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Während der nächsten Zeit traf ich Hugo Brenner oft, und trotz des großen Altersunterschiedes entstand zwischen uns recht bald eine Art von Freundschaft.
Diese Freundschaft wurde dadurch eingeleitet, daß ich ihm, als wir uns einmal zufällig trafen, von dem Eindruck berichtete, den er auf mich gemacht hatte, als ich ihn im Café beobachtete. Er lächelte bei meinen Worten und räumte sofort ein, daß er mich seinerseits ebenfalls beobachtet habe, während ich die Zeitung las. Dies sagte er aber in einem etwas spöttischen Ton, in dem doch wieder genug Sympathie lag, um ihn nicht abweisend erscheinen zu lassen. Seit dem Tage begegneten wir uns nie, ohne wenigstens ein paar Worte miteinander zu wechseln. Allmählich wurden die Gespräche so lang, daß sie innerhalb des Hauses ihren Abschluß finden mußten. Und schließlich verkehrten wir wie alte Bekannte miteinander.
Schon im Anfang unserer Bekanntschaft versetzte Hugo Brenner mich in Erstaunen dadurch, daß er in seinem ganzen Auftreten, ja fast in jedem Urteil ein Selbstgefühl an den Tag legte, so stark, wie nur wenig Menschen es gewagt hätten, ihre Gedanken bloßzulegen. Sprach er von den großen Geistern, von ihrem Wert, ihren Gedanken, so geschah es stets mit einer freimütigen Natürlichkeit, als spräche er von seinen nächsten Bekannten, von seinem Umgangskreise. »Ich liebe vornehmen Umgang,« sagte er einmal, »und ich verkehre nicht einmal auf meinem Zimmer, ja dort am allerwenigsten, mit schlechter Gesellschaft.« Besonders hatte er, vollkommen in Übereinstimmung mit seinen Äußerungen beim Direktor Bohrn, nur Interesse an solchen Schriftstellern und Dichtern, deren Leben mit ihren Werken übereinzustimmen schien oder die eine große, ehrfurchtgebietende Entwicklung durchgemacht hatten. Gegen alle anderen war er bitter im Urteil, selbst wenn es sich um anerkannte Größen handelte, oder er zeigte eine überlegene Gleichgültigkeit. Als es aber einst geschah, daß das Gespräch Dichter der Vorzeit berührte, von deren Leben man wenig oder gar nichts weiß, wagte ich den Einwurf – mehr um ihn zu reizen, als aus eigener Überzeugung – daß er sich ihnen gegenüber erst recht abweisend verhalten müsse, wenn er konsequent sein wolle. »Können Sie nicht sehen, welches Leben hinter solchen Werken liegt?« war die Antwort. Und er lachte, als ob er sich seiner eigenen, hartnäckig behaupteten Theorie freue. In diesem Punkte war er wirklich unbeugsam, und rührte man daran, so häufte er eine paradoxe Behauptung auf die andere, mit einer Kraft, die verblüffend war.
