatten. Das Haus lag sehr günstig und war mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Sie erhielten ein großes hübsches Gemach mit schöner Aussicht über den Prospekt. »Wollen wir, wenn wir gebadet haben, schlafen?« – fragte Willi besorgt. Er schritt zum Fenster, wo Lotte stand und betrachtete sie forschend. Ihr Aussehen war frisch und blühend. »Schlafen? Ick sterbe ja eher! Dazu ist die Nacht da! Nee, Jungeken, ich laß Dich nicht in Ruhe! Wenn wir uns frisch bezogen und ordentlich gefuttert haben, nehmen wir uns eine Stunde einen Schlitten und fahren umher. Die Hauptsachen muß ich Dir zeigen, ehe ich Dich bei Mocks absetze!« – – »Und was wirst Du dann machen?« – – »Mich in Liebesgram auflösen!« – – »Nein, Lotte, im Ernst! Ich weiß doch nicht, wie lange ich da aufgehalten werde? Wo bleibst Du?« – – »Ich bummle Newsky!« – – »Allein?« – – »Nein! Die Sache ist höchst einfach!« – – »Na und?« – – »Du fährst zu Deiner O Je-katerina Pawlowna und kehrst, wenn Du dort fertig bist, hier in das Hôtel zurück und sitzst artig im Lesezimmer. Um eins bin ich hier, und in den Armen liegen sich beide – – –« – – »Und Deine Verwandten?« – – »Die suchen wir erst zum Thee heim. Ich liebe diese russischen Vesper mit Thee, eingekochten Früchten, »Warenje« genannt, Süßigkeiten etc. Dir werden die Augen übergehen vor Vergnügen!« – – »Eher wohl, weil Du zu stark werden wirst!« – – »Ach, Pustjaki!« – – »Was ist das schon wieder, rede nicht in Hieroglyphen!« – – »In Rußland muß man mit den Wölfen heulen! Und dann wird dir Pustjaki eleganter klingen, als wenn ich Quatsch sage, obgleich der Sinn auf eins herauskommt!« – – »Frechdachs!« – – »Also los, Herr und Gemahl! Nicht die Zeit vertrödeln! Sie ist kostbar!« –

Eine Stunde später saßen beide im Speisezimmer beim Frühstück. »Weißt Du, Lotte, ich habe schon gedacht –« – – »Du das ist Dir wohl recht schwergefallen?« – – Er sah ärgerlich in ihr glückstrahlendes Gesicht mit den übermütig glänzenden Augen und drohte nur mit dem Finger. »Bist wieder außer Rand und Band, Mamsell! Du, wie wäre es, Du kennst Dich doch hier ganz gut aus, wenn wir heute noch unsere verwandtschaftlichen Gefühle unterdrückten und inkognito hier herumbummelten?« – – Lotte überlegte: »Du, ich freue mich aber unbändig auf meine Sippe!« – »Glaube ich Dir, ich freue mich auch auf sie; aber laß uns heute noch die goldene Freiheit genießen. Spiele Du nur den weisen Mentor, ich werde Dir zum Lohne das große Portemonnaie und den schützenden Männerarm zur Verfügung stellen! Eingeschlagen, Frau Doktor?« – Er hielt ihr die Hand hin. Sie schien etwas enttäuscht, legte dann aber ihre Rechte hinein. »Ach, kann man Dir denn widerstehen, Du Wonnevieh!« – – »Hurra, also heute nach gethaner Pflicht ein Bummel durch Petersburg à la Hochzeitsreise! Weißt Du, Liebling, Deinen Verwandten wird dieser Tag unterschlagen. Für sie sind wir erst morgen angekommen!« – – »Oller Schwindler!« – – »Ach, mir ist urfidel, denn sieh mal, ich bin den Leutchen ganz fremd und muß mir erst ihr Wohlwollen erschmeicheln. Als Deinen Gatten müssen sie mir ohnehin mit einem gewissen Mißtrauen gegenübertreten!« – – »So 'ne Unverschämtheit!« – – »Gar nicht, Katz! Aber Du selbst hast mir erzählt, wie Du Dir hier Deinen Ruf durch Ruppigkeit und Ausgelassenheit verdorben hast. Die Leutchen werden unwillkürlich an mich den gleichen Maßstab anlegen! Ich aber muß meinen Ruf wahren!« – – »Du, Willi, gieb Dich bei diesen harmlosen offenen Menschen nicht etwa als steifen Hannepampel, daß sie mir noch schlechten Geschmack zutrauen! Sei wie Du bist, der passende Gatte von Madame Sans Gêne, und ihre Herzen werden Dir zufliegen!« – – »Na, ich danke, wenn ich auch noch so wäre, würden sie nette Ansichten über Berlin gewinnen! Du bist ein Berliner Original, da muß man Dich nicht mit dem Durchschnittsmaß messen und von Dir Rückschlüsse machen. Ich aber darf nicht auch noch Original spielen, sonst ist der Ruf ruiniert!« – – »Schadt' nichts, Busch sagt auch: dann ist man ungenierter!« – –

