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»Das ist gewiß, das ist gewiß eine kleine englische Miß?« – trällerte Willi jeden Morgen, wenn Lotte dasaß und ihren Bädeker studierte, um das Tagesprogramm zu entwerfen. »Hör' schon bloß mit dem Singsang auf! – bat sie gequält – Die englische Miß ist ein Plättbrett und hat Pferdezähne, ich aber mit meinen Rundlichkeiten habe dazu absolut keine Anlage!« – – »Wie Du befiehlst, Katz, also ändern wir den Text: »Das ist o Wonne, das ist o Wonne meine klei-eine deutsche Tonne!« – – »Du bist jetzt in der Necklaune, Willi, ich finde, die Diners im gräflichen Hause kratzen Dich mächtig auf!« – schmollte Lotte und schaute gespannt nach dem Gatten, der sich gerade rasierte. – »Natürlich, einmal sind sie hochfein und ich lerne die russische Aristokratie kennen! Und zum andern Male kann ein geschickter Arzt einen nervösen Patienten viel besser von seinen Schlingbeschwerden heilen, wenn er mit ihm speist, als wenn er ihm tausend Pillen verschreibt. Du solltest nur sehen, wie es Jekaterina Pawlowna schmeckt, wenn ich dabei bin!« – – »Kann es mir lebhaft vorstellen! Wie gut, daß Mocks von meiner Anwesenheit hier nichts wissen, sonst würden sie mich miteinladen, und das könnte ihr am Ende wieder den Appetit verderben! – – – Mir aber schmeckt es bei meinen Leutchen besser. Wenn Du heute wieder steif in der Millionnaja futterst, werde ich mit Boris und Rosotschka erst die entzückenden Kinder genießen und dann bummeln!« – – »Der Graf nimmt mich mit in den Klub, und dann bummeln wir auch, etsch!« – – »Ihr trinkt und spielt; aber wir – – –« – – »Na na, Katz!« – – »Du, wie gefällt Dir übrigens mein Patchen und sein Schwesterchen?« – Lottes Antlitz strahlte in Tantenstolz. Willi war fertig mit seiner Verschönerung und wusch sich die Hände. »Es sind entzückende Kinderchen, reizend und temperamentvoll! Auch die Art wie Deine Rosotschka, übrigens eine charmante, kleine Frau, mit ihnen verkehrt, ist famos. Die russische Sprache mit all ihren Liebkosungsausdrücken und Diminutiven hat eine so berückende Weichheit, wie ich es bei den vielen Zischlauten nie vermutet habe!« – – »Aha!« – – »Aber sage mir, wie kommen der kleine Prinz und das kleine Kügelchen zu ihren Namen?« – – Lotte lachte: »Ja, lieber Himmel, die Russen kürzen und ändern eben die Namen, wenn sie zärtlich werden, bis zur Bewußtlosigkeit. Mein Patchen heißt Wladimir, daraus wird eben abgeleitet: Wowitschka – Wowussa – Wowinka – Wowa – Wola – Walodja – – –« – – »Schluß!« – schrie Willi lachend. »Na, und die Kleine heißt Alexandra, daher kommt dann eben Alia, Alinka, Alinok, Alinotschka, Sascha, Saschinka, Alix, – Schura, Schurinka, Tschuny – – –« – – »Halt! Hör' bloß auf, das ist ja entsetzlich!« – – »O, das sind noch nicht alle! Sicher habe ich viele Kürzungen vergessen und eine mit Phantasie und Sprachtalent begabte Mutter kann noch mehr daraus ableiten!« – – »Wenn ich auch durch meine griechischen Kenntnisse die Buchstaben gelernt habe und lesen kann, dies kapiere ich nie!« – – »O, Du bist ein sehr gelehriger Schüler, Willi, ich habe es Dir nie zugetraut!« »Was steht heut übrigens auf dem Programm?« –
Lotte hob dozierend den Zeigefinger: »Zuerst fahren wir von der Michailowskaja mit der Konka direkt in das Alexander Newskykloster. Dann fahren wir zu Dominique frühstücken und kneipen endlich in der Eremitage Kunst. Worauf ich Dich bei Mocks absetze und mich selbst zu Dimitriows begebe!« – – »Gut, jeden Tag eine Kirche und eine Gemäldegalerie! Ich durchschaue Dich! Ferner jeden Tag eine Ausfahrt in eine andere Gegend der Stadt und in ein anderes Restaurant. Als Reisebureau bekommst Du entschieden eine Nummer eins. – – – – – Doch apropos, kann man hier denn Pferdebahn fahren?« – – »Ja, Etepetetensohn, man kann, und es ist sogar weit interessanter!« – – »Aber die Flöhe etc. giebt es gratis?« – – »Im Winter und auf dieser Linie ist es durchaus nicht schlimm!« – –
Willi zog sich an und wiederholte dabei langsam: »Warte, was habe ich schon alles gesehen? Also die Kasansche Kathedrale mit ihren Juwelenschätzen! Die stockdunkle Isaakskirche mit ihren Scheinwerfern, wo Du nicht mit ins Allerheiligste durftest, weil Du ein unreines Weib bist, da hast Du es!« – – »Dumm genug!« – – »O nein, sehr richtig! Du hast Dich in den dunklen Teilen der Kirche mit Deinen Kußanfällen und Deinem Übermut so unwürdig benommen, daß Du es nicht verdientest!« – – »Du auch nicht!« – – »Ein Mann ist immer rein!« – – »Gewiß, er müßte eben gewaschen sein!« – – »Still, ein Weib unterbricht ihren Eheherrn nicht, Charlotte!« – – »Affe!« – – »Ferner sahen wir drei Male das Alexander-Museum, die hiesige Nationalgalerie. Lotte, bin ich auf der Höhe?« – »Der reine Eiffelturm! Aber warte. Du warst schon auf dem famosen Alexander-Markt, im Palais Stroganow, in den beiden Häusern des großen Peter! Und warte, zur Belohnung zeige ich Dir, wenn Du artig bist, morgen den Winterpalast und die Festung mit der Grabkirche!« – – »Schön; aber Lotte, nun noch zweimal die Eremitage, meinetwegen noch! Dein Bergmuseum; aber dann streike ich mit den Kunstgenüssen!« – – »Vandale!« – – »Doch! Sieh, Graf Mock will selbst mit mir nach Zarskoje Sselo und Peterhof fahren, dann habe ich aber genug! Mir ist es viel interessanter, das Volksleben auf der Straße, in den Kirchen, Traktieren etc. zu beobachten!« – – »Setz' Dich auf eine Bank auf dem Newsky, und hol' Dir Eisbeine!« – riet sie freundschaftlich. –
Das junge Paar war auf der Straße erstaunt über die Frühlingsstimmung in der Luft. Die Sonne schien, und es taute. Von allen Dächern tropfte es herunter, die dicken blitzenden Eiszapfen lösten sich auf. Aus den Dachröhren ergossen sich wahre Wassermassen in die Holzfässer, die vor jedem Hause unter den Röhren aufgestellt sind. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes ›Traufen‹, denn aus den übervollen Schaffs ergoß sich beständig ein Bach über das Pflaster. »Schau, Katz, gestern schaute aus dieser Röhre noch ein schön zackig gefrorener Eisstrom. Heute wird er vernichtet!« – – »So ein Matsch! Sieh nur, ganze Seen auf dem Pflaster, dabei noch diese Schneehaufen!« – – »Aber das Leben macht Spaß. – meinte Willi und schaute sich um – Wie diese Dworniki und Soldaten arbeiten, um die Dämme frei zu bekommen. Himmel, was würden unsere Berliner sich den Mund zerreißen, wenn unsere städtischen Straßenreiniger so aussehen würden wie diese Lumpenmätze! Sieh nur die Besen und die Schippen! Es ist zum Kranklachen!« – – »Aha! rief Lotte – Mein Vieledler fängt an, für den russischen Muschik Zuneigung zu fassen. Sein naiver Dreck ist doch einfach entzückend?« – – »Ja, ich kenne doch bis jetzt nur diese am wenigsten russische Stadt Rußlands; aber ich glaube, daß man für dies Land schwärmen kann!« – »Du bist ein Goldmensch! – Iswosschtschik!« – rief sie. – – »Halt! Still! Laß doch sehen, da kommt Militär, das muß ich als Militärarzt der Reserve auf die Haltung und den Schritt hin prüfen!« – –