Auf mich wirkte übrigens diese Vertraulichkeit Hugo Brenners mit den großen Weltgeistern niemals so, daß es meine Ironie wachgerufen hätte. Obgleich er selber nichts von Bedeutung hervorgebracht hatte, weder in der Literatur noch in der Wissenschaft, so lag doch in seiner ganzen Persönlichkeit etwas, das wenigstens für mich diesen Zug in seinem Wesen vollkommen natürlich machte. Denn das Eigentümliche war, daß er trotz seines gesteigerten Selbstgefühls sich stets darüber klar blieb, daß er selbst keine Rolle gespielt hatte oder jemals spielen würde innerhalb der Entwicklung seines eigenen Vaterlandes, geschweige denn der Welt überhaupt. Ich bekam daher den eigentümlichen Eindruck, daß sein Selbstgefühl weniger dem galt, was er war, als dem, was er hätte werden können; mich verletzte es, wie gesagt, niemals, dazu war es außerdem auch noch verbunden mit einer ungewöhnlich freimütigen und kleidsamen Offenheit. Diese Offenheit in allen seinen Äußerungen, die Hand in Hand ging mit großer geistiger Kühnheit, wirkte zu der Zeit um so fesselnder, ja geradezu befreiend auf mich, als ich während meiner Jugend sehr unter der eigentümlichen, künstlichen Abgesondertheit gelitten hatte, welche in Schweden das Gedanken- und Gefühlsleben einer jüngeren Generation von dem der älteren trennte. Jetzt ist sie schon im Begriff zu verschwinden. Aber damals, als dies passierte, war ein Freundschaftsverhältnis bei so großem Altersunterschied etwas höchst Seltenes. Es war also nicht nur Hugo Brenners Persönlichkeit an und für sich, die mich fesselte. Schon der Umstand, daß dieser neue Freund doppelt so alt war wie ich selber, verlieh seinem Umgang einen Zauber, der mich lange Zeit seine Gesellschaft jeder anderen vorziehen ließ.
Wie gut entsinne ich mich dieser Winterabende, wenn wir eine entlegene Ecke in einem Café wählten und von dort aus gleichsam das ganze Leben überblickten. Denn mit etwas Geringerem begnügte sich unser Gespräch im allgemeinen nicht. Und in jener Zeit der Gärung und Unruhe, da es schien, als ob in der ganzen Welt die Jugend, ohne voneinander zu wissen, ohne sich in ihren verschiedenen Sprachen immer zu verstehen, auf einmal mit demselben Unmut über die Gegenwart und vom selben Kraftgefühl für die Zukunft erfüllt sei, nach denselben Fernen spähte, dieselben Ziele aufsuchte, gleichen Idealen nachstrebte, da war mir der Umgang mit diesem seltsamen Manne mehr als eine Zerstreuung, mehr als eine Freude. Er gab mir Trost und Kraft. Denn ihm beichtete ich all das, was die ganze Jugend der Welt gemeinsam mit mir niederdrückte. Ihm bekannte ich meinen Mangel an Selbstvertrauen und meinen Traum von einer erfolgreichen Zukunft. Ihm plauderte ich meine Pläne aus von all den ungeschriebenen Büchern, die ich nicht einmal meinen Freunden oder Kameraden anvertraut hatte. Ich beichtete ihm die Niederlage meines Geistes im Kampfe wider das Fleisch. Ja, ihm konnte ich sagen, wie jugendlich einsam ich mich in dieser wunderlichen Welt fühlte, die ich damals weit besser zu durchschauen glaubte als jetzt, und es kränkte mich nicht, ich mißdeutete keinen Augenblick das wehmütige, verstehende Lächeln, das sein ausdrucksvolles Gesicht bei meinen heftigen Worten überflog. Mit Wehmut sagte ich ihm einst, daß ich mich ihm gegenüber aussprechen könne, wie ich einst geträumt hatte es meinem Vater gegenüber zu können, was mir aber nie zuteil geworden war. Mein Vater hatte sicher ebenso unter dem Verhältnis gelitten wie ich, aber er empfand Scheu vor der Schranke, welche die Generationen trennt, er gab mir nie den Mut, dessen es bedurft hätte, damit ich zu ihm ginge. Deshalb wendete ich mich an die Kameraden, und erst jetzt, mit sechsundzwanzig Jahren, hatte ich offen mit einem älteren Manne gesprochen.
Hugo Brenner schwieg, als ich ihm dies sagte, und sein Blick wandte sich nach innen, wie immer, wenn er zu fürchten schien, daß man Vertrauen oder auch nur eine Mitteilung begehrte, die ihn selbst betraf. Er begnügte sich mit der Antwort:
»Ich habe selbst einmal dieselbe Erfahrung gemacht.«
Er sprach diese Worte mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, die andeutete, daß er keine Fragen wünsche, begleitete aber die Worte mit einem Blick, der dem Ton seiner Stimme jede Schärfe nahm. Und ich stieß mit ihm an, denn mein Herz war voller Dank: er hatte mir das Gefühl erspart, unaufgefordert zuviel über mich selbst gesagt zu haben.