Feller sah nach der Uhr: »Lotte – meinte er ernster – ich kann die Rundfahrt nicht mehr machen! Ich fahre direkt zur Gräfin. Es ist spät geworden!« – – Sie erhob sich: »Gut, ich bringe Dich hin und zeige Dir den Weg. Er ist so nah, daß Du ihn nachher nicht verfehlen kannst. Du kehrst dann eventuell hierher zurück und erwartest mich, während ich nur ein wenig auf und ab schlendere!« – – »Dein Wunsch ist mir Befehl!« – antwortete er und erhob sich. Die Schweizer halfen ihnen in die Mäntel und Galoschen. Lotte betrachtete noch einmal ihren Stadtplan und war ihrer Sache sicher: »So, nun weiß ich Bescheid, bitte, komm!« – – Sie führte ihn über den Newsky Prospekt, an der Kasanschen Kathedrale vorbei, bog durch den Triumphbogen des Generalstabsgebäudes und stand mit ihm auf dem gigantischen Dwortzowy-Platz. Da liegt das Winterpalais! Links die Kirche, welche da in so prachtvollen Konturen sich vom Horizont abhebt, ist die Isaaks-Kathedrale. Dort nach rechts vom Palais liegt das Eremitage-Museum. Und da ist eben die Milljonnaja, in der Deine Mocks ihr Haus haben. Was sagst Du nun?« – – Der Arzt schaute sich prüfend umher. – »Sehr gigantisch, sehr schön; aber das Schloß in seinem Barockstil, die Kirche in dem uns bekannten Stil, dieser Generalstab? Alles recht gut; aber offengestanden – – – das Originelle, das Nationale fehlt mir! Das kann ich auch in Westeuropa sehen!« – – »Sehr richtig, Liebster! Das Originelle findest Du in seinem ganzen, überwältigenden Reiz erst im Mütterchen Moskau! Vergiß nicht, daß Peter der Große hier eine durchaus europäische Stadt haben wollte. Mir ergeht es wie Dir! Ich bewundere den Newsky und all diese großartigen Anlagen; aber die rechte Freude habe ich vielmehr in den Seitenstraßen. Holzhäuschen, kleine, buntbemalte Steinbauten, die echt russischen Kirchen, warte nur, ich werde Dir noch alles zeigen. Erst möchte ich Dich mit dem wunderbaren Newa-Quai und dem herrlichen Strom bekannt machen! – – – Dort kommt eine Hofequipage, aufpassen! Das ist eine Chance!« – – »Nee, Liebstes, nachdem, was ich von hier hörte, wird es keiner von der kaiserlichen Familie sein! Bei den hiesigen Absperrungsmaßregeln – – –« – – »Achtung! Später!« – rief sie nur erregt. Vom Schloß her kam in wahnsinnigem Trabe eine breitgebaute Equipage, die etwas plump wirkte. Der Leibkosak neben dem Kutscher verriet das Nahen der allerhöchsten Herrschaften. – Einige Schutzleute, »Gorodowois«, salutierten. Einige Leute blieben stehen. Sonst absolut keine Aufregung oder ein Polizeiaufgebot. Am erregtesten war entschieden Lotte, die wie eine Besessene hin und her trappelte. Es war die schöne junge Zarin, deren ernstes Gesicht bei Fellers tiefem Gruße leicht lächelnd sich neigte. – – »So ein Glück! – jubelte die junge Frau – Gleich am ersten Morgen die Kaiserin zu sehen! Halt, halt, da kommt noch mehr!« – – Zwei Schlitten und noch eine Equipage folgten. Neben den Kutschern saßen die Lakaien in scharlachroten Pelerinenmänteln, mit gelben Borten, in die die russischen Doppeladler eingestickt waren. – Diesmal waren es aber nur Herrschaften vom Gefolge oder Mitglieder der großfürstlichen Familien. – Willi und Lotte überschritten den Platz mit großer Vorsicht, denn der Schnee war über dem Fußsteig nur oberflächlich fortgeschaufelt, etwas getaut und von neuem gefroren. So war der Weg sehr schlüpfrig und glatt; dazu machte ihn das Heranrasen der Schlitten, die lautlos nahten, das unbestimmte Geklingel der aneinander schlagenden Schellen doppelt gefährlich. Willi stützte Lotte besorgt. »Zurück fährst Du, Katz, Du gehst mir nicht allein über den Platz zurück. Man kann hier den Hals brechen!« – – »Ja, aufs Laufen ist man hier nicht eingefuchst! Was nur halbwegs 'was Anständiges ist, fährt eben. Bei aller Schwärmerei für Rußland, sein Pflaster hat der Teufel erfunden. In Moskau ist es noch doller! Bald kommen Versenkungen, Löcher, fehlende Quadern, dann kleine Höhen, plötzlich Thäler vor den Podesten. Bordschwellen und abgesteifte Trottoirs sind Traumzustände. Daß nicht mehr Unglücksfälle vorkommen, ist ein Wunder! Ich möchte nur wissen, wie es hier die Kurzsichtigen machen?« –

Sie schritten bei der eisigen Kälte, die durch einen feuchtkalten Wind noch vermehrt wurde, tapfer vorwärts. Endlich waren sie am Ziel. »Hier wohnt Dein Mockturtle! Hör 'mal, Willi, ich lasse Dich eifersuchtslos hinein. Halte Dein Herz fest, panzere Dich gegen ihre Reize, damit ich Dich heil aus dem Venusberg herausbekomme!« – – »Red' keinen Unsinn, Lotte!« – erwiderte er ärgerlich. Nun instruierte sie ihn noch über die Rückfahrt zum Hotel, indem sie ihm die russische Aussprache der Adresse und des Preises mit deutschen Buchstaben ins Notizbuch schrieb. Dann bestieg sie selbst einen kleinen Schlitten und ließ sich bis zum Newsky fahren. Dort stieg sie ab und ging langsam an den Schaufenstern entlang, deren Scheiben man sehr geschickt eisfrei hielt. – Was für wundervolle Sachen sah man hier! Nur alles teuer, sehr teuer! – Frau Doktor war, über dem Schauen die Kälte vergessend, bis zur Konjuschennaja (Stallhofstraße) gekommen, als ein Iswosschtschik dicht neben ihr vorfuhr und eine Dame ausstieg. Sie betrachtete amüsiert deren »Verpackung«. Über einem Wintermantel trug die Fremde noch eine Pelzrotonde, hohe gefütterte Galoschen, auf dem Kopfe einen Federhut, über den ein braungraues Orenburger Tuch so fest geschlungen war, daß es die Ohren bedeckte und die Façon entstellte. Von dem Gesicht sah man nur den oberen Teil. – Lotte philosophierte gerade über die Verpimpelung der Russen, welche all unsere Vorstellungen übertrifft. Da näherte sich ihr die »wandelnde Masse«, fixierte sie scharf und sagte in unverfälscht breitem, baltischem Deutsch mit dem harten Rrr: »Wenn ich nicht sehr irre, so sind Sie doch Fräulein Lotte Bach aus Berlin?« – – Ein Aufblitzen geheimer Wut wurde im Keime erstickt. Kaum hörte Lotte diese Stimme, so war sie sich ihrer Sache gewiß. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel: »Sehr richtig, meine liebe Frau Franden, Sie haben aber gute Augen und ein ausgezeichnetes Gedächtnis! Ich bin's!« – – »Willkommen in Petersburg! Das ist schön! Nu – – – Steins haben mir doch gar nichts gesagt, daß Sie kommen werden! Wohnen Sie wieder dort?« – – »Nee, Frau Franden, das ist doch nicht mehr so einfach, alldieweil und sintemalen ich nicht mehr die Lotte Bach, sondern die Frau Dr. Feller bin!« – – »Nu ja, richtig, ich hatt verjessen! Gratuliere! Ist der Herr Gemahl auch hier?« – – »Na ob, nichts ohne diesen! Wir sind todmüde heut angekommen, wollen uns nur ausschlafen und morgen unsere Steins überraschen. Thun Sie mir die große Liebe, Frau Franden, und verraten Sie uns nicht, sonst ist unsere Überraschung futsch!« – – Die andere versprach hoch und teuer das Gegenteil. Sie fragte noch einiges, fand Lottes dicken, daunengefütterten Mantel viel zu leicht, prophezeite ihr eine starke Erkältung und verabschiedete sich, nachdem sie das junge Ehepaar noch aufgefordert hatte. – – – – – ›Das war nicht nötig! – dachte Lotte –‹ ich hätte es noch einige Tage ausgehalten! Gottlob, daß mich hier in dieser Riesenstadt so wenige kennen. Solche Zufälle giebt es wenigstens nicht oft! – Dann malte sie sich Willis Anwesenheit bei Mocks aus. Plötzlich spürte sie eine eisige Kälte und kehrte um. Der Vorwand, bei dem berühmten Konditor Andrejew ein Glas Thee zu trinken und einige seiner vorzüglichen Kuchen zu essen, war ihr sehr willkommen. – Sie trat in das langgestreckte ebenerdige Lokal, das sehr praktisch eingeteilt war. Rechts befand sich die Bäckerei, wo dunkles und helles Backwerk in allen Größen und allen Formen aufgestapelt war. Links im Vorderladen stand der lange Verkaufstisch mit zahllosen Torten, Konfektsorten und Bonbonnièren. Daran schloß sich die Kasse und an diese eine Tafel, bei der Lottes Herz im Leibe lachte. Mindestens dreißig verschiedene Kuchensorten waren auf das appetitlichste aufgestellt. Sie wählte sich mehrere zu je drei Kopeken aus und eilte mit ihnen in den schmalen, langen Saal, in dem Tischchen und Stühle standen. Bei einem der weißgekleideten Kellner bestellte sie sich recht heiße Schokolade und ließ sich behaglich nieder. – Eine Menge Gäste saßen schon da. Herren, die beim Glase Thee die Zeitungen überflogen, besorgungsmüde Hausfrauen, zwei Liebespärchen. – Frau Doktor beobachtete beide so interessiert, daß sie sich geniert fühlten und das eine sogar den Tisch wechselte. Lotte lachte heimlich. ›Wo die Liebe im Spiel ist, giebt es keine Grenzen. Alle Verliebten fühlen und benehmen sich international‹ – dachte sie und machte sich über das heiße Getränk. – Dann raffte sie ihre Kenntnisse zusammen und fragte den Diener nach deutschen Zeitungen. Es ging ihr wie bei ihren ersten russischen Reisen. Wenn sie mit aller Aufbietung von grammatischen Kenntnissen oder Energie einen Satz langsam herausgequetscht – – – – so war ihre Betonung der Silben so falsch, daß man sie erst nach mehrfachem Wiederholen verstand. Hatte der Russe endlich ihre Wünsche entziffert, so antwortete er so schnell, daß sie ihrerseits wieder nicht eine Silbe erfaßte. Sie mußte bitten, daß er langsamer sprach. – Erst wenn ihr Ohr sich an den russischen Stimmklang gewöhnt, begriff sie mehrere Worte und kombinierte geschickt den ganzen Sinn. So war sie stets lachend und ganz gut durchgekommen.