Beide blieben noch stehen, bis das Bataillon vorübermarschiert war. Willi beäugte es scharf: »Na! – sagte er alsdann kopfschüttelnd – Ich weiß ja, was diese strammen Kerle im Kriege für tüchtige und schneidige Soldaten sind! Aber für unsere preußischen Begriffe – – – brr! Das ist ein Geschlamper! Keiner hält Schritt, und die Uniformen sehen grauslich aus. Doch ja, Kleine, reg' Dich nicht auf, ich weiß, das kommt vom Klima!« – – Nun bestiegen sie ihren Wagen und fuhren den Newsky entlang. Willi war begeistert von den wundervollen Privatgespannen, die pfeilschnell dahinsausten. Die phantastische Tracht der Kutscher und Diener, die edlen Rassehengste mit den wehenden Schweifen gefielen ihm.
In der Eremitage riß der Pförtner die Thüren auf. Die in scharlachrot gekleideten kaiserlichen Lakaien nahmen Mäntel und Gummischuhe in Verwahrung. Wie in allen öffentlichen Instituten herrschte auch hier ›Entkleidungszwang‹. Kein Mensch durfte rätselhafter Weise die geheiligten Räume mit einem profanen Mantel betreten. Lotte schimpfte wie ein Rohrspatz: »Das ist die einzige Gemeinheit in Rußland! – sagte sie – Die Zentralheizung reicht im entferntesten nicht aus, um diese Riesenräume zu durchwärmen. Man ist also entweder gezwungen, durchzurasen, um sich warm zu erhalten, oder man erkältet sich! Ich bin noch kein Mal ohne Schnupfen hinausgekommen!« – – »Aber es scheint mir sogar sehr heiß!« – – »Es scheint Dir eben! – grollte sie – Komm Du mal erst in die Säle mit Deinen fünf Sinnen. Ich sage Dir, nach zehn Minuten dringt die Kälte durch bis auf die Pelle!« – – »Ja, meine liebe Frau, wenn ich das aber weiß, dann nehme ich mir ein Tuch mit!« – – »Gut gebrüllt, Löwe!« – Willi war mit Recht ärgerlich. »Höre, Du rennst doch nur wieder zu Deinen Murillos, Van Dycks und Rembrandts, während Du an den Ausgrabungen und Vasen schnöde vorbeiläufst. Das Beste ist, wir trennen uns, und treffen uns in einer Stunde hier unten!« – schlug er vor. Lotte gab nach.
Frau Doktor Feller besuchte all ihre Lieblingsgemälde von früher und fand sich zur Zeit in dem schönen Vestibül ein. Auch Willi kehrte befriedigt von seinen Altertümern zurück. Er befolgte ihren Vorschlag, die Pferdebahn nach dem Kloster zu benutzen nicht. Die Fahrt über die fünf Kilometer des Newsky war zu verlockend. Vom Snamjenskaja-Platz an wurde die Straße kahler und verlor den reichen weltstädtischen Eindruck. Ja, als sie den riesigen runden Platz vor dem Alexander-Newsky-Kloster erreichten, schienen sie in einer andern Welt. Hier herrschte noch voller Winter und einsame Ruhe. Vor den Mauern lag wohl einen Meter hoch weißer, unberührter Schnee. Nur mühsam hatte man Fußwege und Fahrstraße freigelegt. Der Haufen Droschken, die vor dem originellen Portal hielt, glich dunklen Flecken auf weißem Grunde. Die Popen und Seminaristen, welche in ihren langen, schwarzen Kutten-Mänteln, den hohen Mützen auf dem bis über die Schultern fallenden Haare, ab und zu gingen, – – – schienen aus der Ferne wie Raben, die auf dem Schnee hin- und herhüpften. – Über die nicht hohen Mauern lugten schwarze Baumwipfel und Grabmonumente, während man dahinter die hellen Türme der Kathedralen mit ihren vergoldeten Kuppeln hervorragen sah. Willi blickte überrascht hin. – »Welch wunderbares stimmungsvolles Bild im Kaleidoskop dieser Stadt!« – sagte er leise. – – »Und doch ist es nur ein Vorgeschmack dessen, was Dir in Moskau blüht. Du wirst ein Rußlandschwärmer wie ich, paß auf!« – – »Kann sein! Kann wohl sein!« – entgegnete er sinnend, immer noch das Bild vor sich umfassend.
