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Zu später Nachmittagsstunde erreichte Herr Heinrich die Hütten. Unter der Tür des Herrenhauses trat ihm der Vogt entgegen, brennend vor Erregung.
»Reverendissime! Könnt Ihr Euch denken, was wir gefunden haben?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte Herr Schluttemann in die Hütte und kam zurück, in der Hand den schon übel duftenden Kopf eines Steinbocks mit mächtigem Gehörn.
Über die Lippen des Propstes flog ein zorniges Wort. Sie traten in die Stube, und Herr Schluttemann begann zu erzählen.
Bis gegen Mittag hatten sie vergebens gesucht; alle Fährten und Schweißspuren waren im Regen erloschen. Schon wollten sie sich auf den Heimweg machen, als Walti in einer tiefen, dunklen Felsspalte etwas Verdächtiges erblickte. Es war der erlegte Steinbock. Er wurde in die Höhe gehoben und genau untersucht; da zeigte sich, daß an dem Tier nichts fehlte – nur das Herz. Der Vogt ließ dem Bock das Haupt abnehmen, um Herrn Heinrich das Gehörn zu bringen. Als sie auf dem Rückweg am Kreuz vorüberkamen, machte Walti abermals eine Entdeckung. »Der Bub,« meinte Herr Schluttemann, »hat Luchsaugen und eine Hundsnase.« Walti bemerkte an dem Christusbild die Blutflecken. »Schier noch so rot, als wären sie auch gemalt wie die anderen!« Das Dach über dem Kreuze hatte den Regen verhindert, die bösen Spuren auszulöschen.
Da war es in Herrn Schluttemanns Gehirn wie eine Fackel aufgegangen, bis sein Verdacht das eine zum anderen fügte, wie Glied um Glied zu einer Kette.
»Und jetzt, Reverendissime, hoc igitur censeo!« Er legte die Arme über den Tisch und begann an den Fingern herzuzählen: »Primo: beim Kreuz muß der Lump den Steinbock angeschweißt haben, oder der angeschweißte Bock ist auf der Flucht am Kreuz vorbeigekommen und hat gespritzt. So muß es einer getan haben, der am Ostermorgen vor Tag beim Kreuz war. Einer, den ich kenneeeeh!« Herr Schluttemann dehnte die letzte Silbe wie einen Teigfaden. »So ein Gauner! Hat es mir noch selber erzählt! Warte nur, dir zünd ich auf mit deiner Schlauheit! Secundo: es fehlt nur der Schweißsack. So hat es einer getan, oder vielmehr –« Herr Schluttemann machte verschmitzte Augen, »einer hat es angestiftet, dem es um ein Herzkreuzl zu tun war. Einer, den ich kenneeeeh! Ist zu mir gekommen und hat eins haben wollen, ich hab ihm aber einen Tritt gegeben. Post autem: wenn es einer getan hat für den anderen, so hat er's getan um silbernen Dank. Weil er Geld gebraucht hat, wie der Bäck die Hefen. Sagen wir exempli causa: einer, der am Karsamstag das Lehent nicht hat zahlen können, und am Ostermontag bringt er das Geld! Bringt es! Bringt es! Und haut mir's auf den Tisch! Und sagt, der ander hätt's ihm geliehen! Haha! Geliehen! Warte nur, Bursch, dir will ich was borgen, das hat der Freimann im Kasten!«
Herr Heinrich war betroffen aufgesprungen. »Vogt? Ihr meinet den Sudmann, den Wolfrat?«
»Stimmt, Reverendissime! Und der andere, das ist dieser Schmerwanst, der Eggebauer. Der bleibt uns schon, wenn wir nur erst den Sudmann haben. Heut in der Nacht laß ich ihn ausheben. Ich habe die Knechte schon hinuntergeschickt. Sie bringen ihn morgen, damit der Haymo gegen ihn zeugen kann.«
»Da habt Ihr übereilt gehandelt!« zürnte Herr Heinrich. »Ihr hättet zuvor meine Stimme hören sollen. Wollt Ihr den Mann gefangen hierher bringen lassen vor die Augen seiner Schwester?«
Herr Schluttemann machte ein verblüfftes Gesicht; er hatte Lob erwartet und wurde gescholten. Bei seiner fundfrohen Weisheit hatte er mit keinem Gedanken an Gittli gedacht. Aber holla, das war ja ein neuer Beweis!
»Herr Heinrich!« stotterte er. »Scheint es Euch nicht seltsam, daß gerade diese Dirn den Jäger gefunden hat? Gleich hängen laß ich mich, wenn sie nicht um die Tat gewußt hat.«
»Gewußt? Nein! Aber sie mag davon erfahren haben, da es geschehen war. Und da wollte sie helfen, wenn noch zu helfen wäre. Sprechen durfte sie nicht, wenn sie nicht den Bruder verderben wollte. In Gottvertrauen hat sie es gewagt mit eigener Kraft, und Gott ist ihr beigestanden. Ihr aber, Vogt, Ihr meint, alle Schuldigen gefunden zu haben? Denket nach, denn es fehlt noch einer!«
»Einer? Noch einer?« stotterte Herr Schluttemann.
»Ja, und Ihr selbst seid dieser eine!«
Das Gesicht des Vogtes färbte sich dunkelrot, und seine Nase wurde zur Fackel.
»Ja, Ihr!« wiederholte Herr Heinrich. »Mit Eurem rauhen Wesen, mit Eurem Schreien und Schelten. Besinnt Euch nur, wie das arme Kind vor Euch stand, bleich und zitternd. Die Leute mußten ja glauben, sie würden über Nacht schon von Haus und Hof gejagt. Wenn der Mann die Tat wirklich begangen hat, dann habt Ihr ihn dazu getrieben, nicht der Eggebauer!«
Herr Schluttemann war wie ein hilfloses Kind. Er wagte kaum aufzublicken. »Ach, Herr Heinrich,« stöhnte er, »wenn Ihr mir doch ins Herz schauen könntet! