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»Meine teuerste Bach, wie konnten Sie es zugeben? Stehe uns der Himmel bei; aber solch frevler Leichtsinn muß sich ja rächen! Jetzt im Winter, in der Lage! Ich bin ganz außer mir! – jammerte Frau Feller, auf dem Perron des Zoologischen Garten-Bahnhofes stehend, zu Frau Geheimrat. Diese zuckte die Achseln: »Ja, meine liebe Feller, warum haben Sie Ihre Autorität nicht aufgeboten? Ich war mit meiner Weisheit zu Ende! Im übrigen kennen Sie ja meine Ansichten. Ich bin nicht pimplich und habe meine Töchter auch nicht für Watteverpackung und Glasservante erzogen. Wer im Leben steht, muß auch Wind und Wetter ertragen können. Lotte ist kerngesund, und noch kann sie auch ein paar Püffe aushalten. Herrjeh, was sollten die Bauersfrauen und Fabrikarbeiterinnen da anfangen? Willi, ein Arzt, ist bei ihr. Sie reisen bequem, kommen in ein zivilisiertes Land zu Bekannten und Verwandten. Die Reise ist ihr heißester Wunsch, und ich bin dafür, daß man im Leben das Gute mitnehmen soll, wo es sich bietet!« – – »Ich weiß gar nicht, wie Sie konstruiert sind, meine Beste! Werden Sie sich nicht sehr bangen und ängstigen? Ich bin heute schon nervös!« – – »Nein, ich gar nicht. Mein Herz muß ich ja ein bißchen zuschnüren und mit der Bangigkeit fertig werden! Aber Lotte ist ja stets soviel gereist und hat mich nicht verwöhnt! Und von Angst oder sonstigen Sorgen kann nicht die Rede sein! Im Gegenteil ich freue mich für die Kinder, daß sie soviel Schönes sehen!« –
Neuwalds, Harders, Frau Luni, Else, Doktor Alfred und einige Freundinnen Lottes fanden sich nach und nach ein. Für alle kam die Abreise des Paares verblüffend. Lotte hatte nur telephonisch Abschied genommen und ihnen nur auf ihre Bitten die Abfahrtszeit genannt. So gab es denn jetzt ein Fragen, Antworten und Kopfschütteln. Man schalt über den sträflichen Leichtsinn und wunderte sich über das Vergnügen, jetzt in die Kälte hineinzufahren.
– »Kinder, der Zug kommt!« – – Großes Gewühl. Die Gepäckträger stürzen vorwärts. – Die beiden Mütter und die Schwestern werden still. Lotte fliegt von Arm zu Arm. Erregt steht sie endlich am Coupéfenster, das Willi herabgelassen, und schaut hinaus. –
»Wie zwanzig Jahre sieht sie aus!« – flüstert jemand – »Na eben, und noch so gar nicht verheiratet!« – Zwei Herren, welche die kleine lebhafte Gesellschaft schon lange beobachtet haben, stehen am Fenster eines Nachbarwaggons und betrachten das Hin und Her. – – »Willi, paß auf das Kind auf! Laß sie vorsichtig sein! Bring' sie sofort zu den Verwandten, und daß sie bloß nicht so allein umherstreift!« – – – »Willi, laß Lottchen mit der Nahrung recht vorsichtig sein und beim Aus- und Einsteigen dito!« – – »Ich höre das Reich der Mütter – ruft er lachend hinaus – Nun wohl, ich verspreche Euch, sie so zu halten, als ob sie meine eigene Frau wäre!« – – »Natürlich, – fügt Lotte hinzu – ich werde mich so würdig benehmen, daß man diesen Gatten um sein Glück beneiden wird!« – –
»Aha, also doch eine unverheiratete junge Dame!« – sagt der eine Herr. – Komisch, in welchem Verhältnisse stehen sie wohl zu einander? Bruder und Schwester?« – – »Nein, es waren zwei Mütter da. Die blasse, lange schien seine Mutter – die gemütliche ihre zu sein. Man bemerkte es bei der Abschiedsumarmung! Na, meiner Ansicht nach sind es Cousin und Cousine!« – – »Möglich! Aber ich muß Dir gestehen, daß ich die Vertrauensseligkeit dieser Lotte-Mama bewundere. Sie ist allerliebst, und er verflucht hübsch. Ich habe auch beobachtet, daß sie sich einige Male durchaus nicht sehr harmlos angesehen haben, sondern recht verliebt. Das ist doch drollig, wie dumm die Menschen sind! Sperren da einfach den Bock zum Gärtner in ein enges Coupé für eine so weite Reise und wundern sich, wenn Unheil daraus ersteht!« – – »Was kümmert es uns? Die Beobachtung des Pärchens giebt eine nette Abwechselung für die lange Fahrt. Es würde mich amüsieren, wenn Gelegenheit Diebe macht!« – – »Ich versuche selbst eine Belagerung, die Leutchen fahren auch bis Petersburg!« – –
Berlin lag hinter ihnen. Lotte und Willi hatten bis dato ihr Coupé zweiter Klasse für sich allein. Die junge Frau packte zwei weißbezogene Kissen und zwei große Plaids aus und machte alles für die Nacht zurecht. Sie war eine ebenso erfahrene wie praktisch disponierende Reisende und ließ sich die unverhohlene Bewunderung des Gatten gern gefallen. »Ich muß wieder Wanderungen machen! – seufzte Willi – Mein einziger Trost ist, daß Du in der Bahn Wie ein Murmeltier schlafen kannst!« – – »Na ob und öbse und absolut schnuppe, ob vorn oder hinten, sitzend oder liegend! – entgegnete sie vergnügt – Lieg' nur still und habe den festen Willen, zu schlafen, und es wird Dir gelingen. Ehe wir aber Nacht machen, wird gefuttert. Es war gut, daß ich keinen Proviant mitnahm. Ich kenne doch meine Mieze! Sieh nur den Freßkober. Kinder, zwei Flaschen Advokat, eine Portwein! Vier Bonbonnièren und zwei Tüten Obst! Es ist doch gut, wenn man sich eine anständige Verwandtschaft mit angeboren hat!« – – »Du kannst schon wieder essen? Lotte! Nimm Dich mit den Apfelsinen und dem Konfekt in Acht. Dein Magen – –« »Kann viel unrecht Gut vertragen! Du, fange nicht jetzt schon an! Ich esse mich hier nur ein, als Vorbereitung für Rußland, denn was man da an einem Tage futtert, reicht bei uns 'ne Woche. Magenerweiterung kriegt man dort stets. – – – – Andere Kost als der ungenießbare, englische Zodder, äx! Na, warte man, Jungeken! Du wirst Dein blaues Wunder erleben, was 'ne richtige Sakuska ist und 'n Thee mit Warenje und ein gut Stück Fleisch und Süßigkeiten! – So halbvoll wie in Deinem Old England mit Hammelfett, Pies, schlechtem Kuchen und Mintsauce, und wie all der Jux heißt, läufst Du nicht 'rum!« – – Lotte speiste wohlgemut. –
»Jetzt bin ich satt, so! Uff, ist der Zug wieder überheizt! Scheußlich! Und die Schaukelei, das Stoßen! Paß nur auf das schöne Fahren jenseits der Grenze auf! Ich sage vorher gar nichts, Du wirst ja sehen! – – Jetzt gehe ich draußen ein wenig auf Rekognoszierung aus, um mich müde zu machen, und dann wird gepennt!« – –
Lotte erhob sich. Sie rollte die Thür auf und trat in den engen Gang des D-Zuges. Willi warf ihr noch besorgt ein Tuch über die Schulter. »Erkälte Dich nicht!« – – Als sie gemächlich auf- und abwandelte, trat einer der Herren aus seinem Abteil. Er blickte sie ausdrucksvoll an und lächelte. – ›Fatzke!‹ – dachte Frau Doktor Feller. Jedoch in dem sicheren Gefühl, ihren Gatten bei sich zu haben, fing die Sache an, ihr Spaß zu machen. Nach einigen Promenaden blieb sie stehen und blickte durch das beschlagene Fenster in die Dunkelheit hinaus. Dichte Rauchwolken, in denen ganze Funkengarben leuchteten, trieb der Wind an der Scheibe vorbei. Lotte legte ihre beiden behandschuhten Hände gegen die Messingstange. ›Giebt es eigentlich etwas Schöneres, als mit dem geliebten Gatten jung, gesund und sorglos in die Welt hinauszufahren? Wie glücklich bin ich doch! Gott, ich danke Dir!‹ – dachte sie, dankbar bewußt ihres bevorzugten Schicksals. Ihr Tuch fiel herunter. Der Fremde, welcher sie scharf beobachtet und dessen Existenz Lotte bereits vergessen, sprang hinzu und hob es auf. »Hier, mein gnädiges Fräulein, Sie könnten sich erkälten!« – – »Danke sehr!« – –
Sie wechselten einige Phrasen. Willi, der Brocken des Gesprächs auffing, rollte höchst erstaunt die kleine Thür des Abteils auf. Sofort trat Lotte zurück: »Gute Nacht!« – sagte sie lächelnd. – »Angenehme Ruhe, mein gnädiges Fräulein!« – antwortete der Fremde mit ausdrucksvoll zärtlichem Blick nach ihr und wütendem nach ihrem Cerberus. – »Es ist zum Quieken; aber er hält mich für ein junges Mädchen! – flüsterte sie – Nun möchte ich wohl wissen, was er von unserem Verhältnis zu einander glaubt?« – – »Vielleicht denkt er, ich bin Dein älterer und sehr zärtlicher Bruder?« – – »Unsinn! Erstens hast Du nichts Brüderliches an Dir! Und zweitens haben Brüder wieder nichts von Zärtlichkeiten an sich! Wenn sie sehr nett und aufmerksam sind, dann zahlen sie für die Schwester. Das ist aber schon das Höchste der Gefühle! – entgegnete Lotte kichernd – Vielleicht hält er Dich für den berühmten Vetter vom Lande! Wenn er nachher wieder so spitzbübisch hier hineinglupscht, dann lehne ich mich schmachtend an Dich! Man muß den Leuten Rätsel zu lösen geben!« – – »Nee, Du! Das lassen wir lieber bleiben! Mir ist es höchst egal, was diese Fremden von uns denken. Im übrigen wird sich das alles schon von selber aufklären, wenn wir morgen im Speisewagen essen. Der Trauring ist ein Verräter!« – – Schade! Ich liebe solche kleinen Abenteuer!« – seufzte sie. – »Du bist eine unverbesserliche, kleine Person! Immer von neuem begiebst Du Dich in Gefahr. Wie gut, daß ich dabei bin, sonst kämst Du noch einmal darin um!« – meinte er, mit der Hand über ihre Haare streichend. – »Na, Du, bitte, keine Zweifel! Ich bin selbst auf meinen großen Reisen immer unbehelligt durch die Welt gerutscht!« – – »Wie hast Du bei Deiner Neigung zu Streichen das fertig gebracht?« – fragte er lachend. – – »P! Erstens bin ich, wenn ich allein reise, furchtbar ernst, ja, Du! Zweitens riesig zurückhaltend, ich gucke keinen Menschen an. Auf Dummheiten komme ich nur, wenn andere dabei sind, die mich durch ihre Visagen dazu reizen. Zum Beispiel, mit Dir! Sobald ich Dich nur ansehe – schwapp, komme ich auf dumme Gedanken!« –
»Frecher Dachs!« – – Er wollte nach ihr schlagen; aber sie wich ihm geschickt aus. Eine kleine Jagd entspann sich, die damit endete, daß er sie festhielt und mit Küssen bedeckte. Das glückliche Pärchen vergaß die Umgebung, und so kam es, daß sie nicht bemerkten, was draußen geschah. Da stand nämlich der Fremde an dem Fenster, neben dem Beamten mit den Platzkarten und schaute entsetzt und amüsiert durch den Spalt, der zwischen Vorhang und Rahmen in der Scheibe geblieben. – Vergnügt kehrte er zu seinem Reisegefährten zurück: »Du, die beiden nebenan sind 'ne wilde Sache!« – – »Nanu, weshalb?« – fragte der von seiner Zeitung aufschauend. – »Das hättest Du nur mitansehen sollen. Erst jacherten sie wie die tollen Kinder – – –« – – »Werden Geschwister sein!« – »Gluposti! (Unsinn) Dann küßten sie sich!« – »Ach so!« – – »Aber wie?! Die reine Apassionata!« – – »Vielleicht sind sie doch Mann und Frau!« – – »Aber – – – Küssen sich Mann und Frau in der Eisenbahn? Hihi!« – – »Warum nicht, die Deutschen, wenn sie jung verheiratet sind, thun es stets! Aber das Feuer verlöscht später! Wenn es eine wilde Sache wäre, würde nicht solch ein Aufgebot von Familie sie begleitet haben! Wie sagt doch Schiller so bezeichnend für unfertige oder wilde Sachen? »Da faßt ein namenloses Sehnen des Jünglings Herz, er irrt allein!« Und weil eener alleene nich scheene, irrt die Wilde mit ihm und »flieht der Verwandtschaft wilde Reihen!« – –
Die Nacht rückte vor. In gleichmäßigem Geratter und Geschaukel hastete der Zug durch die winterliche Landschaft. Willi hatte den Beleuchtungskörper an der Decke durch den dunklen Stoffschirm verschleiert. Er saß am Fenster, fest in die Ecke gedrückt und starrte mit offenen Augen in die Nacht hinaus, trotzdem die beschlagenen Scheiben die Aussicht verhinderten. Auf der andern Seite lag Lotte, fest zugedeckt in tiefem Schlafe. Er hatte sie »eingemummelt« und sich gefreut, wie rasch sie einschlief. Sie war doch eine kernige, gesunde Natur, eine Frau, die ihm das Leben leicht genug machte.