Ähnlich erging es ihr heute. Erst nach zweimaliger Repetition wurde sie verstanden. – Schon eine ganze Weile hatte Lotte bemerkt, daß sie von einem Herren am Nebentisch scharf fixiert wurde. Sie gönnte ihm keinen Blick. Jetzt, als sie sprach, hörte sie ihn kichern, wandte sich strafend zur Seite und schaute in ein lachendes, ihr bekannt erscheinendes Gesicht. Der Herr sprang auf und trat auf sie zu. »Dacht ich es doch! Nur war ich meiner Sache nicht sicher, bis ich Ihre Stimme hörte. Ich traue meinen Augen nicht! Nanu, wie kommen Sie so plötzlich nach Petersburg, Charlotte Leontjewna?« – – Er streckte ihr so selig lächelnd die Hand entgegen, daß die Angeredete nicht anders konnte, als seine herzliche Begrüßung gleich liebenswürdig zu quittieren. Dabei hatte Lotte, trotzdem sie sich seiner Physiognomie entsann, keine Ahnung, wer es war oder wo sie ihn gesehen hatte. »Ich freue mich sehr!« – behauptete sie kühn. – »Seit wann sind Sie bei Steins? Otto Karlowitsch hat mir doch nichts gesagt!« – – »Bitte, wollen Sie nicht hier Platz nehmen? – Lotte wies auf den freien Stuhl, weil sie schon auffielen. – – »Danke, gern! Was machen die russischen Studien? Wann kamen Sie an? Wie war die Fahrt?« – – Lotte antwortete und erzählte von ihrer Verheiratung und allem Möglichen, während sie sich innerlich den Kopf zerbrach, wer dieser fremde Herr sein mochte. Das war ja nett, wie sie hier saß. Das hätte Willi sehen sollen! – – »Wenn Sie heute Abend zu Steins gehen, dann komme ich auch hin. Wir wollten ohnehin seit einer Woche dort Besuch machen!« – –»So? Ja, leider werden wir heute noch nicht können! – entgegnete Lotte – Mein Mann ist jetzt beschäftigt, und nachher sind wir so reisemüde, daß wir uns sofort hinlegen werden!« – – »Aber Charlotte Leontjewna, fangen Sie wieder mit dem frühen Schlafengehen an! Sie wissen doch, wir sagen uns mitunter erst um ein Uhr nachts – guten Morgen! Wissen Sie noch, wie Sie meine Schwester Anjuta ärgerten und kapriciös schalten – – –« – Er sah Lotte erstaunt an, denn sie atmete erleichtert auf: »Gottlob, jetzt weiß ich doch, wer Sie sind!«. – – »Wie?« – – »Na aber, Menschenskind, bis jetzt saß ich da und zerkriebelte meinen Kopf, wer Sie seien! Natürlich sind Sie Max Iwanowitsch, Doktor Prudt, der Mann mit's russophile Jemüt!« – – »So! – er lachte – Jetzt kenn ich auch Sie erst wieder, wo die Berlinerin zum Vorschein kommt. Bisher waren Sie so unheimlich brav und ernst. Ich schob es schon auf das Konto Ihres Herrn Gemahles, der so reformierend gewirkt hat. Aber mit mir, mit dem Sie doch in ewiger Neckfehde lagen, stimmte der konventionelle Ton gar nicht!« – – »Natürlich, wo hatte ich denn meine Augen! – rief sie ärgerlich – Solche Dummheit! Im übrigen tragen Sie jetzt Vollbart, und ich wundere mich, daß Sie überhaupt noch Deutsch können, Sie Vaterlandsverräter!« – – »Geht es schon wieder los?« – – »Natürlich, so lange wir uns kennen, werden wir uns kabbeln. Wie konnten Sie, ein Berliner – – –?« »Wes Brot ich eß, des Lied ich sing!« – – »Sehr charaktervoll! Sie konnten hier Ihr Brot verdienen, sehr russenfreundlich und bescheiden sein, ohne gleich Ihre Nationalität aufzugeben. Gerade das Zusammenhalten der Deutschen hier, ihre Vaterlandsliebe bei aller Dankbarkeit für Rußland, ist imposant! Aber Sie – – – natürlich: Fräulein Bach konnten Sie nicht mehr sagen. Das hatten Sie verlernt! Es mußte Charlotte Leontjewna sein!« – – ›Kaffer‹ setzte sie in Gedanken hinzu. – »Sie sind noch immer so niedlich, wenn Sie sich ärgern! Schon das lohnte, prawda, um Russe zu werden!« – – »Prawda! ›Wahrhaftig‹ können Sie wohl nich mehr 'rauskriegen? Det Sie nur die Neese ins Jesichte behalten!« – – Tschetsnoje ßlówo, sie ist die Alte geblieben!« – sagte er strahlend. – – »Ach was, Max Iwanowitsch, ich will mir nicht den schönen Tag verderben und mich ärgern! Ich gehe jetzt, und wenn in Ihnen noch ein letzter Rest von Anhänglichkeit an Berlin steckt, dann halten Sie heute bei Steins reinen Mund und verraten mich nicht! Ich will die Leutchen erst morgen früh mit meinem Mann überfallen!« – – »Charaschóß!« – – »Quatsch mit Sauce meinen Sie! Adieu Max Iwanowitsch Prudt, auf Berlinisch schlechtweg Maxe Prudt genannt! Also Diskretion – Ehrensache!« – – »Ein Mann ein Wort! – versicherte er – Aber Charlotte Leontjewna, Ihren Gatten muß ich kennen lernen, jei bogu!« – – »Sollen Sie; aber später! Sdrastwuitje!« – »Proschtschaitje oder Do Sswidanja sagt man, wenn man auseinander geht! – verbesserte er lachend – Noch immer der alte Fehler?« – – »Ja, Sie haben Recht, Doktor! Aber Sie wissen doch: Dumm geboren und nischt dazugelernt! Also Do Sswidanja!« –

Sie verabschiedete sich sehr aufgemuntert und verließ die Konditorei, in der Doktor Prudt sehr erheitert zurückblieb. Er mochte die junge Berlinerin besonders gern, trotzdem er sich mit ihr ununterbrochen zankte. Sie konnte ihm seinen Übertritt in die russische Nation absolut nicht verzeihen. – Lotte kehrte ins Hotel zurück. Sie fühlte sich etwas schläfrig und legte sich in ihrem Zimmer auf den Diwan. Sehr bald schlief sie ein und zwar so fest, daß sie Willis Rückkehr nicht bemerkte. Als sie endlich erwachte, saß er am Fenster und schaute rauchend auf den Newsky Prospekt hinab. – Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich ermunterte und die Situation übersah. Langsam erhob sie sich: »Na, Schatz, hast Du leicht hergefunden? Wie war es bei Mocks?« – – Der junge Arzt eilte zu ihr, und beide setzten sich aufs engste umschlungen hin. Er erzählte von dem wunderschönen, kleinen Palais mit seiner kostbaren Einrichtung, von den zwanzig Dienstboten, die umherlümmelten. Sein Empfang durch den französischen Hausmeister, der ihn an den englisch sprechenden Sekretär des Grafen wies, war charakteristisch. Trotz des großen Personals waren die Räume noch nicht in Ordnung. Und der Hausherr noch im Bett, da er die ganze Nacht im Klub verbracht hatte. – Endlich erschien die deutsche Zofe der Gräfin und führte ihn aus den im Rokoko- und Empirestil eingerichteten Prachträumen hinüber in die Zimmer der Hausfrau. Zu Lottes Entsetzen hatte ihn die Gräfin, nachdem er ihr die Hand geküßt, nach russischer Hofsitte mit einem Kuß auf die Stirn, überströmend herzlich begrüßt. – Willi erzählte so eifrig, daß er die leise geknurrten Worte seiner Gattin: »Unverschämte Sitte!« überhörte. Er berichtete von ihrem nervösen Leiden und der ungefährlichen Magen- und Darmverschlingung des zarten, schwächlichen, aber engelschönen Stammhalters.