Eine Weile verging unter Schweigen, und da wir so lange und so intensiv gesprochen hatten, daß wir nichts mehr zu sagen fanden, ganz einfach weil wir es nicht vermochten, unsere Gedanken länger anzustrengen, kamen allerlei Jugend-Erinnerungen zutage, und wir erzählten einander vertrauliche, lustige kleine Geschichten, deren Pointe nur in dem Zusammenhang, in dem sie vorkamen, lag und die mit der spielenden Leichtigkeit aufeinander folgten, die das Gespräch nur dann erhält, wenn man sich ernsthaft ausgesprochen hat. Dies geschah nicht bloß einmal; es wurde uns fast zur Gewohnheit, unser Zusammensein mit munteren Geschichten abzuschließen. Diese Gewohnheit hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bedürfnis, eine starke Mahlzeit mit saftigen Früchten und einem guten Glase Wein zu beenden. Und hatten wir einmal mit den Geschichten angefangen, so schwanden die Stunden so schnell, daß keiner ihr Davoneilen bemerkte. Um uns herum, an allen Tischen, bezahlte man und ging. In unserer Nähe wurden, eine nach der anderen, die kleinen Flammen ausgelöscht und die Tabakswolken immer weniger beleuchtet, so daß sie zuletzt im Dunkel verschwanden. Wir aber merkten es nicht. Wir plauderten wie Kinder und wurden erst aus unseren heiteren Träumereien vom Oberkellner geweckt, der uns lächelnd darauf aufmerksam machte, daß wir die einzigen im ganzen Lokal waren und den letzten Kellner daran hinderten, die nötige Ruhe zu finden. Dann standen wir auf und gingen miteinander in die Nacht hinaus. Mehr als einmal aber wanderten wir noch lange die Straße auf und nieder, die Stille der schlafenden Stadt genießend, den weißen Schneeglanz über Straßen und Dächern im Winter, das frische Grün im Frühling, und wenn der Himmel von tausend funkelnden Sternen glänzte, alles noch stärker genießend.
Vieler solcher Abende entsinne ich mich. Was insbesondere diesen Zusammenkünften einen Glanz verlieh und sie zu Ruhestunden mitten im unruhigen Hauptstadtleben machte, das war der unbeschreiblich feine und stille Humor, womit Hugo Brenner Menschen und menschliche Verhältnisse anschaute und beurteilte. Ohne Humor wird ja eigentlich der begabteste Mensch auf die Dauer einförmig. Bei diesem Manne aber war es, als sei der Humor keine Eigenschaft, sondern sein eigenstes, inneres Wesen selber. Ob dieses immer der Fall gewesen, darüber gab mir Brenner ebensowenig Aufklärung, wie er es über andere Angelegenheiten tat, die ihn selbst betrafen. Aber nicht selten hatte ich den Eindruck, daß gerade dieser Humor das letzte Stadium einer Entwicklung bezeichnete, deren vorhergehende ich nur ahnen konnte. Ja, ich hatte zuweilen die Empfindung, gerade wenn sein Geist sich am freiesten erging, daß ich eben das in seiner Persönlichkeit genoß, was einst des Gebers größter Schmerz gewesen. Er machte mir den Eindruck eines Dichters, der sein eigenes Leben zu einem Gedicht gemacht hatte und in seiner Person eben das gab, was man von den anderen in ihren Büchern, in ihrer Kunst erhält.
Er war sein eigener Dichter, wie er selbst einmal äußerte, und er zwang mich, ohne es zu fordern, vielleicht ohne es zu wissen, zu ihm emporzusehen, wie zu einem Manne, von dem ich ahnte, daß er ein reiches Leben besaß, deshalb, weil er es wirklich gelebt hatte.