Andere Dinge gingen ihm durch den Kopf. –
Nach einigen Stunden erreichten sie eine Station. Lotte fuhr empor. »So – sagte sie – ich habe schon mal weicher gelegen. Die linke Seite hat ihre Hühneraugen weg, nun kommt die rechte dran. Uff, ist das 'ne Glut! – – – Sag', Liebster, kannst Du nicht schlafen? Versuch' es doch – – – mir zuliebe! Es scheint mir so egoistisch, wenn ich hier wie ein Bär schnarche und Du kommst nicht zur Ruhe!« – – »Ich bin sehr zufrieden! Sorg' Dich nicht, Schatz, und schlaf schön!« – meinte er beruhigend. – Wupp, wurde die Thüre mit Gepolter aufgerissen! Zwei Damen, dick verpackt, schauten in das Dunkel: »Ist hier frei, Kondukteur?« – fragte die eine. – »Um Gott, ein Mann!« – schrie die Andere mit einem so schauerlichen Angstlaut in der Stimme, daß Doktor Feller ganz verdutzt war. – »Entschuldigen Sie, daß mein Mann geboren ist, er konnte aber nichts dafür!« – entgegnete Lotte geärgert. – »Hier können wir doch nicht schlafen, wenn der Herr bleibt!« – jammerte die Fremde. – »Oh, Sie dürften ganz sicher ruhen, er beißt und kratzt nicht!« – höhnte Lotte; aber die Aufgeregte beachtete sie gar nicht. »Führen Sie uns ins Frauencoupé, Kondukteur!« – – »Bedaure, das ist besetzt!« – – »Dann in einen Nichtraucherwagen, wo keine Herren sind!« – meinte die Andere flehend. – – »Herrjeh, mein Mann war bisher stubenrein!« – – »Lotte!« – – »Laß doch. Ach was, die alten Damen sind mir gar zu mannsscheu!« – flüsterte sie zurück. – – »Na, kommen Sie!« – brüllte jetzt der Schaffner ungeduldig, da beide ihn am Ärmel zerrten. –
»Gott sei Dank, wir bleiben allein! Nun wird die zweite Fortsetzung geschlafen! – erklärte Lotte aufatmend – Die kleinen Tuntchen gehören zu den Umstandskästen und hätten uns nicht zur Ruhe kommen lassen! Jetzt aber legst auch Du Dich hin, Willi, oder ich schwöre, daß ich aufrecht stehen bleibe!« – – Er befolgte ihren Rat und schlief wirklich ein. Die schwarze Nacht verwandelte sich allmählich in einen fahlgrauen, kalten Wintermorgen. Unser Pärchen erwachte erst, als sich der Prozeß bereits vollzogen hatte. Lotte wanderte mit ihrer Handtasche in das Waschkabinett, um sich durch Waschen und Frisieren »menschlich« zu machen. Erfrischt und munter, als hätte sie eine Nacht daheim geruht, kehrte sie zurück. Willi trat diese Wanderung darauf an.
Seine Gattin packte inzwischen die Plaids und Kissen in eine Rolle und schnürte sie ein. Dann bestellte sie beim Kellner des Speisewagens zwei Portionen Kaffee und versuchte, das Abteil gemütlich zu machen. – Sie hörte das Rollen der Thür und fragte, ohne sich umzudrehen: »Schon zurück, Schatz?« – – »Ich gestatte mir, Sie ganz ergebenst zu fragen, wie Sie die Nacht verbracht haben?« – ertönte eine fremde Stimme, bei deren ersten Lauten Lotte sich entsetzt umwandte. »Ach – – – Sie!« – – »Ja, mein gnädiges Fräulein, ich! Ich sah Sie so emsig schaffen und für die Behaglichkeit Ihres Herrn Bruders besorgt, daß ich mir erlaubte, vorzusprechen! Eine gemeinsame lange Reise bringt die fremdesten Elemente näher!« – – Er lächelte immer verheißungsvoll und sah sie mit Bedeutung an. Lotte verbiß mühsam ein Lachen. – ›Dummes S – – –‹ hätte sie beinah gedacht. Das ist so ein Esel, recht zum Anführen geschaffen? – folgerte sie weiter und sagte weich und schmollend: »Na eben, das finde ich auch. Man muß sich die Langweile gemeinsam vertreiben. Ich bin sehr für Reisebekanntschaften; aber mein Bruder liebt sie nicht. Er ist stets ängstlich – – –« – – »Oho, der Herr Bruder ist wohl gar eifersüchtig? Kein Wunder, wenn man ein so entzückendes Schwesterchen besitzt – – – – ich glaube, ich wäre es auch!« – – »Ach, strengen Sie sich nicht am frühen Morgen so an!« – erwiderte sie, jetzt hell auflachend. – »O nein, meine Gnädige, ich bin eine grade Natur, die Wahrheit ermüdet mich nie!« – – »Sehr verbunden; aber mein Bruder – – – –« »Sie lieben ihn wohl sehr? Er ist auch ein stattlicher Mann, Ihr Herr Bruder!« – – »Er ist meine ganze Wonne, wir sind ein Herz und eine Seele!« – – »Schade! d. h. ich meine! Es wäre recht egoistisch, wenn Sie unser ganzes Geschlecht büßen ließen, weil die Natur Ihnen einen der Besten zum Bruder gegeben!« – meinte er bedeutungsvoll. – »O nein, so schlecht bin ich nicht, ich habe ein weites Herz – – –« – – »Die Güte spricht aus Ihrem Antlitz!« – – »Aber leider kamen bisher die andern, wenn ich sie mit meinem Bruder verglich, meist schlecht fort!« – – »Man soll nicht vergleichen, sondern – – – –« – – »Sehr richtig; aber bitte sehen Sie doch mal den Korridor entlang, ob er kommt! – – – Er ist – – –« – – »Keine Gefahr in Sicht!« – antwortete er, nachdem er nach rechts und links geschaut. »Das war famos gesagt!« – rief Lotte und schüttelte sich vor Lachen. Was der Fremde auch sagte, es erweckte ihre stets erneute Heiterkeit. –
Endlich kam ihr Gatte, und der Kurschneider entfernte sich nach kurzen Worten. Willi war erstaunt, sein Weibchen so aufgeräumt und verlacht zu finden. Sie erzählte ihm möglichst wortgetreu die Unterhaltung und küßte seine gerunzelte Stirn. »Brrr, schon wieder Othello-Anwandlungen, Schöps? Laß gut sein, ich laß mich Dir nicht abspenstig machen! Sei doch froh, daß Deine kleine Frau immer noch Anziehungskraft ausübt! Oder wäre es Dir lieber, wenn ich ein Scheusal wäre?« – – Willi sah ihr in die Augen und küßte ihre beiden Hände. »O nein, Katz, ich habe gar nichts dagegen, daß mein Kleines noch lange gefällt! Jedoch wünschte ich, es ginge nicht immer so bereitwillig auf jede Anzapfung ein!« – – »Du! Gelegenheiten zum Ulken lasse ich mir nie entgehen!« – – »Das ist es ja eben! Lotte, Du spielst mir zu gern mit dem Feuer!« – – »Ich kann es, weil ich meiner sicher bin!« – – »Das ist keiner, Schatzlieb! Und weiter, wenn Du auch Deiner sicher bist, dann denke wenigstens an andere, die sich verbrennen könnten!« – – »Quack!« – – »So? Und Häschen?« – – »Ach damals!« – – »Siehst Du, Du wirst rot, weil Du Dich schuldig fühlst! Nein, Lotte, Du bist jetzt auch Frau, denke an mich! Ich möchte nicht, daß man meiner Frau, selbst ein im Scherz zu bereitwilliges Entgegenkommen nachrühmt! Du, in Deiner leichtherzigen Art, meinst es spaßhaft; andere nehmen es ernster, und – die Nachrede ist da!« – Sie neckten sich, plauderten, studierten den Bädeker, lasen die Zeitungen und nahten sich der Grenze. Draußen war es lebhafter geworden. An den Stationen stiegen Leute um und aus. Andere machten Promenaden in dem schmalen Korridor, schauten in die Abteile und aus den Fenstern. Die beiden Herren, welche Lotte beobachtet hatten, spähten auch ab und zu hinein. Der eine warf ihr kokette Blicke zu, um die sie sich trotz heimlichen Lachens wenig kümmerte. – Eine halbe Stunde vor Eydtkuhnen wurde es sehr unruhig. Fortwährend huschten zwei kleine, verhutzelte Frauengestalten an dem Fellerschen Coupé vorüber. Jedesmal sahen sie so hilfesuchend hinein, daß Lotte sich endlich erhob und gutmütig in die Thür trat. Sie erkannte die Störenfriede von heute Nacht, die so entsetzt vor Willi geflohen waren.
»Nun, haben die Damen gut geruht?« – fragte sie freundlich. – »Ach nein! – – –« Ein Strom von Klagen entfesselte sich. ›Die Polster waren zu hart, das Schaukeln zu stark, der Lärm zu groß gewesen! Alle Stunden hätte eine lästige Billetkontrolle gestört. Und die rücksichtslosen Herren, die nebenan Skat gespielt hätten! Schrecklich!‹ – »Jettchen, sieh nach dem Handgepäck! Man kann nie wissen, es ist soviel unheimliches Gesindel im Zuge!« – warnte die eine, worauf die andere entschwand. – – »Aber in diesem Zuge doch nicht, besonders nicht hier in der zweiten Klasse!« – meinte Lotte lachend. »Ich bitt', es sind ja fast nur Herren!« – – »Gewiß, die vielen Kaufleute! Um diese Zeit reisen Damen doch nicht zum Vergnügen, wenigstens gewöhnlich nicht!« – – »Nun ja, es ist schrecklich!« – wimmerte Mathildchen, die Lottes Bemerkung für eine Bestätigung nahm. »Aber die Reisenden, die hier nach Rußland müssen, stehlen gewöhnlich auch nicht! Da können Sie ruhig sein!« – Lotte lachte. »Ei Gott, ei Gott, man liest so viel. Jettchen und ich sind so ängstlich. Wie wird das erst in Petersburg werden! Das soll ja das reine Babel sein! Und unterwegs – – – – alle Herren rauchen Zigaretten, deren Parfüm einen betäubt, und die Damen bieten einem Konfekt an, das mit Chloroform gefüllt ist! Alle Tage passieren da Morde!« – jammerte die Kleine. – »Aber lassen Sie sich doch nicht so dummes Zeug vorschwatzen, meine Dame! Ich war als junges Mädchen zweimal allein in Rußland, und es ist nie etwas passiert. Man reist dort sicherer als bei uns, weil für die Reisenden mehr Zugpersonal da ist!« – – »Wirklich?« – rief die andere erleichtert. »Ich schwöre es Ihnen! Wo wollen Sie denn hin?« – – »Nach Petersburg, wo unser Neffe so krank geworden ist. Er liegt im deutschen Hospital und verlangt nach uns, sonst wären wir, ei behüte, nie gefahren!« – – Lotte bedauerte gerade und versprach, bis zum Ziel den ungewandten, eingeschüchterten Jüngferchen zur Seite zu sein. – Jettchen kam zurück und hörte es mit unverhohlenem Jubel. Auch sie bedankte sich bei Frau Doktor Feller. »Ach Gott, ach Gott; wenn wir bloß erst über die Grenze wären!« – seufzte sie. – »Wieso, wollen Sie schmuggeln?« – – »Ei behüte, nein! Das wär' ja sündhaft!« – – »Sündhaft? Sie sind Gemütsmenschen!« – sagte Lotte lachend. – – »Ja, aber die hohe Obrigkeit soll man doch – –« – – »Selbstredend! Sie haben recht! – stimmte Lotte zu. – Aber wenn Sie nicht schmuggeln, was haben Sie dann zu fürchten?« – – »Ach, die Kosaken sollen einen doch so brüsk behandeln, wenn sie einen aus dem Zug holen?« – achte Mathildchen. Die junge Frau wandte sich um: »Nun hörst Du es, Willi, welche falschen Begriffe bei uns über mein Rußland herrschen! Gestatten Sie, mein Gatte: Doktor Feller!« – stellte sie vor. Willi hatte sich erhoben und trat mit tiefer Verneigung heraus. – Lotte bemerkte jetzt, daß ihre Vorstellung des Gatten auch von den beiden Herren im Nebenabteil vernommen worden war. Beide tauschten Blicke. Der eine sah sie betroffen, der andere zweifelnd an. Ärgerlich zog sie ihre Handschuhe ab, die sie auf Reisen nie von der Hand ließ. Dann kokettierte sie mit ihrer Rechten, auf der nur der Trauring blinkte, gerade wie früher, als dieser noch ihr Verlobungsring war. Befriedigt erspähte sie, daß dieses untrügliche Zeichen die Zweifel der beiden Fremden zu besiegen schien. Mit sanfter Gewalt nahm Frau Lotte die beiden alten Hühnchen unter ihre Fittiche. In Eydtkuhnen war ein längerer Aufenthalt. »Adieu, Du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland ade!