Ludwig Ganghofer
Der Klosterjäger
Ludwig Ganghofer

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Kapitel 26

Bald nach dem Ostertag war im Berchtesgadener Klosterland ein neues Sprichwort aufgetaucht. Wenn Sturm und Regen sich über Nacht in einen sonnigen Tag verwandelten, dann hieß es: »Das Wetter hat sich gewendet wie der Klostervogt.« Und in der Tat, Herr Schluttemann war kaum mehr zu erkennen; die Leute wußten es nicht genug zu rühmen, wie gut und freundlich der Vogt sie jetzt behandle. Mit rechten Dingen könne das nicht zugegangen sein; darüber waren sie alle einig. Und es verbreitete sich die Märe: Herr Schluttemann hätte an der Wand seiner Amtsstube einen ›Zauber wider die Galle‹ hängen; wenn immer nur ein Fünklein Zorn in ihm aufstiege, dann täte er schnell einen Blick nach dem unheimlichen Ding an der Wand und wäre plötzlich verwandelt in die leibhaftige Sanftmut.

Der ›Zauber‹ hing unter dem Bilde, das den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen darstellte, und sah einem zierlich beschriebenen, unter geschnitztem Rahmen verwahrten Pergamentblatt zum Verwechseln ähnlich.

Als Herr Schluttemann in der Woche nach Ostern eines Morgens seine Amtsstube betrat, gewahrte er den ›Zauber‹ an der Wand. Er trat mit verblüfften Augen näher, fuhr mit glühender Nase zurück und rannte wutschnaubend in das Gemach des Propstes.

»Reverendissime! Alles kocht in mir.«

»Weshalb?« fragte Herr Heinrich lächelnd.

»Man hat mich beschimpft. Man hat mir einen schmählichen Possen angetan. Das Urteil, Reverendissime, das Urteil wider meine Hausfrau –«

»Das sie Euch an den Kopf gehauen?«

»Ja! Das hat man in meiner Amtsstub aufgehangen. Aber ich will nimmer schlafen, bis ich den gefunden, der mir das angetan hat.«

»Da braucht Ihr nicht lang zu suchen. Das hab ich selbst getan.«

»Re ... Re ...« Herr Schluttemann wollte sagen: »Reverendissime!« Der Schreck lähmte seine Zunge.

»Eurer Klugheit mag es überlassen bleiben, herauszufinden, weshalb es geschah. Wenn Euch das aber nicht gelingen sollte –« Herr Heinrich machte eine bedenkliche Pause. »Ihr wißt, mein Vogt im Pongau ist gestorben. Ich muß einen anderen an seine Stelle setzen. Es ist ein böser, mühsamer Posten. Aber – wenn Ihr drüben im Pongau mit den Leuten umschreiet, dann hör ich es nicht.« Herr Heinrich trat zu seinem Pult und begann in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen.

Wie ein begossener Pudel ging Herr Schluttemann davon. Draußen in der Amtsstube stand er lange mit gespreizten Beinen und verschränkten Armen vor dem ›Zauber‹. Dann plötzlich stülpte er den Hut über das borstige Haar und rannte nach Hause, wie ein angeschossener Dachs in seinen Bau. Da ging nun ein Spektakel los, daß die Leute auf der Straße zusammenliefen und lauschend stehen blieben. Eine geraume Weile hörte man zwei Stimmen; dann nur noch eine: die donnernde Stimme des Vogtes. Frau Cäcilia hatte zum erstenmal in ihrem Leben den kürzeren gezogen.

Herr Schluttemann ließ sich den Vorteil dieses ermutigenden Sieges nicht wieder entschlüpfen. Das merkte man ihm deutlich an, wenn er am Morgen behäbigen Ganges zur Amtsstube wanderte, gründlich ausgeschlafen, mit lachendem Gesicht. Frau Cäcilia versenkte sich in stummen Groll; da sie aber schließlich merkte, wie wenig ihr das Grollen eintrug, spielte sie die Klügere und gab nach. Am Morgen des Fronleichnamstages wurde die Versöhnung geschlossen, und bei der feierlichen Prozession schritt Herr Schluttemann Hand in Hand mit seiner ›getreuen Hausehre‹ – wie er jetzt zu sagen pflegte – hinter dem Baldachin einher.

