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Eines Tages wurden Brenner und ich Duzbrüder, und dies kam ebenso wunderlich, wie unser Umgang überhaupt. Ganz einfach so, daß der Mann anfing, mich Du zu nennen. Es geschah während eines ernsten Gesprächs, und ich dachte, es läge ein Irrtum vor. Da er es aber nicht nur an demselben Abend, sondern auch bei späterem Zusammentreffen fortsetzte, blieb mir kein anderer Ausweg, als diese vertrauliche Anrede ebenfalls zu benutzen. Monate später erzählte ich ihm einmal um zwei Uhr in der Nacht, wie diese eigentümliche Art von Vertraulichkeit zwischen uns eigentlich entstanden sei. Da lachte er und sagte:
»Aber erlaube mal, ist es denn nicht so am zartesten?«
So frei hatte ich mich damals noch keinem Menschen gegenüber gefühlt, und trotzdem beobachtete Hugo Brenner nach mehrjähriger Bekanntschaft noch immer die größte Verschwiegenheit in allem, was sein eigenes persönliches Leben anging. Ich wußte nicht einmal, ob er verheiratet war oder es möglicherweise gewesen war; Brenner und ich hatten nur wenige gemeinsame Bekannte, und die Fragen, die ich manchmal nicht unterlassen konnte, führten niemals zu einem Resultat. Es schien, als sei sein Privatleben anderen ebenso unbekannt wie mir. Vielleicht kam es daher, weil seine Persönlichkeit die wenigen, die ihn kannten, ganz genügend beschäftigte und die Kenntnis der Einzelheiten in seinem Leben zu etwas Überflüssigem und Untergeordnetem machte.
Die einzige, welche einmal meine Wißbegierde einigermaßen befriedigte, war Frau Elise Bohrn. Daß sie Hugo Brenner besser kannte als sonst jemand, hatte ich schon lange geahnt. Und bei einer der üblichen monatlichen Einladungen der Familie, als Hugo Brenner zufälligerweise abwesend war, brachte ich, während ich mich mit ihr unterhielt, das Gespräch auf meinen neuen Freund.
Ich hatte nicht viele Worte gesprochen, bevor ich aus der Antwort der in meinen Augen alten Frau ersah, daß ich ihr nichts über unsern Verkehr zu berichten brauchte. Sie wußte augenscheinlich alles, was zwischen Hugo Brenner und mir vorgegangen war. Sie war in unsere philosophischen Gespräche über das Leben und die Menschen eingeweiht und kannte außerdem noch unsere Lieblingsgeschichten auswendig. Die Orte, wo wir uns am häufigsten trafen, waren ihr ebensowenig ein Geheimnis, wie die darauffolgenden nächtlichen Spaziergänge und unsere Neigung, niemals ein Ende zu machen, ehe die späte Nacht uns dazu zwang. Sie und ich kamen bei dieser Veranlassung in ein langes Gespräch miteinander, bei dem ich gewahr wurde, daß sie mein ganzes Leben ebensogut kannte, als hätte ich mich ihr anvertraut.
»Sie brauchen Brenner nicht böse zu sein, daß ich dies alles weiß«, sagte sie lächelnd. »Ich bin seine Freundin, und was er weiß, weiß auch ich. Aber weiter geht es nicht. Er ist der beste Freund, den ich je gehabt, und der beste Mensch, den ich in meinem Leben getroffen habe. Von ihm selber kann ich Ihnen nichts erzählen. Denn das liebt er nicht. Aber Sie wissen doch wohl, daß er verheiratet gewesen ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie lächelte überrascht.
»Wie sonderbar. Ich dachte eigentlich, alle Menschen wüßten davon. Dann müssen Sie mir das Versprechen geben, ihm gegenüber nichts davon zu erwähnen. Es war eine sehr unglückliche Ehe. Und nichts würde ihn so erfreuen, als wenn ich ihn glauben machen könnte, daß all dies Unglück seit langem vergessen ist. Denn Mitleid mag er nicht.«
Ich konnte es nicht unterlassen, Frau Bohrn anzusehen, während sie sprach. Diese fünfzigjährige Frau, in deren Heim ich so oft gekommen, die ich so oft gesehen, war in diesem Augenblick plötzlich wie ein ganz neuer Mensch geworden. Sie sah verjüngt aus, und in ihren Augen schimmerte es wie von Glück. Es machte mich ganz verwirrt, denn es war mir, als hätte ich plötzlich in das Geheimnis zweier Menschen einen Einblick bekommen, den ich nie gewünscht und nie begehrt hatte. Vielleicht war es, weil sie meine Verwirrung merkte und sie mich vergessen machen wollte, daß sie, ohne ein erklärendes Wort, sich plötzlich zu mir wendete, mir die Hand reichte und mir mit einem seltsamen Blick gerade in die Augen sah. Niemals wieder bin ich einem solchen Blick begegnet. Er war freimütig und klar wie der eines Kindes, dabei voller Schelmerei wie bei einem jungen Mädchen. Aber gleichzeitig lag in ihm die durch das Alter gemilderte Wehmut der resignierten Frau, und als ich meinen Blick von dem ihrigen abwendete, war er trübe. Vielleicht eben deshalb schien es mir, als verliehen die grauen Haare den braunen Augen einen Glanz wie von einer Glorie.