« – sang Lotte. Sie streichelte Willi. »Immer bin ich traurig, wenn ich aus unserm geliebten Deutschland fort muß! Nur hier nicht! Ich freue mich doch stets zu sehr auf das bunte Land! Und diesmal, wo Du dabei bist, wo ich mit Dir seinem unvergleichlichen Zauber entgegenfahre, ach diesmal – – – – möchte ich springen und jauchzen vor lauter Wonne! Freust Du Dich nicht auch, Schatz?« – – »Ach ja! Ich bin ein großer Reiseonkel, ich kann es nicht leugnen. Und nach Deinen Beschreibungen reizt mich Rußland doch ungeheuer! Wenn nur nicht die Enttäuschung nachkommt! Man soll seine Erwartungen ja nicht zu hoch schrauben, wenn man nicht enttäuscht werden will!«
»Dort ist der kleine Flußlauf, der die Grenze bildet! Jupp, nu sind wir drin! Morjen, meine Herrschaften, ich grüße Sie im Lande Nikolaus des Zweiten!« – jubelte Lotte. Zwei Minuten später fuhr man in den russischen Grenzort Wirballen (Wershbolowo) ein. »Zuerst achte auf die vielen Gepäckträger, Willi! – rief Lotte erregt – Sieh mal, wie appetitlich sie aussehen in den schwarzen Anzügen mit den weißen großen Schürzen! Da stehen ein paar Kosaken, dort ist die Zollrevision!« – – Sie begann ihr Führeramt. Im Zuge herrschte jetzt Stürmen und Drängen in den Korridoren und Abteilen. Die Reisenden schrieen bunt durcheinander nach den Trägern: »Nossilschtschik – Nossilschtschik!« Diese kletterten hinein. Willi zeigte stumm auf seine Gepäckstücke und reichte dem Manne den Gepäckschein. Lotte sorgte, daß die zitternden, beinah weinenden alten Damen Lomnigkeit, samt ihrem Krimskrams auf den Bahnsteig befördert wurden. Trotz der ungünstigen Reisezeit fanden sich mit den Passagieren der ersten und dritten Klasse doch an vierzig Personen zusammen. Meist hörte man russische Laute, dazwischen deutsch und französisch. – In großer Hast ging es an dem langen Bahnhofsgebäude entlang. An dem Eingang zur Revisionshalle standen zwei Soldaten, die sofort die Pässe abforderten und erst dann den Durchgang gewährten. – Man trat in eine große Halle, deren Mittelteil, ein riesiges Quadrat, durch Holztische abgeschlossen war. Auf diese wurde das Handgepäck bis auf die kleinsten Stücke gestellt. Militärische Beamte gingen unablässig hinter den Reisenden, die an den Tischen standen, auf und ab. »Welche Unzahl von Beamten!« – sagte Willi erstaunt. – »In diesem Lande geht alles ins Große!« – erwiderte Lotte. Sie beobachtete die Leute innerhalb der Hürde. Einige saßen an Tischen und schrieben. Andere beobachteten das Publikum. Drei machten bereits die Runde und ließen die kleinen Stücke öffnen. Ein Offizier überwachte mit gelangweiltem Gesicht das ganze Treiben. Die meisten Reisenden gaben den Revisoren erst die Gepäckscheine und diese riefen dann laut die Nummern aus. – Inzwischen schleppten die Träger in Hast und doch ohne Geschrei die Koffer heran. Stimmte die Nummer, so wurde der betreffende Koffer vor die Barriere gestellt. Der Reisende reichte die Schlüssel. Zwei Beamte durchwühlten die Sachen, wobei die Vorgesetzten zuschauten. Im Ganzen ging alles schnell und ohne Chikane ab. – Neben Fellers stand ein Ehepaar, das einen soliden bürgerlich wohlhabenden Eindruck machte. – Eine Depesche wurde dem einen Zollrevisor gebracht. Er öffnete sie, las sie durch und lächelte. Darauf schaute er sich um, erblickte das Paar und trat heran. »Herr Warkam aus Riga?« – fragte er russisch. – »Pardon, Warkam aus Petersburg!« – antwortete der Gefragte. – »Nicht aus Riga?« – – »Nein, aus Petersburg!« – – »Wo sind Ihre Sachen!« – – »Bitte, dort bringt man die beiden Stücke!« – – »Hierher, Du, Durák (Dummkopf) – rief der Vorgesetzte dem Träger zu und fragte Warkam aufs neue: »Haben Sie Versteuerbares?« – »Nichts! Ich komme von einer Vergnügungsreise aus dem Auslande!« – – »So, und Sie haben nichts Zollpflichtiges?« – – »Nein! Bitte, hier sind die Schlüssel. Sehen Sie selbst nach!« – –
Man sah nach. Fellers Sachen wurden kaum berührt; dagegen erklang hier der Ruf: »Ausschütten!« – – Eins, zwei, drei hoben vier Träger die beiden Koffer in die Höhe, kehrten sie um und schüttelten den Inhalt kurzweg auf den Fußboden aus. Es war für die kostbaren Toiletten, Wäschestücke, Anzüge etc. sehr zuträglich, als alles bunt durcheinander kollerte. Die Dame wurde totenblaß. Sie packte ein geschickt verstecktes Buch, das bis zu ihren Füßen gerollt war: »Wenn Sie uns schon schinden, so nehmen Sie wenigstens alles!« – kreischte sie zornig und warf ihm den Band hin!« – – »Hören Sie, – brüllte der andere jetzt zornig. Sie sprechen mit einem kaiserlichen Beamten! Was erlauben Sie sich?« – – »Um Gotteswillen, schweig!« – raunte ihr der Gatte zu und biß die Zähne zusammen. – Kleiderstoffe, Anzüge, Zigarren, Bücher und Spitzen fielen aus dem Haufen heraus und wurden von den Beamten triumphierend zur Wage getragen.