Sie lohnten den Kutscher ab, der vor dem Bilde über dem Portal fromm die Mütze abgenommen und sich unter tiefen Verneigungen unzählige Male bekreuzt hatte. – Lotte erklärte: »Dies ist eine Lawra, d.h. ein Kloster ersten Ranges mit Metropolitensitz. Kiew – Sergji-Kloster bei Moskau, dann kommt im Range diese! Hinter diesen Mauern liegen zwölf Kirchen, zahlreiche Kapellen, zwei Friedhöfe, eine Akademie und ein geistliches Seminar. Nun komm hinein. Hier gleich rechts führe ich Dich schnell zu Dostojewsky, Glinka und Tschaikowsky. Ihre Ruheplätze sind ganz nahe, und Du lernst einen russischen Friedhof kennen!« – – Sie kletterten vorsichtig über die Bretterstege. Einfache und kostbare Monumente, ganze Kapellen über den Ruhestätten, wechselten mit schlecht gehaltenen und auch geschmacklosen Denkmälern. Vor Dostojewskys Büste blieb Lotte stehen: »Schade, ich habe sonst stets dem Dichter des Raskolnikow ein paar Blümchen gebracht! Er muß ein Gigant gewesen sein; aber auch ihn haben sie klein gekriegt!« – – Sie ballte die Faust. Willi zog sie fort. »Er hat ausgekämpft, und der lebendige Frechspatz soll sich bei dem toten Löwen nicht erkälten, komm!« – – – In wenigen Sekunden erreichten sie die große Kapelle, welche an einer Art geschlossenen Kreuzganges oder besser an einem hellen, sauberen, erwärmten Korridor lag. Ein Gottesdienst fand gerade statt. Die Popen, während der Fastenzeit in schwarzen, silbergestickten Trauertalaren, beteten und schwangen Weihrauchfässer. In liturgischer Weise fiel das teils knieende, teils stehende Volk ein und sprach inbrünstig und halb kreischend auf russisch mit: »Herr! Allmächtiger!« Kein Mensch kümmerte sich um die Deutschen, welche von Kirche zu Kirche wandelten, die mit Juwelen und Gold überladenen Heiligenbilder betrachteten, die Gruppen von Betern und Büßern beobachteten und leise, aber ruhig Umschau hielten. – In der Hauptkathedrale wurde sehr schön a capella gesungen. Trotz der Masse von Menschen wirkte aber das lichte, schöne Gotteshaus kahl und unfreundlich wie alle Kirchen, in denen keine Sitzreihen sind. In regellosen Knäueln standen die Frommen umher. – Vor dem prächtigen Silbersarg, in dem die Gebeine des Heiligen Alexander Newsky ruhten, lagen Männer und Frauen betend auf der Erde, sie mit der Stirn berührend und küssend. Dann erhoben sie sich, küßten den Reliquienschrein und die Hand des dabeistehenden Popen, auch die schwersilberne, skulpturengeschmückte Rückwand. »Glückliche fromme Einfalt!« – flüsterte Lotte seufzend, als sie sah, wie befriedigt die Armen davonschlichen. »Äußerst gefährlich, diese Küsserei! – raunte Willi zurück – Die beste Quelle für Infektionskrankheiten! Müßte polizeilich verboten werden!