»Alles in allem genommen – sagte Willi – ist meine Berufung einfach nur die exaltierte Marotte einer reichen und arg verwöhnten Frau. Ich kann absolut nichts thun, als den Verordnungen der hiesigen Autoritäten beistimmen. Beide Patienten sind in so erprobten und vortrefflichen Händen, daß ich völlig überflüssig bin. Diese alten großen russischen Ärzte könnten über die Konsultation mit einem so jungen ausländischen Kollegen nur lachen. Ich habe deshalb gebeten, daß davon Abstand genommen wird! – – – – Mein Urteil kennt die Gräfin, ebenso meine Diagnose. Wenn sie auf meiner weiteren Behandlung beharrt, so ist das eine Kaprice, die mir nur recht sein kann! Ich lerne dadurch umsonst Rußland kennen!« – schloß er vergnügt. – – – »Na eben, lassen wir sie uns gefallen! Und Schatz, so wahr ich hier sitze, ich bin nicht mehr eifersüchtig! Wirklich nicht! Aber daß die Frau Gräfin nebenbei in Dich verliebt ist, das ist doch nun so klar wie Kloßbrühe!« – entgegnete Lotte lachend. – – »Laß sie, Katz! So reizend und geistvoll ich sie finde, dieses Treibhausgenre ist mir absolut ungefährlich. Ich bin mehr fürs Gesunde, übrigens wollen die Ärzte, daß die Gräfin das böse Klima Petersburgs verläßt und sich mit dem Kind nach Kiew begiebt. Diese Luftveränderung thäte ihr entschieden gut. Auch daß sie hier aus dem Gesellschaftstrubel und den Verpflichtungen für das nahe Osterfest herauskommt!« – – »Du! Sie sollte Dich auch nach Kiew mitnehmen. Die Stadt ist das russische Jerusalem und soll so wunderbar schön sein, daß ich schon längst danach Sehnsucht habe!« – meinte Lotte. – »Sag' mal, mein Schatz, daß Du Dich schonen mußt, und daß es Reisestrapazen giebt, daran denkst Du wohl gar nicht?« – – »Nee, is auch nich nötig, denn man reist hier zu bequem! Sieh mal, Liebster, Wonnerich, Moskau muß ich Dir ohnehin zeigen. Ohne Moskau hast Du keine Ahnung von Rußland! Na, und dann die paar Stunden bis Kiew, p! Is ja nix!« – – »Wieviel sind es denn?« – – »Nur 28!« – – »Nur 28! Ausgezeichnet! Dummes, kleines Ding! Was nicht noch alles?« – – Lotte schmiegte sich an ihn und sah ihn flehend an: »Höchstens nach Riga und Dorpat und Reval! Die Orte muß man ja gesehen haben als deutsche Überreste hier. Und sieh mal, meine Freundin Marie müssen wir besuchen. Sie hat doch einen kleinen Jungen gekriegt, Schatz! Da müssen wir hin – – – – – zum Maßnehmen!« – – »Das fehlte noch!« – – »Nur ein paar Tage! – bettelte sie – Ich habe Marie geschrieben und sie gebeten, mir zu Steins zu antworten. Paß auf! Sie wird uns keine Ruhe lassen! – – – – Natürlich, vorerst sehen wir uns hier ordentlich um! Sag' mal, hast Du keinen Hunger? Es ist Essenszeit!« – – »O ja, sogar großen! Komm, wir wollen uns fertig machen! Essen wir hier im Hôtel?« – – »Ih wo! Bei Leiner, im deutschen Restaurant an der Polizeibrücke auf dem Newsky!« – entgegnete sie. –

Eine halbe Stunde später saß das junge Ehepaar in den von Zigarettenqualm erfüllten Räumen des alten Lokals. Um sie ertönten nur deutsche Laute. Die Gäste, die Kellner, alles sprach deutsch, wenn auch das urwüchsige, wenig schöne Baltisch oder das Deutsch, welches durch langen Aufenthalt in fremden Landen unrein geworden ist. Lotte und Willi speisten mit ausgezeichnetem Appetit und begaben sich dann langsam den Newsky entlang zur Passage, wo das neue Café de Paris eröffnet worden war. Dieses lang sich hinziehende Kellerrestaurant mit seinen gewölbten Decken, seinen Nischen, die durch imitierte Palmen und Blattpflanzen geschmückt waren, wurde durch Oberlicht erhellt und war angenehm durchwärmt. Hier ließen sich Willi und Lotte gemütlich nieder und bestellten Kaffee und Kuchen. Sie ließen sich deutsche Zeitschriften geben und fanden die ›Fliegenden Blätter‹ und die ›Moderne Kunst‹. – – »Na, da sag' einer noch, man lebe hier nicht mit! Mir fehlt nichts zu meinem irdischen Behagen!« – sagte die junge Frau. Doch im nächsten Moment preßte sie seinen Arm: »Pscht!« – – »Was ist los?« – – »Ach, die Gefahr ist vorüber! Ein bekanntes Ehepaar, welches ich durch Spemers kenne. Solche Niedertracht! Als ich früher hier war, konnte ich den ganzen Vormittag und Nachmittag umherrasen, ohne auch nur einen Menschen zu treffen. Und heute, wo ich das erste und einzige Mal inkognito hier sein will, werde ich so oft gesehen. Nun fehlt es nur noch, daß wir Otto und Henny direkt in die Arme laufen!« – – »Das wäre entschieden amüsant!« – – »Glücklicher Weise haben sie heute Abend Besuch, denn Prudt wollte mit den Seinen hingehen. Ich komme mir ohnehin wie eine Verräterin an den lieben Menschen vor!« – – »Hast Du eigentlich Programm gemacht, Liebstes?« – – »So gut dies in der Fastenzeit möglich ist, ja! Als ich vorhin die Zeitung: den ›Herold‹ so genau studierte, ging das große Geschäft vor sich. Die große Oper und das russische Theater sind eigentlich geschlossen, doch bleiben uns noch eine ganze Menge Dinge zur Auswahl: das deutsche Gastspiel unter Bock im Alexandra-Theater, die russische Oper im »Aquarium«, verschiedene Tingeltangel-Bumse.« – »Nee, Katz, wenn ich im Jahr einmal im Wintergarten oder im Apollotheater bin, so sind meine Bedürfnisse gedeckt!« – – »Meine auch! Wir hätten also noch die französische Truppe mit irgend einer faden Schweinigelei!« – – »Nicht in die la Main! Immer Briefe- und sonstige Verwechslungen. Alles der gleiche frivole Blödsinn!« – – »Gut gebrüllt, Löwe! Es bliebe »Michael Kramer« russisch vom Moskauer Ensemble. – – »Das sahen wir im Deutschen Theater!« – – »Also, viel edler Gigagatte, sind wir nach Petersburg gereist, um hier von deutschen Künstlern »Die lieben Feinde« spielen zu sehen? Das ist beinah tragikomisch!« – »Da hast Du recht!« – »Doch nun, Schatz, komm, wir wollen, so lange es noch hell ist, eine Spazierfahrt machen, damit Du Petersburg siehst.«