»Das kostet einen guten Batzen Gold, die armen Warkams werden ihre Käufe im Auslande teuer bezahlen müssen!« – sagte Lotte. – »Warum machen sie aber auch solche Geschichten? – meinte Willi – hundert Mal gehen diese Grenzschwindeleien gut ab, und das hundert und erste Mal fällt man eben hinein! Ich würde nie solche Schmuggeleien erlauben!« – – »Na, na, im Großen wie diese Leute würde ich es auch nicht wagen! – entgegnete die junge Frau lachend – Aber Kleinigkeiten versuche ich immer durchzubekommen. Die Angst, das Herzklopfen, die hübsche nervöse Unruhe liebe ich riesig!« – – »Du bist die richtige Frau!« – – »Gut gebrüllt, Löwe, ich gebe es zu! Als ich das letzte Mal die russische Grenze passierte, versuchte ein Herr die Beamten mit ein paar Rubelnoten zu bestechen; aber der kam schlecht an! In Berlin glaubt man fälschlich immer noch, mit solch kleinen Douceurs etwas zu erreichen! Das ist aber total falsch! Ich würde jedem abraten, in Wirballen oder Alexandrowo zu »schmieren«.« – – »Sehr anerkennenswert, trotzdem ich wahre Märchen über diesen Punkt hörte!« – – »Soweit es sich um diese Grenzorte handelt, sind es entschieden Märchen. Wie es auf den kleinen Grenzörtchen zugeht, dafür stehe ich allerdings nicht ein! – meinte sie – Aber nun komm, Schatz, wir sind hier fertig. Unser Nossilschtschik winkt bereits!« – – Von diesem Saal schritt das junge Paar zu einem zweiten, dessen Zugang durch Barrieren geschlossen war. Wieder waren hier Aufsichtsbeamte postiert, die das Publikum erst dann passieren ließen, nachdem ein Kosak die Pässe visiert und in Ordnung befunden aus dem Paßbureau gebracht hatte. Dort waren letztere untersucht und gestempelt worden. Jeder Reisende hatte am Zolltisch eine Marke erhalten. Jetzt wurden die Namen laut ausgerufen. Die Paßbesitzer meldeten sich, erhielten ihre Papiere, gaben die Marke ab und waren nun von der so gefürchteten Visitation befreit. Die schönen, großen, gutgehaltenen Bahnhofsräume und das weite Rußland standen ihnen offen. –
Lotte führte ihren Gatten umher. Sie zeigte ihm die Billetschalter, Gepäckräume, Wechselbude, Logierräume, Wartesäle etc. Der Doktor war von den praktischen und großartigen Einrichtungen überrascht. Als sie endlich in der sauberen Restauration des ersten Wartesaales vor dem reichbesetzten Büffet Platz genommen, fühlte sich Willi sehr behaglich. Er bestellte auf den Rat seiner Gattin ein gutes, warmes Frühstück. Das Menü wies schon diverse russische Gerichte und den berühmten Thee auf. – Alles schmeckte ihm vorzüglich, und Lotte triumphierte. Sie zeigte ihm die für deutsche Begriffe allzu reichlich bemessene Zahl der Kellner, die Teller, auf deren Rand praktischer Weise der Preis für das Bestellte aufgedruckt war.
Während Fellers gemütlich aßen und tranken, hatten sie in dem Egoismus glücklicher Menschen die Mitwelt vergessen. Und dabei war es den beiden alten Schwestern Lomnigkeit nicht gut gegangen. Die Zollrevision hatten sie zwar glücklich passiert und waren auch heil in die Billethalle gelangt. Hier aber war die Misère losgegangen. Ihr Gepäckträger, obgleich reichlich belohnt, sprach unablässig auf sie ein. Die Billets mußten gelöst werden, da sie nur solche bis zur Grenze erhalten hatten. Hilflos flatterten sie hin und her. Mathildchen weinte. Jettchen faßte endlich Mut. Sie wagte sich unter großem Herzklopfen in den Speisesaal und durch die Tischreihen bis zu dem Ehepaar. Hier war es auch mit ihrer Geduld zu Ende. Sie schluchzte laut auf: »Ach, trautste Frau Doktor, helfen Sie uns bloß!« – Lotte sprang erschreckt empor. Sie schalt sich über ihre Schlechtigkeit, faßte Jettchen beruhigend unter und ging mit ihr hinaus. Als sie vernommen hatte, wieviel der Nossilschtschik erhalten, raffte sie stolz ihr bescheidenes Russisch zusammen und schrie ihm energisch zu: »Mehr wirst Du nicht erhalten, Esel! Scher' Dich zur Hölle!« –
Als Deutsche nicht gewöhnt, in solchem Tone mit Menschen zu sprechen, machte es ihr in Rußland stets Spaß, diese Umgangsformen Untergebenen gegenüber zu benutzen. Ihre autokratische Neigung war aber immer von innerlicher Unruhe begleitet. ›Wenn der Kerl Ehre im Leibe hat, langt er Dir eine mächtige Maulschelle oder schimpft wieder!‹ – dachte sie jedesmal. Auch heute klopfte ihr Herz. Es war ja nach langer Pause das erste Mal, daß sie so recht von Herzen Menschenwürde verletzen konnte. Darum erstaunte sie höchlichst, als der bettelnde Kerl sich sofort seitwärts in die Büsche schlug. »Aha, – sagte sie – also ein Kraftwort hilft immer noch. Wiederschimpfen haben sie inzwischen noch nicht gelernt. Nun kommen Sie, wir wollen die Billets kaufen. Darf ich um Geld bitten?« – Die Schwestern reichten ihr die gemeinsame Börse. Lotte öffnete sie: »Ja aber, meine lieben Damen, damit werde ich nicht weit kommen. Das sind ja nur fünfzehn Rubel!« – – Großer Austausch von Blicken. Ratlose Verlegenheit. Schweigen. »Was ist? Haben Sie kein Geld mehr?« – forschte Lotte. – »Doch, ach Gott, ach Gott! Aber – – aber – – –« – – »Nun?« – – »Ach je, ach je!