« – Lotte aber sagte: »Und doch liegt etwas Wundervolles, Ausgleichendes in dem Kult, der Bettler und Könige eint!« – Sie ließen sich noch die Schatzkammer zeigen, bewunderten die Juwelen und Kunstgewerbearbeiten und betrachteten in der Kirche der Verkündigung Mariä die Grabmäler der höchsten russischen Familien. – – Nach einem Rundgang durch den ganzen Komplex, der, in Bäume und Sträucher gebettet, von Gräben und Mauern umgeben, das Bild einer entzückenden Winterlandschaft bot, bestiegen sie wieder einen Iswosschtschik. Lotte dirigierte ihn am Newaufer entlang über den interessanten Kalaschnikow. Dieser Mehlmarkt mit seinen roten Speichern am vereisten, breiten Strom, mit dem Blick auf die gegenüberliegenden Ufer der kleinen und großen Ochta, die sich vom Horizonte klar abhoben, war von neuem Reiz. – – »Du bist aber eine Führerin par excellence, Katz!« rief Willi und zog ihre Hand an die Lippen, sie just über dem Handschuh küssend. »Ach, Dummheit, ich verstehe nur nach der Karte und meinem geliebten Bädeker zu reisen. Der ist so ideal, daß man selbst in Ländern, wo man die Sprache nicht versteht, gut reist!« – – Auf dem Newsky, an der Ecke des Liteinij-Prospektes trennte sich Lotte von ihrem Gatten. Er fuhr zu Mocks, sie in einem andern Gefährt zu Dimitriows.
Boris und Rosa Dimitriow, ihr kleines Patchen Wowa und Dick-Alinotschko, sein Schwesterlein, empfingen die junge Frau mit gewohnter russischer Gastfreundschaft. – Man wird in diesem Lande sehr verwöhnt. Die Hausthür öffnet und schließt ein Schweizer, der einem schon aus dem Wagen hilft. In der Wohnung, auch in einfachen Familien, geht kein Mensch fort oder kommt, ohne daß das Dienstmädchen in die Mäntel und Galoschen hilft oder sie einem abnimmt – Eine merkwürdige Sitte ist, daß die Thüren aller Räume beständig geöffnet sind. Man kennt fast keine gemütlich abgeschlossenen Zimmer. Immer sitzt man wie auf dem Präsentierteller. – – In den Kaminen brannten große Holzkloben. Aber nicht wie in England war es um das Feuer allein warm, sondern die ganze Wohnung hatte eine behagliche Durchheizung. – Lotte plauderte mit ihren Freunden, die beide interessante Menschen waren, über russische Zustände. Sie klagte über die kalten Betten, die Gewohnheit, die Garderobe bei den Schweizern zu lassen und sich in den Treppenhäusern und Museen zu erkälten. Sie beschwerte sich über die Möglichkeit, selbst in ersten Magazinen, wo feste Preise angesetzt waren, handeln zu können. »Wer hier das Schachern nicht aus dem ff versteht, wird eben bemogelt!« – rief sie, und ihre Wirte mußten ihr beistimmen. Politik – Preßfreiheit und Studentenunruhen wurden erwähnt, und Boris Dimitriow tadelte die ausländische Presse, welche fortwährend wahre Ungeheuerlichkeiten über Rußland verbreitete und sogar direkte Unwahrheiten druckte.