Als er anderen Tages seine Amtsstube betrat, war der ›Zauber‹ verschwunden. Er stürzte in das Gemach des Propstes. »Reverendissime! Das Ding ist weg von der Wand.«

»So?« lächelte Herr Heinrich. »Da mag es wohl einer weggenommen haben, der gefunden hat, daß es nimmer nötig wäre.«

Herr Schluttemann wollte zu einer langen Rede ausholen; aber da kam Frater Severin atemlos über die Schwelle gestolpert. »Herr! Herr! Pater Desertus ist heimgekehrt!«

»Wo ist er?« rief der Propst in Freude.

»Da kommt er schon!«

Von Staub bedeckt, wie er vom Pferd gesprungen, erschien Desertus unter der Türe. Sein Haupthaar, auch der lange, schwarze Bart, war leicht ergraut, aber seine Augen blickten hell und frei, und frische Lebensfarbe lag auf seinem sonnverbrannten Antlitz.

»Dietwald!« Herr Heinrich umschloß mit beiden Armen den Heimgekehrten.

Frater Severin und der Vogt verließen das Gemach.

»Rede, Dietwald! Wie ist es dir ergangen? Aber ich frage noch! Und die Antwort steht in deinen Augen, auf jedem Zug deines Gesichtes.«

»Wie hätt es mir übel ergehen können? Trost und Freude zogen mit mir. Sagt, Herr, wie geht es dem holden Kind?«

»Ich meine, gut. Die Kleine ist wohl aufgehoben bei den Domfrauen. Aber mir scheint, das neue Kleid will ihr noch immer nicht sitzen.« Herr Heinrich lächelte. »Die Berichte der Oberin laufen von Jammer über wie heiße Milch. Bis heute hat das Mädchen im Kloster nicht mehr gewonnen, als alle Herzen.«

Die Augen des Chorherren leuchteten. Dann faßte er die Hände des Propstes. »Ihr habt mich knapp gehalten mit Botschaft.«

»Ich schrieb dir, was ich schreiben konnte. Der Sudmann weiß weder Ort noch Namen. Aber du selbst magst alles von ihm hören.«

»Er lebt?« fragte Desertus mit ungläubigem Staunen.

»Zwei Monate lag er in schwerem Siechtum. Als ich ihn das letztemal besuchte, schien es mir, als begänne Eusebius zu hoffen. Wir wollen morgen zu ihm.«

»Nein, Herr, heute noch, ich bitte!«

»Kann ich dir die erste Bitte versagen? Aber nun rede, erzähle! Wie hat dich der Kaiser aufgenommen?«

»Wie einen Sohn!«

»Und konntest du ihm diese Liebe vergelten? Wie ist deine Sendung ausgefallen?«

Das Gesicht des Chorherren verdüsterte sich. »Wir wurden abgewiesen.«

Herr Heinrich nickte vor sich hin, als hätte er diese Antwort erwartet. »Wer zog mit dir?«

»Heinrich von Virneburg, der Mainzer. Einunzwanzig Tage währte unser Ritt. Wie staunte ich, als wir Avignon erreichten!«

»Du fandest einen weltlichen Hof, schwelgend in allen Freuden des Lebens?«

»Und inmitten dieses Taumels sitzt der Papst, ein williger Höfling Frankreichs, das den Streit zwischen Ludwig und der Kirche schürt und sich dabei durch Länderraub auf Kosten Deutschlands zu bereichern sucht. Wenn der Papst auch den Frieden mit Deutschland wollte, er darf ihn nicht wollen. Frankreich erlaubt es nicht.« Mit zornigem Lachen hatte Desertus die letzten Worte begleitet.

»Laß nur gut sein, Dietwald! Für alles kommt eine zahlende Zeit.« Herr Heinrich erhob sich. »Du wirst müde sein. Erhole dich einige Stunden! Dann magst du mir alles erzählen, während wir dem See entgegenreiten.«

Desertus wollte nichts wissen von Ruhe. Er ging nur, um das Kleid zu wechseln. Dann ritten sie zum Klosterhof hinaus. Vor Mittag erreichten sie Bartholomä.

»Nun? Wie geht es deinem Kranken?« fragte Herr Heinrich.