« – – »Aber Himmeldonnerwetter, meine Damen! Mein Mann wartet, und es ist gar nicht mehr so früh, wie Sie denken! Heraus mit der Sprache!« – – »Ich trage einen Teil im Korsett, Mathildchen den andern im Unterrock eingenäht. Wenn man uns beraubt – – –« – Lotte biß sich auf die Lippen, um nicht vor Lachen herauszuplatzen. »Na, dann aber allons! Schnell in die Toilette! Wir müssen die Goldquelle aus dem unteren Unterrock ableiten, sonst bleiben Sie hier kleben!« – – Sie packte beide am Arme, ließ sich die Toilette zeigen und führte die Verstummten ab. – Das war eine Arbeit! Denn die Einnähung der Rubelnoten war so kunstvoll, daß alle Haarnadeln und sonstige Anstrengungen nichts halfen. Mathildchen mußte schämig und ängstlich auf dem Stuhl verharren, Jettchen die hindernden Kleidungsstücke hochhalten. – Die Zeit raste. – Lotte nahm endlich ihr Taschenmesser und schnitt die Kunsthandarbeit der Geheimtasche kurzweg ritsch ratsch auf. Dann ergriff sie eine Note von 25 Rubeln. »Das wird genug sein!« – meinte sie, knallrot von verhaltenem Gelächter. Schließlich kicherten auch die Lomnigkeits schämig: »Bitte, sagen Sie bloß nichts Herrn Doktor!« – – »Das verspreche ich nicht! Nee, Kinder, diese Operation kann ich meinem Mann nicht vorenthalten. Er wird so schon unruhig sein, wo ich geblieben!« – –
Die Billets wurden gekauft, der Korb aufgegeben, Jettchen und Mathildchen in den Speisesaal zu Willi geschleppt. Bis zur Abfahrt des Zuges blieben nur noch zehn Minuten. Zeit genug für die Schwestern, um eine Kleinigkeit zu genießen. Und für Lotte, um ihre kaltgewordene Mahlzeit zu beenden. Sie war durch das letzte Erlebnis derart erheitert, daß Willi erstaunt nach dem Grunde ihres Übermutes forschte. Vor den tödlich verlegenen Altchen schwieg sie aber diskret. – Erst als sie in dem Zuge wiederum ein Coupé für sich gefunden und in Ruhe saßen, schilderte sie die überwältigend komische Situation in der Toilette so drastisch, daß auch Willi Thränen lachte. Mathilde Lomnigkeit »hoch zu Stuhl«, zierig, verschämt, verängstigt – – – – – Jettchen wie eine Bildsäule, ebenso geniert die Röckchen haltend – – – das war aber auch ein Anblick für Götter gewesen! »Schade, daß wir keinen Amateurphotographen hatten!« – bedauerte Lotte. –
In ruhig gleichmäßigem Tempo glitt der Zug durch das verschneite, im Winterfrost erstarrte Land. Nachdem Willi die Inneneinrichtung der Wagen, die Waschräume und Gänge untersucht, mit den heimischen verglichen und sogar die russischen besser und bequemer gefunden, wandten sie ihre Aufmerksamkeit der Landschaft zu. – Ihr Ernst, ihre lautlose Erhabenheit, die endlose Ausdehnung der Fläche wirkte allgemach auch auf die Stimmung der Reisenden. – – »Wie schön ist die Ebene in ihrem blauweiß schimmernden Schnee! Wie wunderbar wirken die beschneiten Waldungen, die vereinzelten, schwarzen Bäume auf diesem Grunde! Etwas Märchenhaftes liegt über diesem vereisten Frieden, über den sich der herrlich abgetönte Himmel wie eine schillernde Glocke spannt! Man hört die Luft. In diese traumhaften Bilder, weiß in weiß gehalten, passen die Träume von einer Eisfee, die auf Schlitten aus Brillanten, von Bären und Wölfen gezogen, pfeilschnell darüber hinsaust! Herrlich!« – – Mit großen Augen trank sie die Schönheit des Winters, seine grandiose Einsamkeit in sich hinein. – – »Ja, es ist schön! – erwiderte ihr Gatte – Aber die lachende Frühlingspracht, die reife Sommerfülle und der bunte Herbst sind doch noch reizvoller!« – – »Nicht vergleichen, Liebster!« bat Lotte leise, träumerisch blickend. – »Laß jeder Zeit ihre Rechte! Ich bin erstaunt, wie diese Landschaften wirken. Ich freue mich, daß keine Sonne die weiße, göttliche Grausamkeit, diese hypnotisierende Weite in eine schillernde, blitzende, lachende Winterpracht verwandelt. Gerade diese stumme, bedeckte, verträumte Trauer packt mich!« – Auf den Stationen interessierten ihn die verschneiten Dächer, die mühsam gebahnten, glitschrigen Wege, die fabelhafte Eiszapfenbildung, und vor allem das Leben und Treiben der Menschen, die man erblickte. Männer und Frauen waren derart eingepackt und bis über die Köpfe vermummelt, daß man nur formlose Massen sich schwerfällig bewegen sah. Aus den Gesichtern schauten nur die Augen heraus. So lange der Zug hielt, läutete man ununterbrochen. Große Geschäftigkeit herrschte. Mächtige Holzstöße wurden in die Züge geschleppt und von den Zugbedienten in die geschickt angebrachten Öfen gehäuft. Aber selbst von den Mützen und Schafspelzen der Muschiks hingen faustdicke Eiszapfen. – Von Soldaten und Bauern waren die Bahngleise vom Schnee befreit, der in meterhohen Wällen zu beiden Seiten hoch aufgeschichtet war. Holzgatter, sehr primitiv und oft verfault oder herabgedrückt, schützten die Gleise gegen die Ebene. »Donnerwetter, – sagte Willi – das giebt hier erst ein Bild von der Macht der Elemente. Wir ahnen ja in Deutschland wirklich nichts von der Gewalt des russischen Winters! Mit welchen Schwierigkeiten hat hier die Wegekommission zu rechnen und zu kämpfen! Sieh nur dort die Schneeverwehung auf dem Gleise, Lotte! Unter diesen Schneebergen liegt ein ganzer Zug vergraben, dort ragt der Schornstein der Lokomotive hervor! Und da sind sämtliche Telegraphenstangen einfach wie Zahnstocher umgeknickt. Sogar ein eiserner Träger ist vom Schnee schlankweg umgeworfen!«
