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Das schwere Herz.

Fritz war nicht in der Stimmung, den Wasserjungfrauen einen Besuch zu machen. Am liebsten wäre er weit hinausgeflogen ins blaue Land auf eine einsame Blume. So schwer war ihm das Herz. Er war jetzt vier Stunden alt. Aber wenn er sein Inneres richtig verstand, so lehnte es sich auf gegen die Zumutung solch einer Fülle erschütternder Erlebnisse.

Fritz war Augenzeuge von Überfällen, Morden, Kämpfen, Räubereien gewesen – wenn er es recht überdachte, so kamen an die fünfzig blutige Ereignisse zusammen, meist mit tödlichem Ausgange. Für vier Stunden war das eine ungeheure Zahl. Kein Wunder, daß er bis in die Tiefen seines Gemüts aufgewühlt war. Das jähe und gewaltsame Sterben seiner Freundin Albine hatte ihn vollends zerrissen. Und die verholzte Art der Schwammspinner tat das Ihre, seine Verlorenheit zu vollenden. Er sah seine Begabung verachtet, seine Tugenden verhöhnt, seine edelsten Züge verkannt. Aber nicht die persönliche Unbill, die er erfahren hatte, bedrückte ihn also; sondern das Bewußtsein, daß in diesen Leuten – namentlich in Cäcilien – für eine ideale Weltauffassung überhaupt kein Raum war.

So verschloß sich ihm die Hälfte des Lebens, in das er sich von der Pforte seines Daseins heute früh beglückt hineingeschwungen hatte. Er breitete seine goldenen Flügel. Aber das schwere Herz drückte ihn nieder.

Nicht weit von der Fabrik der Schwammspinner stand ein Buschen Kopfklee, standen einige Skabiosen. Von beiden stieg ein Duft empor, der ihm vor einer Stunde ein fröhliches Lied eingegeben hätte. Jetzt sehnte er sich nur danach, Vergessen zu trinken. Er war in einer abseitigen Gegend und dachte, diesem Fabrikviertel wollte er in Zukunft aus dem Wege gehen. Die Lebenssphäre, die hier herumlag, entsprach seiner Begabung und Weltauffassung nicht.

So machte er sich die selbstverständliche Weisheit in schwerem Kampfe zu eigen, daß sich eines nicht für alle schicke. An Kopfklee und Skabiosen wäre er am liebsten vorbeigeflogen. Aber er hatte Appetit – und, wie gesagt, er mußte seinen Kummer ertränken. Zu seinem Erstaunen fand er alle Tische besetzt.

Die Leute, die hier versammelt waren, gehörten offenbar einem größeren Verein an. Sie kleideten sich nicht so wie die Schwammspinner, aber sie ähnelten ihnen in Art und Gehaben. Das war keine erfreuliche Entdeckung.

Fritz suchte sich schweigend einen Eckplatz und trank ein Glas Kleewein und eine Flasche Skabiosenbowle. Darüber wurde sein Herz wieder etwas beschwingter.

»Sind Sie auch Industrielle?« fragte er kleinlaut einen Tischnachbar. Der hatte blaugrüne Vorderflügel und sechs karminrote Tupfen darauf.

»Wir eigentlich nicht,« antwortete der andere freundlich. »Aber unsere Raupen machen Papier – Einwickelpapier für die Puppen. Am Stengel der Wegerichähre können Sie einen Ballen sehen. Es ist von ausgezeichneter Beschaffenheit. Hoffentlich haben Sie kein Interesse dafür!«

»Nicht im geringsten,« sagte Fritz. Die Herausgabe seiner dichterischen Erzeugnisse hatte er nie bedacht. Das Wesen dieses neuen Bekannten, der nun auch seine herrlichen roten Unterflügel sehen ließ, war Freundlichkeit und Zutrauen. Fritz stellte sich vor.

»Ich heiße Theodor. Ich gehöre zu dem Geschlechte der Steinbrechwidderchen. Wir haben den Wahlspruch: Raum für alle hat die Erde. Deshalb feinden wir keinen an. Wir beneiden niemanden. Vor allem: wir nehmen nichts tragisch. Und wir regeln unser Dasein nach dem selbstverständlichen Gesetze: so kurz ist das Leben und so lang ist der Tod.«

Es war sehr wohltätig, dem Herrn Theodor zuzuhören. Fritz erhob sein Glas und stieß mit ihm an.

»Die Lust am Leben kommt mir wieder!« sagte er. »Möchten Sie mich nicht Ihrer Nachbarin vorstellen?«

»Meine Freundin und Base Mia Weißfleck,« sagte Theodor, »so heißt sie wegen der weißen Tupfen auf ihrem metallisch glänzenden Kleide.«

Fritz zählte an die dreißig Mitglieder beider Familien, die hier versammelt waren. Es herrschte ein sehr herzlicher Verkehrston. Auch war zu sehen, sie liebten alle einen guten Tropfen und waren gemütvolle Leute. Geschmackvoll gekleidet, hielten sie es dennoch nicht für nötig, darüber zu sprechen.