Als sie auf die Straße traten, raste ein wahrer Schneesturm. »Um Himmelswillen!« – seufzte Willi. – »Jrade wat Scheenes! Sei nicht so pimplig Du! Zu einem russischen Winter gehört Schnee. Wir sind warm angezogen, die Schlitten sind geschirrt. Drauf und los!« – – »Wenn bloß diese Schlitten höher, breiter und bequemer wären. Aber meine rechte Seite war heute früh fast eingeschlafen, und die Pferdeköpfe oder Arbeiterschuhe, die fortwährend mit unserm Kopfe in Berührung zu kommen drohen, sind äußerst unangenehm. – – »Arbeiterbeine?« – fragte Lotte starr. – – »Gewiß, die Männer, welche quer auf den Lastwagen sitzen und so fidel mit den Beinen baumeln, sind ja eine direkte Gefahr für die Schlittenfahrer. Ich wurde heute einmal von einem pitschnassen Stiefel gestreift und mußte mich diverse Male ausweichend bücken.« – – »Richtig, ich entsinne mich dieser Misère von früher; aber ‹i›à la guerre comme à la guerre‹/i›. Im übrigen wäre ich auch froh, wenn erst wieder die Iswoschtschiks fahren würden, trotzdem auch die große Nachteile haben!« – –

Sie saßen in dem Schlitten, den Lotte auf ihre alte Manier angeworben; und flogen über die Anitschkowbrücke, an der Fontanka entlang bis zum Newaufer. Dort bog der Schlitten ein und fuhr an dem total vereisten, schneebedeckten Strom entlang, vorbei an den Klubs und Palästen bis zur Nikolai-Brücke. Die junge Frau erklärte ihrem Gatten alles. Sie zeigte ihm die Festung mit der Peter-Pauls-Kathedrale, in der die heimgegangenen Zaren in schlichten weißen Marmorsärgen, auf denen die Embleme ihrer Würde liegen, ruhen. Bei den regierenden Zaren die Kaiserkrone originell durchleuchtet durch die ewigen Lampen. Das Ganze weiß in weiß gehalten, durch grüne Laubgewächse und Blumenbeete unterbrochen. An den Wänden auf Sammetteppichen die kostbaren Metallkränze, Ehrengaben und Fahnen. – Lotte nannte Willi die Namen der Großfürsten, welche ihre Schlösser an dieser herrlich schönen Uferstraße haben. Sie zeigte ihm die Denkmäler, den Sommergarten, die Brücken etc. Endlich verstummte sie. Der dichte Schnee verhinderte die Aussicht. Ein eisiger Wind verklammte die Fahrenden, und vom Eis der Newa kam eine so schneidende Kälte, daß der Atem fror. – Lotte dirigierte das Gefährt schleunigst nach dem Hôtel zurück. Dort bestellte sie Thee und mit Hilfe dieses und ihrer mitgebrachten Trinkvorräte tauten sie allmählich auf.

»Das nennt man Winter! – erkannte Willi an – So etwas kennen wir nicht, Gottlob! Dabei sagte mir der Portier noch tröstend, es wären ja heute nur zehn Grad. Sie hätten aber sogar über zwanzig. Jetzt lache ich nicht mehr, wenn sich die Leute derart einpacken!« – – »Nun eben, und dabei schlägt das Wetter soviel um, und der Wind ist so feucht. Es prickelt ordentlich! Da ist es in Moskau, wo die Kälte klar, windlos und gebunden ist, weit angenehmer!« – – »Brr, ich habe genug!« – – »Ich nicht! Nee, Schatz, wir werden diese Fahrt noch einmal bei besserem Wetter machen. Du weißt nicht, wie schön diese Straße ist, wie wunderbar die Luftstimmungen und Farben über den jenseitigen Ufern, besonders bei Sonnenuntergang! Überwältigend direkt, wenn der Feuerball über dem Mastenwald im Hafen versinkt. – Und drüben auf der Petersburger und Wiborger Seite diese Fabriken! Diese Straßen mit winzigen Holzhäuschen für die Arbeiter, gar nicht wie in einer Stadt! Und das interessante Wassili Ostrow mit seinen Gebäuden, die wunderschönen, mit Grün bedeckten Newainseln mit ihren Datschen, ihrer Pointe und dem Ausblick aufs Meer! Uff! Willi! Das solltest Du im Frühling, besonders in den traumhaften weißen Nächten sehen, wenn eine ununterbrochene Wagenreihe über die Fahrstraße rollt.«