Lotte hatte wieder mehr Interesse für die weit zerstreuten Dorfschaften, die viele Werst auseinander liegenden, vereinzelten Gehöfte, für einzelne Schlitten, die schwerbeladen, aber schattenhaft über den Schnee, über die glitzernde Eisfläche zugefrorener Flußläufe glitten. Von den Häusern sah man oft nur rauchende Schornsteine oder erkannte das Vorhandensein einer menschlichen Behausung nur daran, daß aus einem Schneeberg Rauch aufstieg. »Und diese Totenstille, diese Eiskälte, diese Einsamkeit halten Menschen monatelang aus!« – – »Mich wundert vielmehr, daß diese elenden Holzhütten diese Schneelasten ertragen! – entgegnete der praktische Gatte – Was müssen hier im Frühling für Überschwemmungen sein! Himmel!« – – »Willi, sieh nur, dies Häuschen!« – Lotte wies auf ein kleines Haus, das dicht am Bahnkörper lag. Von drei Seiten und vom Dache her war es vollkommen eingeschneit. Mit unsäglicher Mühe hatten die Bewohner die Vorderwand und das Thor freigelegt. Mit gleicher Geduld ein Höfchen ausgeschaufelt und die meterhohen Schneemauern durch Holzplanken abgesteift. In diesem winzigen Viereck stand eine Frau in Kattunrock und Schafspelz, dessen Wolle nach innen genommen war. Sie wusch Kleidungsstücke aus, während ihr Gatte ihr das Wasser durch Schmelzen von Schnee auf Holzfeuer zuführte. –
»Herr und Himmel, das nennt man ein russisches ländliches Idyll!« – rief Willi lachend. – »Gestörter Winterschlaf oder ländlich schändlich, müßte ein Maler diese Pleinairstudie benennen! – entgegnete sie – Und das soll ein menschenwürdiges Dasein sein? Diese Menschen müssen ja stumpfsinnig werden!« – –
Beide einigten sich trotz vieler Rede und Gegenrede nicht. Es dämmerte, und die Dunkelheit brach kurz darauf ein. Der Kondukteur und ein anderer Beamter erschienen. Der eine kletterte auf die Bank, öffnete ein Fensterchen und steckte eine brennende Kerze in den Behälter. Diese primitive Beleuchtung mußte sogar zwei Abteile erhellen. – Doktor Feller sah überrascht diesem Treiben zu. »Ist das allens?« – fragte er berlinisch. – »Gewiß, hier läßt man seinen Geist leuchten. Mehr is nich!« – – »Na, da hört doch die Gemütlichkeit auf! – wetterte Willi – Das ist ja vorsintflutlich! Kein Gas, kein elektrisches Licht?« – – »Oh ja, das giebt es schon auf einigen Strecken und in manchen Zügen! – verteidigte Lotte. – – »Aber auf diesem Wege, einem der am meisten befahrenen nicht! Das ist ein Skandal! Also um fünf Uhr wird Nacht gemacht. Man kann nicht lesen – – –« – – »Oller, brumme nicht; denn den Weg zum Munde findest Du, auch den von Mund zu Munde!« – – Lotte küßte ihn; aber er ärgerte sich weiter. »Wenn Du erst ein praktischer Russe bist, Schatz, dann führst Du einen kleinen Leuchter, eine Kerze und Streichhölzer mit Dir und befestigst alles an den Tischen!« – – »Ich danke, die Feuersgefahr! Nee, Lotte, so etwas giebt es in meinem England nicht!« – – »Ach was, koch' Dir Dein olles England sauer! Hier ist es ja tausendmal schöner! – – – – Warte, Liebster, jetzt hole ich Mutters Freßkober, der noch halbvoll ist, hervor. Dazu giebt es Portwein, Eierkognak, Südfrüchte und zum Schluß die Bonbonnière, kurz einen Götterfraß!« – tröstete Lotte. Sie machte sich ans Werk, reichte ihm Papierservietten, Papptellerchen, Reisebecher und Besteck. »Hast Du schon wieder Hunger!« – – »Na aber, nich von schlechten Eltern!« – – »Unbegreiflich!« –
Trotz dieses Ausrufes entwickelte auch er einen gesunden Hunger und erklärte beschämt: » l'appetit vient en mangeant!« – – »Und was für einer, Dunnerschlag!« – erkannte Lotte an. – Spät am Abend erschienen die Beamten wieder. In dem Fellerschen Coupé war es nicht nötig; aber in dem daneben, wo vier Personen saßen, klappten sie die Rücklehnen auf und befestigten sie gut. So entstanden vier breite und bequeme Lagerstätten. »Siehst Du, da hast Du russische Üppigkeit! – triumphierte Lotte – Bei uns zahlst Du Platzgebühr und kriegst einen schmalen Sitzplatz. Hier zahlst Du Deine Platzkarte und hast das Recht auf einen ganzen großen Diwanplatz; denn in jedes Coupé dürfen nur vier herein. Zwei unten, zwei oben!« – – »Und wenn das obere herunterbricht?« – – »Lieber Willi, es ist sogar schon einmal ein Nachtwächter am Tage gestorben!« – – »Wie meinst Du?« – – »Affenschwanz, wenn Du immer gleich mit dem Schlimmsten rechnest, dann darfst Du auch nie ins Bett steigen. Es könnte Dir die Decke auf die Nase purzeln, basta!« – – Schließlich machte das Ehepaar noch eine kleine Wanderung durch den Zug. – Dann begaben sich auch Lotte und Willi zur Ruhe. Diese wäre vollendet gewesen, wenn nicht das Ab- und Zuwandern der Beamten, ihr rücksichtsloses Thüren-Zuschlagen, das Wechseln der niedergebrannten Kerzen gegen neue, die Schlummernden aus ihren Träumen von Zeit zu Zeit emporgeschreckt hätte.