Das Stubenmädchen bat zu Tisch. »Ich habe um Deinetwillen heute nur russische Gerichte kochen lassen!« – sagte Frau Rosa. »Ach schade, daß mein Mann nicht dabei sein kann!« – bedauerte Lotte. Sie legte ihren kleinen Notizblock neben ihren Teller und notierte. Dabei begleitete sie jede Speise mit Randbemerkungen. »Ah, die Sakuska, der Vorschmack! Himmlisch!« Ihr Bleistift flog über das Papier: Kaviar, Hummern, geräucherte Fische, Sardinen, Ssig, Radieschen, Gänseleberpastete etc. Dazu die Rjäbinowka (Ebereschenlikör) und Subrowka, wie Wodky.« – Danach kam »Grüne Schtschi (eine Fleischbrühe mit Sauerampfer und saurer Sahne), wozu Lottes Ideal »die Piroschki«, (Pasteten mit Fleisch-, Kohl-, Reis-, Sago- und Fisch- oder Käsefarcen) gehörten. Darauf gab es »Sterlett mit Meerrettichsauce« – – einen Gang »Spargel«, dem »Schaschlyk (kaukasisches Gericht aus Hammelfleisch, Reis und Tomaten mit sehr pikanten Gewürzen) folgte. »Blumenkohl mit geräuchertem Weißfisch (wie Lachs schmeckend)« und »Fasan«. – Als Abschluß eine »Jurjewskaja Kascha (Mehlspeise mit Früchten)« – – »Marmeladenschnitten – Tjanuschki-Bonbons – Chalwa und Verzuckerte Kljukwa als Konfekt« – – »Obst« – Zu jedem Gang andere »Weine« und als Magenschluß »Kaffee mit feinen französischen Likören«.
»Donnersachsen, Rosel, Du hast mir ja ein Hochzeitsmahl ausgerüstet. Zu schade, daß mein Willi nicht dabei war! Kinder, man ißt nirgends in der Welt so gut, so pikant, so schwer, so süß und so viel wie hier! Vielleicht ähnlich in Schaschlykkoch steht sich gar nicht schlecht!« – Küche verschwindet dagegen! Aber ich verstehe Wohl, warum Ihr Russen alle verrenkte Magen und Herzfett habt und unsere Bäder heimsuchen müßt! Ich sage nur: Uff! Je ne pè plis, wie der Dresdner in Paris erklärte!« – – Dimitriows lachten. »Denke, in unsern großen Restaurants hat man für jede Spezialität besondere Köche! – erklärte Rosa – Und ein Schaschlykkoch steht sich gar nicht schlecht!« – – Die Kinder, welche wie gesunde glückliche, kleine Geschöpfe gewildert hatten, wurden von der Njanja (Kinderfrau) ins Bett gebracht. Diesem intimen Lustspiel wohnte Tante Lotte bei. Ihr Patchen Wowa begrüßte sie stets sehr niedlich mit den einzigen deutschen Worten, die es kannte: »Guten Morgen, liebe Großmama!«
Etwas später meldete der Schweizer, daß die bestellten Karetten (Coupés) vorgefahren waren. Man wollte einen Petersburger Bummel veranstalten. So fuhr man denn nach der Petersburger Seite in das Aquarium. »Um Gotteswillen, wie Ihr mich bilden wollt!« – – »Bilden? Weshalb?« – – »Na, die Seeviecher – – –« – – Rosa verstand sie und lachte: »Nu, Du irrst! Es handelt sich um unser feinstes Vergnügungsrestaurant. Warte nur ab!« – – Sie hörten zuerst in dem großen Theater Rubinsteins etwas schwerflüssige Oper: »Der Dämon«. – – »Nun von der Muse des Apoll zu der des Dionys und der Terpsichore!« – meinte Boris und führte seine Damen aus dem Theater in das dazu gehörige Café chantant. – Wieder wurde aufgetafelt und sogar Champagner bestellt. Man speiste und plauderte vergnügt, während auf der Bühne Tänze und Gesänge aller Art vor sich gingen. Beide Damen hatten einen leisen Spitz und kamen langsam in eine liebenswürdige, verlachte Ulkstimmung, die ihr Cicerone durch Witze und Anekdoten noch schürte. Die Zeit flog. Selig lächelnd hatte Frau Doktor Feller vergessen, daß ihrer im Hôtel der Gatte harrte. Sie schien wieder Mädchen zu sein. Dabei erklärte sie immer vergnügter: »Wißt Ihr, wenn ich das Willi und wenn ich das der dicken Wonne schreibe – – – au! Aber dann! – – – So was! Werden die sich wundern!« – – Herr Dimitriow amüsierte sich köstlich und goß immer heimlich nach.