»Nun bist Du wieder im Zuge! Jetzt geht die Schwärmerei los!« – – »Nein; aber warte, Du schwärmst mit, wenn Du erst alles gesehen hast! Heute hat sich mein »Pieter« mit seiner Kälte, seinem Sturm und seinen meterhohen Schneewällen ungünstig gezeigt!« – – »Nun, Lotte, und der Hydepark, das Bois de Boulogne!« – – »Gewiß, Schatz, sind auch die wunderbar! Jedem Land das Seine! Man braucht nicht die andern zu unterschätzen, wenn man eins besonders liebt!« – – »Na, Frau Managerin, was machen wir nun bis zum Theater? Bestimme; aber bitte nicht wieder Konditoreien oder Restaurants, wenn es möglich!« – sagte Willi. – Sie drehte sich auf dem Absatz wirbelnd umher. »Da ist guter Rat teuer, Liebster! Die Museen sind zu! Mache mir Liebeserklärungen, und küsse mich!« – – »Bis acht Uhr, das wäre recht langweilig!« – – »Für mich nicht!« – – »Na, ich möchte Dich nicht auf die Probe stellen!« – – »Versuch's!« – – Er küßte sie; aber ließ sie bald wieder frei.

»Puh, wie jetzt Dein Feuer schnell verbrennt! Schäme Dich, oller Ehekrüppel, der Liebhaber in Dir ist schon untergegangen. Aber mir kommt eine Idee. Wenn man auf Reisen Zeit hat, so schreibt man Ansichtspostkarten. Und in Voraussicht dessen habe ich vorhin von Velten zwei Dutzend mitgenommen!« – –

Sie thaten es denn auch unter Scherzen und Lachen, bis die Uhr ihnen anzeigte, daß es Zeit war, ins Theater zu gehen.

Die Billets hatten sie sich vom Hôtel aus besorgen lassen und wandelten ruhig zu dem Alexandratheater. Der hohe schöne Bau lag voll beleuchtet hinter dem Alexandraplatz, in dessen Anlagen sich das Denkmal Katharinas der Zweiten erhob. Die Hauptfassade, gelb und weiß, mit ihrer von sechs weißen korinthischen Säulen getragenen Loggia, der Giebel mit der Quadriga in Erz, die angrenzenden interessanten Bauten, besonders das Haus im russischen Stil, gewährten jetzt, wo der Schneesturm aufgehört hatte, einen prächtigen Eindruck.

Vor dem Theater herrschte reges Leben. Eine stattliche Auffahrt fand statt. Gorodowois, berittene Kosaken zeigten an, daß auch Mitglieder der Hofkreise der Vorstellung beiwohnen würden. »Das ist entweder die junge Zarin oder der Großfürst Wladimir Alexandrowitsch! – jubelte Lotte – Ich weiß von Steins, daß sie diese deutschen Fastenvorstellungen besuchen!« – – »Jemand von der kaiserlichen Familie, Lotte, das ist ja ein gefundenes Fressen für Dich! Du mit Deinem loyalen Herz – – –« – – Sie gelangten in das Theater und fragten sich zu ihren Plätzen durch. Sie lagen auf erhöhten Bänken, die halbkreisförmig hinter dem Parkett anstiegen. Willi sah sich um: »Gelbweiß mit Gold und weinrot, sehr gemütlich! Übrigens ein riesiger, weitgeschweifter Bau, sieh nur, von den Parkettlogen aufwärts bis zur Galerie sind sechs Etagen! Donner und Doria!« – Dann betrachtete er das Publikum, lachte und sagt ihr flüsternd ins Ohr: »Wir guten Deutschen sind doch unverbesserlich, und selbst wenn wir noch so lange im Ausland leben. Ich brauchte nicht zu wissen, daß heute hier eine deutsche Vorstellung stattfindet und würde an Physiognomieen und Toiletten doch sofort erkennen, daß uns hauptsächlich Landsleute umgeben!« – Lotte mußte verteidigen, trotzdem sie ihm im Stillen recht gab. »Im übrigen beurteile die russischen Theater nicht etwa nach dieser deutschen Vorstellung in der Fastenzeit. Komm nur 'mal in das wundervolle Marientheater und höre da eine Opernbenefizvorstellung! So 'was von Balltoiletten, Brillanten, Schminke, Parfüm, Schönheiten und Glanz kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Das Haus mit zweitausend Sitzen bis zum letzten Platz ausverkauft. Eine Stimmung ohne Gleichen! Solche Begeisterungsstürme, soviel Dankbarkeit ahnen wir nicht! Alles jubelt, stampft und brüllt: »Bis!« Manche Arien müssen zweimal auch dreimal gesungen werden, bis vernünftigere Köpfe dem Radau ein Ende machen wollen und »Dawoljno« rufen. Dann entbrennt erst der Kampf zwischen den Parteien, ehe es weitergeht. Am Schlusse acht bis zehn Hervorrufe, Blumen und Geschenke werden abgegeben. Alles bleibt stehen und klatscht. Die Studenten werfen ihre Mützen in die Luft, kurz, ich gebe es zu: Scenen von fast barbarischer Wildheit.« – – Ich glaub' es Dir, Katz! Aber heute ist das Publikum kaffrig!« – – Er behielt das letzte Wort, denn der Vorhang rollte empor. –