Eusebius lächelte. »Sagt, Herr, habt Ihr schon einmal einen Stein in die Höhe fallen sehen und ein Wasser bergauf laufen? Nein? Dann passet nur auf, Ihr seht es gewiß noch! Denn der Mann wird gesund. Freilich, den lahmen Arm muß er sich gefallen lassen.«

Herr Heinrich und Desertus traten in die Klause. Auf reinlichem Lager ruhte Wolfrat, abgemagert bis auf Haut und Knochen. Brust und Arme lagen noch im Verband; die Rißwunden im Gesicht waren geheilt und hatten kaum merkliche Narben zurückgelassen.

Wolfrats Augen leuchteten auf, als er den Propst in der Tür erscheinen sah. »Grüß Gott, Herr! Gelt, ich darf schon gleich fragen: wie geht's meiner Seph?«

»Ein paar Wochen noch, Wolfrat, und dein Weib ist wieder kerngesund.«

»Vergeltsgott, lieber Herr! Und mein Bub?«

»Der ist kugelrund geworden. Freilich,« Herr Heinrich lachte, »er war in Klosterkost.«

Desertus trat in mühsam verhehlter Erregung an das Lager des Sudmanns.

»Jetzt kenn ich Euch erst, Herr Pater!« sagte Wolfrat mit schwankender Stimme. »Euch muß ich ein festes Vergeltsgott sagen. Hättet Ihr selbigsmal nur ein kleines Weil später zugestoßen, dann wär's aus gewesen mit mir.«

»Sieh, Wolfrat,« fiel Herr Heinrich ein, »da kannst du deinem Retter gleich ein Liebes erweisen! Pater Desertus möchte hören, wie es kam, daß Gittli deine Schwester wurde. Erzähl es ihm!«

»Wohl! Setzet Euch nur her!«

Desertus ließ sich neben dem Lager auf einen Sessel nieder, und Wolfrat begann: »Wisset, Herr, ich bin im zweiundzwanziger Jahr bei dem Salzburger Erzbischof als Reisiger gestanden und hab den Ampfinger Tag mitgemacht. Auf der feindlichen Seit. Gewurmt hat es mich freilich, daß ich hauen und stechen soll gegen meine eigenen Landsleut. Aber was hab ich machen können? Ein Eid ist allweil ein Eid. Ich hab meine Pflicht getan als richtiger Soldat. Aber ungern hab ich's nit gesehen, wie der Kaiser obenauf gekommen ist, und wie die Unsrigen auf den Abend das Laufen angefangen haben. Da hat keiner mehr stehen können, einen jeden hat's mitgerissen. Wer nit laufen hat wollen, hat laufen müssen. Vier, fünf Tag ist es allweil hergegangen um unser Leben, keiner hat die Gegend gekannt, und die bayrischen Reiter sind hinter uns her gewesen wie die ledigen Teufel. Ich hab mich mit ein Stücker vierzig von den Unsrigen zusammengehalten. Und da war's in einer stürmischen Nacht. Da sind wir in einen Markt gekommen.«

»Wie hieß der Markt?«

»Ich weiß es nit. Aber ich besinn mich noch, daß gleich bei der Tafern eine Kirch gestanden ist. Die hat hint und vorn einen Turm gehabt und ein ebenes Dach.«

»Pfarrkirchen war es!« sagte Desertus in lateinischer Sprache zu Herrn Heinrich. »Zwei Wegstunden von meiner Burg.«

»Die Tafern war gesteckt voll mit flüchtigem Volk. An die dreihundert sind da beisamm gewesen. Es war ein fürchtiges Gejammer, was man jetzt anfangen soll, und wo man Zehrung hernimmt? Und da war einer unter uns, ein Salzburger Rottführer, Klees hat er geheißen –«

»Klees?« stammelte Desertus; und lateinisch sagte er zu Herrn Heinrich: »Der Mann hat einen Monat in meiner Schar gedient. Ich hab ihn fortjagen müssen, weil er mich bestahl.«