Als ich Hugo Brenner einige Tage später traf, hütete ich mich wohl, ihn meine Unterredung mit Frau Bohrn ahnen zu lassen. Ich konnte mich aber nicht enthalten, leise das Gespräch auf sie hinüber zu leiten. Aus dem Blick, den mir Brenner zuwarf, begriff ich, ohne recht zu wissen weshalb, daß er Frau Bohrn nach mir noch gesehen hatte, und daß meine Vorsicht überflüssig gewesen war. Er wußte augenscheinlich von der Unterredung; ob er sie ganz kannte oder nicht, das erfuhr ich nie. Ruhig und nachdenklich, wie er es im allgemeinen zu tun pflegte, fing Brenner an, sich über die Person und den Charakter seiner Freundin auszulassen. Er sprach, als gewähre es ihm eine große Freude, mir ihr Bild zu zeichnen. Indessen berichtete er gegen seine Gewohnheit, wenn er sich über Menschen äußerte, keinen einzigen Zug aus ihrem Leben, auch nicht eine einzige kleine Anekdote. Statt dessen sprach er mit starken, sicheren Worten seine grenzenlose Bewunderung aus, ja eine Sympathie, so intensiv, daß ihm die Stimme fast versagte. Was ihn so an diese Frau gefesselt oder wie er eigentlich ihre Bekanntschaft gemacht hatte, – davon erzählte er dagegen nichts. Auf diese Weise wurde seine Mitteilung zu einem Gefühlsausbruch, in eine Art von nüchterner Schilderung eingekleidet, die ergreifend wirkte dadurch, daß er die alltäglichsten Worte wählte, die, in einem anderen Zusammenhang und anderem Tonfall ausgesprochen, vollkommen bedeutungslos gewesen wären.
An diesem Abend besuchte ich Brenner zum erstenmal in seinem Heim. Wie es gerade kam, kann ich mich nicht entsinnen. Ich weiß nur, daß wir spät abends zusammen nach seiner Wohnung gingen, die, aus zwei Zimmern bestehend, eine halbe Treppe hoch, vollkommen isoliert in der Nähe von Humlegarden lag. Es fiel mir nicht ein, daß mir hier die Aufklärung werden sollte über das Eigene in der Persönlichkeit Brenners, das mich beschäftigt hatte vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an. Ich war nur froh über diesen Beweis von Freundschaft seinerseits. Denn ich kannte ihn jetzt hinreichend, um zu verstehen, daß es ein solcher war. Dennoch trat ich nicht ohne eine gewisse Neugierde ein in dieses für die ganze übrige Welt abgesperrte Heiligtum, und das erste, was ich bemerkte, war ein Porträt auf dem Schreibtisch. Es stand so, daß ich nicht sehen konnte, wen es darstellte, ohne direkt an den Schreibtisch heranzutreten, um es zu betrachten. Nur so viel konnte ich unterscheiden, daß es ein Frauenkopf war, eine jener jungen Knospen, die fast mehr Kind als Weib sind. Und im nächsten Augenblick änderte sich wieder der Eindruck, so daß es mir war, als erkennte ich die Züge von Frau Bohrn. Ich konnte es aber nicht entscheiden, und als Brenner eine Flasche Wein und ein paar Gläser herbeigeholt hatte, war das Gespräch bald wieder im Gang, den Spuren folgend, die aufzusuchen unsere Gewohnheit war.