»Ich habe bereits etliche Ihrer Familie kennengelernt,« sagte Mia, »aber ich habe gefunden: keiner war so still und ernst wie Sie.«

Fritz schupfte die Flügel. »Liebes Fräulein, Sie hätten mich vor einer Stunde sehen sollen! Ich glaube, ich habe Weltschmerz.«

»Hahaha!« lachte Theodor. »Wenn man jung ist, kommt so etwas vor. Es hat aber nicht viel zu bedeuten. Nichts tragisch nehmen, lieber Freund! Ich bitte Sie: Sie ändern die Welt doch nicht! Es ist nun mal so: jede Blume wirft einen Schatten! Selbst Sie, Sie Himmelsschlüssel der Luft, selbst Sie, der uns die blaue Glocke da droben aufschließt, damit die Sonne scheinen kann – Sie werfen einen Schatten, wo Sie erscheinen! Möchten Sie, daß man über diesen Schatten Ihr goldenes Herz vergißt?«

Fritz fühlte sich von der Unterhaltung Theodors bereichert. Er erkannte auch: von dem Schatten sprach sein Freund nur als von einem Sinnbild. Und das Verhalten von Cäcilien mit der Goldschleppe belehrte ihn, daß der Schatten, den er warf, mindere Begabungen und realer eingestellte Naturen sehr unliebsam berührte. (Es konnte aber auch sein, daß sie sich in dem Lichte, das von Fritz ausging, unbehaglich fühlten.) Übrigens: auch er hatte den Schatten von Goldmann u. Co. sehr unbequem gefunden. Sie hatten sich also gegenseitig nichts vorzuwerfen.

In Fritz wuchs die Freude. Er beglückwünschte sich zu der neuen Bekanntschaft. Aber die alte Beschwingtheit seines Gemütes wollte doch nicht recht zurückkehren. Die Harmonie seines Herzens schien ihm für immer zerstört. Er seufzte und unterstützte den wehen Klang seiner Worte mit einem Drucke der Hand gegen die linke Brustseite. »Ich habe vor fünf Minuten eine junge, lebensfrohe Freundin durch den Tod verloren.«

»So etwas ist freilich schmerzlich!« pflichtete ihm Mia bei. »Aber Sie müssen sich auch da hineinfinden. Wir sind ein vergängliches Geschlecht. Um so mehr haben wir die Pflicht, das eilige Leben zu nützen. Glauben Sie, das könne geschehen durch Trauer und Einsamkeiten?«

»Vielleicht doch,« antwortete Fritz. »Wenn Sie die innere Zerrissenheit ahnten, die mich quält …«

Da mischte sich Theodor ein. »Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Vier Stunden. Und davon habe ich mich die meiste Zeit am Dasein gefreut, wie sich nur ein Dichter freuen kann.«

»Vier Stunden! Junger Mann, dann begreife ich: fünfzig Morde und räuberische Überfälle sind für eine so kurze Frist ein wenig viel! Ich weiß genau, wie es in Ihnen aussieht: Sie möchten ein Einsiedler werden, Sie möchten sich im Tanze schwingen. Sie möchten ein schönes Mädchen freien, Sie möchten den süßesten und würzigsten Wein trinken …«

»Woher wissen Sie denn das alles?« rief Fritz begeistert.

»Das ist eine alte Erfahrung. Das schwere Herz ist diejenige Krankheit, die der Jugend am eigentümlichsten ist …«

»Sie meinen: eine Jugendkrankheit?«

»Nichts anderes! Die Begabtesten leiden darunter am meisten. Es liegt daran, daß sie die Wirklichkeit mit ihrem Sommertraum vom Leben durchaus nicht in Einklang bringen können.«

»Wissen Sie vielleicht, wie man das macht?« fragte Fritz.

»Hm,« entgegnete Theodor, »ein Universalmittel dafür gibt es wohl nicht. Aber das Wichtigste ist: Sie müssen nicht mit allen Leuten verkehren. Goldmann u. Co. sind zum Beispiel gar nichts für Sie. Daraus entsteht dann die Zerrissenheit des Gemüts, und zuletzt werden Sie ein Misanthrop.«

»Herrlicher Theodor!« rief Fritz, umarmte ihn und trank mit ihm Brüderschaft.

»Siehst du,« fuhr Theodor dann fort, »zwischen uns, die hier versammelt sind, gibt's keinen Streit und keine Verstimmungen. Wir sind wählerisch in unserer Gesellschaft. Wir wissen, was wir lieben …«

Theodor wurde unterbrochen; denn unter dem Klee begann eine sehr feine Geige zu spielen.

»Es ist Zinzilein, der Gatte der Grille Nera; der berühmteste Sologeiger auf dem Hügel,« sagte Mia Weißfleck.

Es war außerordentlich, in der Tat! Fritz lugte über den Rand des Tisches hinab. Aber er konnte nur den Kopf des Virtuosen sehen; denn Zinzilein spielte aus seinem Hause heraus – aus Gründen persönlicher Sicherheit – daher kam auch der wundervoll gedeckte Ton. So himmelselig und erdenfroh war diese Geige – es kam Fritzen vor, als sei der Fiedelbogen eine Nadel, die ihm sein zerrissenes Gemüt zusammennähte. Er mußte lächeln über diesen bildhaften Gedanken. Seine Augen streiften durch den Saal. Mit Hingebung lauschten die Anwesenden. Darüber wurde ihm die Einkehr bei diesen Leuten zu seinem tiefsten Erlebnis. Vor ihrer in Heiterkeit geläuterten Weltanschauung gelangte er selbst zu einer fröhlichen Festigkeit gegenüber dem Dasein.

Und die Brücke dazu? Das schwere Herz!


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