Plötzlich, kurz vor Schluß der Vorstellung, öffneten sich die Thüren. Die Kellner eilten herbei und knicksten tief. Vier Herren, zwei in Uniform, zwei in Zivil, traten ein und setzten sich an einen benachbarten Tisch. Lotte saß ihnen mit dem Rücken zu. »Das sind zwei Offiziere von der Leibequipage, der andere ein Graf, der ein Hofamt bekleidet! – sagte Boris und horchte hinüber – Aha, sie kommen von Contant, waren schon in Krestowsky. (Auch ein Café chantant auf den Inseln der Newa.) Von hier wollten sie noch in eins der Kabinette bei Ernest in dem ›Bären‹. Wahrscheinlich wollen sie einem Fremden Petersburg zeigen, denn sie sprechen französisch!« – – »Was gehen uns die Fremden an, Boris! – sagte seine Gattin – Laß lieber Selterwasser geben!« – – Er bestellte, und der Kellner schenkte ein. – – »Du kennst aber den einen! – behauptete er – Es ist Graf Mock, der die schöne Frau hat! Weißt Du, wir sahen sie öfter im Vauxhall in Pawlowsk!« – – Kaum hörte Lotte den Namen Mock, als ihr neblig gewordener Verstand klar wurde. Sie stürzte noch ein Glas Selters herunter und flüsterte lachend: »Das ist aber großartig! Mock? Also ist mein Mann dabei, der Graf hatte ihn zu heute eingeladen!« – – »Natürlich, wie konnte ich das vergessen! Bei Mock ist ja Herr Doktor jetzt Leibarzt!« – sagte Dimitriow leise und klopfte sich auf die Stirn. Inzwischen hatte sich Lotte vorsichtig umgewandt und sah, daß sie ihrem Gatten dos-à-dos saß. Die Situation amüsierte alle drei königlich. Als sie bemerkten, daß die Herren sich, nachdem sie zwei Flaschen Champagner den Hals gebrochen hatten, erhoben, standen sie auch auf.
In der Garderobe sah Willi Feller seine Frau mit ihren Freunden und begrüßte sie, nachdem er seine Begleiter einige Sekunden um Urlaub gebeten hatte. Rosa machte sich das Vergnügen und stellte beide feierlich einander vor. Sie gingen auf den Scherz ein. Willi ergriff Lottes Hand und küßte sie, dabei sagte er leise: »Na warte, Bummlerin, hast ganz glasige Augen! Komm Du nur nach Haus!« – – Sie jedoch meinte sehr laut: »Ich freue mich, Sie kennen gelernt zu haben. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin, Herr Doktor, das soll ja eine entzückende Dame sein!« – – »Racker!« – murmelte er noch, grüßte und trat zu der auf ihn wartenden Gruppe. – Es war gut, daß Willi und Lotte soviel vertragen konnten. Sie sahen sich erst um sechs Uhr im Hôtel wieder, schliefen nur drei Stunden und gingen nach gutem Frühstück sehr fidel in das Winterpalais.
Nach Vorzeigung des Passes erhielten sie ohne Schwierigkeiten Einlaßkarten und wurden mit vielen andern durchgeführt. Das großartige, reich ausgestattete Kaiserschloß mit seinen vielen historischen Erinnerungen und dem unschätzbaren Kronschatze enthüllte ihnen den fabelhaften russischen Reichtum aufs neue. Am meisten jedoch imponierten ihnen die gigantischen Dimensionen der Säle und die wundervollen Aussichten auf die Newa, mit denen es wohl kein anderer Palast der Welt aufnehmen kann. – Erst nach der Führung bemerkten sie, welche Strecken sie gelaufen waren. Todmüde fuhren sie sofort in das Hôtel, um sich jetzt erst einige Stunden gründlich auszuschlafen.