Dieses Mal aber konnte ich meinem Freunde nicht mit demselben Interesse wie gewöhnlich folgen bei seinen Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Dichtung und Leben, Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit. Unbewußt hielt mich die neue Umgebung, in die ich so unvorbereitet hineingestellt worden, gefangen. Ich betrachtete die Möbel, von denen nur wenige vorhanden waren, sehr einfache, altmodische, schwere, bequeme Mahagonisachen, die mit vielem Geschmack und einer gewissen liebevollen Sorgfalt zusammengestellt waren, die bewies, daß der Besitzer Wert darauf legte, sich zwischen ihnen heimisch zu fühlen. Die Wände waren größtenteils mit gut eingebundenen Büchern angefüllt, die in einfachen, zierlichen Reihen geordnet waren. Aber überall, wo noch ein Platz leer war, hingen Kupferstiche oder Radierungen. In allen möglichen Größen waren sie vertreten, von einer kolossalen Radierung an, welche die ganze Wand über dem Sofa einnahm, bis zu den allerkleinsten Formaten, in anspruchslosen Rahmen überall dort eingefügt, wo die Phantasie ein Bild anbringen konnte. Als ich sie näher betrachtete, fand ich, daß sie alle, ohne Ausnahme, von Rembrandt waren. Ich glaube nicht, daß ich je so viele Abbildungen von Rembrandts Werken auf einmal gesehen habe. In ganz eigentümlicher Weise harmonierten sie sowohl mit dem Zimmer als mit dem Manne, der mir gegenübersaß, und der in seinem ganzen Leben, in Gesprächen, in Träumen, in allen seinen Interessen jene wundersam magische Mischung unseres Lebens aus Geist und Körper zu suchen schien, welche der große Meister aus Amsterdam in Farben dargestellt und in ewig bleibenden Umrissen gezeichnet hat. Aber es war doch nicht dieses Gefühl, das mich am stärksten oder ausschließlich beherrschte. Es war das Gefühl, daß es wohl nicht allein eine männliche Hand gewesen, die dieses kleine Heim mit seinem unbeschreiblich harmonischen und schönen Gepräge zu ordnen vermocht hatte. Instinktiv wendete ich meine Augen nach dem Schreibtisch hin, wo das Porträt stand, im Schatten eines großen Lampenschirms, der es zur Hälfte verbarg. Es kam mir vor, als ginge alle Wärme im Zimmer aus von diesem kleinen Porträt in seinem einfachen Rahmen von geschliffenem Glas. Dieses Porträt war der Mittelpunkt, um den sich alles andere gruppierte. Um dieses Bild, das ich nicht sehen konnte, drehten sich die Gedanken des einsamen Mannes, welcher hier wohnte, und der, von einem zufälligen Einfall geleitet, mich diese Stimmung des heimatlichen Friedens, den eine abwesende Hand seiner ganzen Wohnung geschenkt hatte, teilen ließ. Oder war er vielleicht nicht einsam? War er möglicherweise glücklicher, als ich glaubte? Ich konnte nicht nein und wollte nicht ja antworten.
Erst als Hugo Brenner hinausging, um Selterswasser hereinzuholen, glaubte ich mich berechtigt, die Lösung des Rätsels zu erhalten. Obgleich ich fast ein Gefühl hatte, als beginge ich einen Verrat, stand ich von meinem Platz auf und sah das Porträt an. Zu meiner Bestürzung fand ich, daß ich vollkommen fehlgesehen hatte. Das Porträt stellte kein Weib dar, sondern ein Mädchen von vierzehn Jahren etwa, ein wirkliches Kind. Sie war ungewöhnlich schön, mit großen, traurigen Augen, die an Brenners eigene erinnerten. Ihr Gesicht war feingeschnitten, von ovaler Form, und es lag in diesem ganzen wunderlichen Kindergesicht ein Ausdruck, der mich an die Worte denken ließ von denen, die da jung sterben. Niemals hatte die Mischung von Weib und Kind, so schien es mir, einen solchen Ausdruck auf einer Photographie gefunden wie hier, und während ich mich wie ein Dieb fühlte, der sich einschlich, um einen Blick in die Geheimnisse eines anderen zu erhaschen, bekam ich, ohne zu wissen weshalb, Tränen in die Augen.
Ich wußte nicht, ob Brenner ein Kind in seiner Ehe gehabt hatte. Aber ich ahnte, daß in der Geschichte dieses kleinen Mädchens wahrscheinlich die Erklärung seines Schicksals lag, von dem ich nicht einmal die Umrisse kannte und von dem ich zuweilen meinte, daß es sich nur in meiner Einbildung so vergrößere. Als Brenner wieder hereintrat, ging ich im Zimmer hin und her, in Gedanken versunken, und mußte mir Gewalt antun, um zur Wirklichkeit zurückzukehren.
»Nicht wahr?« antwortete er und ließ seinen Blick umhergleiten. »Es ist schön hier.«
Und als ob er geglaubt hatte, mit seinem Ton etwas verraten zu haben, was verschwiegen sein müßte, fügte er hinzu:
»Ich habe Zeit genug gehabt, alles zu ordnen. Denn ich wohne hier seit zwölf Jahren. Und ich gehe auch nicht weg von hier, bis man mich, die Füße voran, hinausträgt.«
Das letzte sagte er in einem leichten und heiteren Ton und spülte gleichsam die Worte hinunter mit einem Riesenschluck aus dem geschliffenen Glase.
Da mußte ich wieder an Frau Bohrn denken. Es kam mir vor, als steige sie empor, irgendwoher im Zimmer selbst, als schwebe ihre Seele über dem Ganzen. Nicht so, daß ich glaubte, ein Gast in einer Wohnung zu sein, die ein Mann sich eingerichtet hat, um dort in Ruhe die Gattin eines anderen Mannes empfangen zu können. Sondern so, als gehöre sie in irgendeiner unerklärlichen Weise zu dem allem, was ich um mich sah, selbst zu dem verblaßten Porträt auf dem Schreibtisch.
Und als ich allein heim ging nach einem langen Gespräch, das diesmal, just aus Interesse für meinen Freund selber, mich nicht interessierte, klangen in meinen Ohren die Worte nach, die Frau Bohrn gesagt hatte:
»Er ist der beste Mann, den ich kenne, und der beste Freund, den ich habe . . .«