»Der Klees ist auf den Tisch gesprungen und hat geschrien: er wüßt ein Mittel, daß man die Säck vollstopfen könnt. Nit weit vom Markt wär ein reicher Herrensitz. Der tät einem Ritter gehören, der in der Ampfinger Schlacht mit dem Flamberg unter uns herumgehauen hätt wie der Mähder mit der Seges im Traidfeld. Die Handvoll Leut auf der Burg könnt man leicht überrumpeln. Wie er das gesagt hat, da hat's einen Höllenlärm gegeben, und die meisten sind gleich dabei gewesen, daß man den Handstreich wagen sollt. Ein paar haben freilich dawider geredet. Ich selber auch. Aber da hat's geheißen: man wär in Feindsland, und Krieg wär Krieg. Wer sich noch lang gewehrt hätt, ich glaub, den hätten die anderen niedergeschlagen. Der Klees hat Wein anfahren lassen, und wie wir heiße Köpf gehabt haben, da ist der Klees zum Hauptmann ausgeschrien worden. Und da hat er auch gleich die richtige Stund ausgenutzt. Noch in der Nacht sind wir fort aus der Tafern, und allweil durch Wald ist der Weg gegangen, den der Klees uns geführt hat. Ich muß schon sagen, die Sach hat mir nit gepaßt. Aber wie der Mensch ist! Wo hundert laufen, da lauft man mit. Und der Wein hat uns allen die Köpf dumper gemacht. Ich glaub, der Klees ist der einzig gewesen, der gewußt hat, was es gilt. So um die zweite Morgenstund muß es gewesen sein, da sind wir aus dem Holz ins Feld gekommen, und ganz schwarz sind die Burgmauern vor uns aufgestiegen in der Nacht.«

Desertus drückte die Fäuste auf seine Brust.

»Beherrsche dich, Dietwald!« mahnte Herr Heinrich in lateinischer Sprache. »Der Mann soll nicht wissen, wie nahe dich berührt, was er erzählt.« Und zu Wolfrat sich wendend, sagte er: »Sprich nur weiter!«

»Der Klees hat uns halten lassen. Keinen Laut und keinen Tritt hat man gehört. Dann ist der Klees bis an den Burgwall hingegangen und hat den Torwart angeschrien. Ich hab's nit recht hören können, ich bin einer von den letzten gewesen. Aber ich mein, er hat dem Torwart zugeschrien, daß er eine Botschaft brächt vom Burgherrn, und die Sach hätt Eil. Hat der Klees die Losung gewußt, oder war der Torwart so ein guter Hascher, der gleich das erste Wörtl geglaubt hat? Ich hab noch kaum gemerkt, was los ist, da war die Zugbrück schon herunt, eine Hauerei und ein fürchtiges Geschrei ist losgegangen, und bis ich nach einer Weil mit den letzten hineingekommen bin in den Burghof, sind die paar Herrenknecht schon im Blut herumgelegen, die unsrigen haben schon alle Türen eingedrückt, und die brennenden Pechkränz sind in alle Fenster geflogen. Da bin ich nüchtern geworden. Wie ein steiniges Manndl bin ich gestanden und hab mir an den Kopf gegriffen. Und gegraust hat mir in der tiefsten Seel. Hätt mich einer am Ampfinger Tag niedergeschlagen, mir wär wohler gewesen. Ich hab freilich keinen Finger gerührt und keine Hand gestreckt. Aber dabei gewesen bin ich halt doch! Und die ganzen Jahr her, so oft was Unguts über mich und meine Heimleut gekommen ist, allweil hab ich an dieselbige Nacht denken und mir sagen müssen: Jetzt mußt du zahlen dafür!«

Wolfrat schwieg, und Stille herrschte in der Klause. Das Gesicht des Chorherren war bleich, seine Augen irrten ins Leere.

»Wie die Flammen herausgeschlagen sind aus jedem Dach, da haben sie's drunten im Dorf gemerkt, was vorgeht, und haben die Sturmglock geläutet. Haufenweis sind die hörigen Leut aus dem ganzen Burgbann herbeigelaufen, die einen mit Schwert und Spieß, die andern mit Dreschflegeln und Segesen. Da ist die Hauerei aufs neu wieder angegangen. Ich hab mir gedacht, ich will mit einer so schiechen Sach nichts mehr zu schaffen haben. Aber wie ich beim Tor hinausschleichen und abschieben will, hör ich ein Gejammer von einer Weiberstimm. Und wie ich aufschau, steht auf dem Turmaltan, mitten im Feuer, eine junge, schöne Frau. Ein kleines Bübl ist bei ihr gestanden, und auf dem Arm hat sie ein Kind im Wickel gehalten. ›Jesus Maria!‹ hab ich geschrien und bin zugesprungen und hab gemeint, ich könnt noch hinauf in den Turm und helfen. Derweil tut's schon einen fürchtigen Krach. Das ganze Sparrenwerk ist eingefallen, und als wär die Höll zersprungen, so fliegt der Turm auseinander in lauter Feuer.«

Am ganzen Körper erzitternd, schlug Desertus die Fäuste vor die Augen.