Das Stück war nicht des Exportes wert. Lotte raisonnierte, daß man der heimischen Litteratur so unrecht that und kein besseres Repertoire gemacht hatte. In der Pause trafen sie im Foyer richtig eine bekannte Familie. Die junge Frau kannte die Herrschaften von früheren Besuchen in Petersburg, freute sich aber, daß sie keine Beziehungen zu ihren Verwandten hatten und nicht Verrat üben konnten. – Sie stellte ihren Gatten vor und nach russisch gastlicher Art lud man sie sofort ein, was sie dankend annahmen. – Herr und Frau Lager sprachen den Ärger aus, den die ganze deutsche Kolonie empfand über das von Jahr zu Jahr schlechter werdende Repertoire. »Fade Lustspiele und Stücke, die für uns ohne Interesse sind, erst zum Schlusse bringt man die Schlager.« – – »Hat man denn wirklich da draußen nichts Gutes mehr?« – fragte Herr Lager. – – »Wir haben momentan dramatische Ebbe; aber unsere Klassiker, inklusive Grillparzer und Hebbel, würden noch auf Jahrhunderte ausreichen, um gute Repertoires zu machen!« – sagte Lotte und fand vollsten Beifall. – »Ich sage Ihnen, wenn unser deutscher dramatischer Liebhaberverein nicht wäre, so würde unsere Kolonie durch Herrn Bock einen guten Begriff von der Zeitlitteratur bekommen! Wir sorgen wenigstens dafür, daß die besten älteren und neuesten Sachen mit verteilten Rollen gelesen und gemimt werden!«

Fellers interessierten sich ungemein für diesen Verein und wurden eingeladen, der nächsten Mittwoch-Aufführung von Hebbels »Maria Magdalene« beizuwohnen, was sie mit Begeisterung annahmen. – Die Glocke berief sie in den Saal zurück. Sie hörten das Stück bis zu Ende an und erhoben sich. »Nun gehen wir noch schnell zu Palkin, acht Minuten von hier. Dort essen wir eine Kleinigkeit und dann ›ins Etui‹. Morgen wird zur Strafe ausgeschlafen!« – – »Weib – Du bist von einer Leistungsfähigkeit – unglaublich!« – – »Ja, unterwegs nich' totzukriegen, da nehme ich es mit jedem Manne auf, das weißt Du doch von unserer Hochzeitsreise!« – – »O ja! Doch sieh nur, wie die Temperatur gewechselt hat! Es ist direkt warm geworden!« – – »Ich merke es auch! Das wird einen netten Patsch geben! O, meine armen Kleiderröcke!« – seufzte Lotte. – Sie schritten zu dem bekannten Palkinschen Restaurant, von dem die Sage ging, daß es der Besitzer im Kartenspiel auf dreißig Jahre an einen glücklichen Gewinner verloren hatte. Gleich unten am Eingang befand sich die große Garderobe. Nach russischer Art standen dort Diener, welche den Gästen beim An- und Ausziehen halfen und merkwürdigerweise nie die Mäntel oder Galoschen verwechselten. Dann stiegen sie zur ersten Etage empor. Im Vorraum sprudelte in einem Bassin die Fontäne. »Sieh, Liebster, das findest Du in fast allen russischen Restaurants! In diesen Behältern schwimmen Sterletts, manchmal sind auch Forellenbecken da. Man sucht sich den lebendigen Fisch aus. Er wird gefangen und zubereitet! – – Sieh nur, dort sind auch Säle, da steht das übliche, reichbesetzte Sakuska-Büffet! – Wir gehen in den großen weißen Saal, wo eine rumänische Kapelle spielt.« –

Der Geschäftsleiter, welcher deutsch sprach, empfing sie und wies ihnen einen Ecktisch an. Die Kellner nahmen die Bestellungen entgegen. Inzwischen führte Lotte ihren Gatten in den Wintergarten und erzählte ihm von den Orchestrions, die mit Gas oder Elektrizität getrieben werden. »Der Russe liebt diese schnarrenden Schauerinstrumente besonders. Denke nur, das in der Moskauer Eremitage soll 60 000 Rubel kosten. Für mich sind sie schrecklicher als Leierkasten!« – – »Das glaube ich wohl!« – – An seinem Arme hängend, kehrte sich Lotte mit ihrem Gatten um, weil sie auf ihre Plätze zurückwollten. Sie prallten gegen vier Herrschaften, zwei Herren und zwei Damen, welche just eintreten wollten. – Eine Minute starrten sich beide Parteien atemlos an. Dann hörte man zwei Ausrufe: »Ach, Du Erleeser!« und »Allmächtiger Vater, sie ist es doch!« –

Und trotz der feierlich leisen, fremden Umgebung lagen sich die Damen in den Armen. Es gab Küsse, Jubel, Vorstellung, Schelte und Ausflüchte, bis man endlich au einem Tisch Platz genommen. Natürlich waren es Otto und Henny Stein, sowie Hermann und Jenny Spemer, Lottes nahe Verwandte. Auch sie waren im Alexandratheater gewesen und hatten schon per Opernglas das junge Paar von ihrer Loge aus gemessen. »Natierlich – meinte die engelsgute Henny in ihrem Rigenser Deutsch – ich habe es ja jesagt, wenn die Dame nicht unsere Lotte ist, dann ist es ein Gespenst, und ich will Kixkaxkolben heißen!« – – »Her', Lotte, her', ich hab's bei Gott auch gesagt; aber die Herren wollten es nicht glauben und sagten, wir irrten uns!« – – »Frauen haben nie Recht und irren sich immer!« – sagte der reaktionäre Otto und blinzelte die Cousine herausfordernd an. »Du siehst, daß Henny und das dicke Jeckerchen aber trotzdem recht hatten!« – rief Lotte. – – »Ausnahmen bestätigen die Regel!« – verharrte er bei seinem Ausspruch. »Fängste schon wieder an?« – sagte Lotte empört, denn sie wußte, dem phlegmatischen Vetter war schwer beizukommen. »Gut, Lottelchen, attakiere! Ich steh' Dir bei und Dein Mann auch, nicht wahr, Herr Doktor?« – rief Hermann Spemer.

Lotte schnellte in die Höhe: »Nanu, Ihr habt einen Spleen! Ihr wollt Euch siezen? Nee, Kinder, das jeht über die Lofoten! Sofort schmeißt Du eine Bottel Champagner, Willi, zum Brüderschaft trinken!« – – Es geschah. Um zwei Uhr nachts trennte man sich recht angefreundet und fidel. – Erst als sie im Bette lagen, merkten Fellers, daß sie doch »etwas müde« waren und ein Recht dazu hatten. –


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