»Gelt, Herr? Das greift einem ans Herz!« murmelte Wolfrat. »Ich bin gestanden, als wär in mir drin alles ein Eisbrocken worden. Und wie mich das Grausen wieder aufschauen laßt – von dem armen Weiberleut und dem Bübl hat kein Aug mehr was zu sehen gekriegt – aber auf einem spitzen Balken, der aus dem Gluthaufen herausgestanden ist, hab ich das Kindl hängen sehen, das sich am Wickel verfangen hat. Da hab ich keine Glut und kein Feuer gescheut und bin hineingesprungen und hab das schreiende Würml gepackt. Und das Glück hat's wollen: ich bin herausgekommen. Da springt der Klees auf mich zu. ›Gib her,‹ schreit er, ›hörst ja, das Kindl weinet nach seiner Mutter.‹ Er will mir's wegreißen, aber ich hab ihm mit der Faust eins übers Gesicht gewischt, daß er hingeschlagen ist wie ein Ochs. Derweil hat's schon geschienen, als täten die hörigen Leut Herr werden über die unsrigen. Der Klees ist wieder aufgesprungen und auf mich zu mit der blanken Wehr. Und wie's der Zufall will, springt ein scheues Roß gegen mich her. Ich erwisch es bei der Mähn, komm in einem Schwung hinauf, und zum Tor hinaus geht's in einem Sauser, gleich über zwanzig Köpf weg!«

»Kein Zweifel mehr!« rief Desertus mit bebender Stimme. Mühsam seine Erregung beherrschend, stammelte er in lateinischer Sprache: »Das war mein Weib! Das ist mein Kind! Mein Kind!«

Erschrocken sah der Sudmann zu ihm auf und warf einen fragenden Blick auf den Propst.

»Sprich weiter, Wolfrat!« sagte Herr Heinrich.

»Ich bin auf dem scheuen Roß gehangen wie der Frosch auf dem Mühlrad und hab nur allweil das Kind an mich hingedruckt. Und das Roß ist fortgesaust, fort und fort, bis weit hinter mir das brennende Schloß untergesunken ist in der finsteren Nacht. Wie der Tag gegrauet hat, sind dem Roß die Kräft ausgegangen. Eine Weil ist es stehen geblieben und hat den Grind hängen lassen. Dann ist es wieder fortgetrabt. Das Kind hat geschlafen, und ich hab's auf dem Arm gehalten und hab nit gewußt, was ich anfangen soll. Ich hab die Gegend nit gekannt, und in ein Dorf hab ich mich nit hineingetraut. Ich hab gemeint, es müßt alle Welt schon wissen, was in der Nacht geschehen ist. So bin ich  allweil zu und zu geritten, weil ich nichts anderes gedacht hab, als grad das einzig: schau nur, daß du weit, weit fort kommst von dem Fleck! Auf Mittag hab ich einen Einödhof gefunden mitten drin im Holz. Einer Dirn hab ich ein Reindl Milch abgebettelt für das Kind. Und so bin ich weitergeritten, allweil zu, bis ich auf die Nacht an ein Wasser gekommen bin und bald darauf in einen Markt. Da hab ich mich ausgekannt: das Wasser ist die Vils gewesen, und der Markt hat Velden geheißen. Und von da sind's keine drei ganzen Stund mehr in mein Heimatl gewesen. Wie hätt mir ein anderer Weg einfallen sollen! Ich bin geritten und geritten, bis ich daheim war. Meiner Mutter hab ich das Kind auf den Arm gelegt. Aber wie ich dazu gekommen bin, das hab ich verhehlt. Ich hab mich gescheut vor Mutter und Vaters Aug. Dabei gewesen bin ich halt doch!«

Wolfrat vermochte kaum mehr zu sprechen, seine Stimme zitterte vor Schwäche.

»Die Nacht drauf bin ich wieder fort. Aber das Kriegshandwerk hab ich satt gehabt bis an den Hals. In Landshut hab ich mich eingedingt als Flößer. Es hat lang gedauert, bis ich die schieche Sach in mir hab geschweigen können. Ich hab mir freilich allweil fürgesagt, daß ich ein Unrecht tu, wenn ich das Kindl um Recht und Namen bring. Aber ich hab mir nit getraut, daß ich umfrag und red. Da hätt's mir leicht an den Kragen gehen können, wenn ich mich verschnappt hätt. Sein Bröckl Leben hat jeder gern. Und wie ich wieder heimgekommen bin nach Dorfen und gesehen hab, daß meine Mutter mit ganzer Seel an dem lieben Kindl hängt, da hab ich erst recht nimmer reden können und hab mir gedacht: laß halt alles gehn, wie's geht, in Gottesnam!«

»Und niemals,« fragte Desertus, »niemals wieder hast du von jener furchtbaren Nacht gehört? Nie den Namen jener Burg erfahren?«

Wolfrat schüttelte den Kopf.

»Aber es muß doch ein Bild jener Burg in deiner Erinnerung haften?«

Wolfrat schien sich zu besinnen. »Mein, es hat halt ausgeschaut, wie es ausschaut in einer Burg. Türm und Mauern, ein weiter Hof und ein großmächtiges Haus!« sagte er mit matter, kaum noch verständlicher Stimme. »Aber – wohl, Herr, auf eins besinn ich mich noch. Über dem Tor und über der Turmtür hab ich im Feuerschein ein gemaltes Wappen gesehen.«

»Sprich, Wolfrat, sprich!« klang es mit erstickten Lauten.

Wolfrat bewegte lallend die Zunge; man verstand nicht mehr, was er sprach: die Erregung hatte seine schwachen Kräfte völlig erschöpft, er schien einer Ohnmacht nahe.

»Sprich, Wolfrat, sprich!«

Mit erlöschenden Sinnen rang Wolfrat nach Sprache: »Das Wappen – war – ein weißer Falk – im blauen Feld.«

»Das Wappen meines Hauses!« schrie Desertus. Sich erhebend schlug er die Hände vor das Gesicht, wankte hinaus, als erdrücke ihn der enge Raum, und ließ sich niedersinken auf die Hausbank.

Herr Heinrich eilte ihm nach. Im gleichen Augenblick legte ein Boot mit zwei Schiffern und einem Reisigen am Ufer an.

»Dietwald, ermanne dich!« flüsterte der Propst. »Es kommen Leute!« Er ging dem fremden Kriegsknecht entgegen. »Wen suchst du?«

»Herrn Heinrich von Inzing, den Propst.«

»Wer bist du?«

»Ein Salzburger Fronbot. Die Oberin der Domfrauen schickt Euch diese Botschaft.« Er reichte dem Propst ein versiegeltes Pergament.

Herr Heinrich las; er erschrak nicht; nur ein Lächeln glitt um seinen Mund. »Du kannst heimkehren!« sagte er zu dem Boten. »Man soll dir im Kloster den Botenlohn reichen und dich köstigen.« Der Knecht ging zum Ufer zurück. Herr Heinrich wartete, bis das Boot abgestoßen war, dann wandte er sich zu Desertus. »Willst du lesen, Dietwald? Eine Botschaft von deinem Kind!«

Mit hastigen Händen griff der Chorherr zu und entfaltete das Pergament. Er erblaßte. »Mein Kind? Aus dem Kloster entflohen?«

»Entflohen? Weshalb das hohe Wort?« meinte Herr Heinrich lächelnd. »Sag lieber: davongelaufen!«

Desertus faßte die Hand des Propstes. »Herr! Ich bitt Euch! Lasset uns gleich zurückkehren! Im Seedorf stehen unsere Pferde. Wir wollen nach Salzburg reiten.«

»Nach Salzburg? Nein, Dietwald, ich weiß einen näheren Weg, um dein Kind zu finden. Wir wollen hinaufsteigen in die Röt.«

Desertus erschrak. »So meint Ihr – nein, nein! Es ist unmöglich! In dieser einen Nacht sollte das zarte Kind einen Weg bezwungen haben, der die Kräfte eines rüstigen Mannes erschöpfen würde?«

»Omnia vincit amor!« lächelte Herr Heinrich. »Komm, Dietwald!«

Schweigend folgte Desertus dem Propst an das Ufer. Ein Knecht holte zwei Bergstöcke, der Einbaum wurde ins Wasser geschoben, rasch war die schmale Wasserzunge übersetzt, und die beiden stiegen empor durch den sonnigen Bergwald.

Ungeduldig eilte Pater Desertus voran.

Herr Heinrich rief ihm lachend zu: »Dietwald, willst du nicht hinter mir gehen? Weißt du, ich möchte mit ganzer Lunge droben ankommen.«


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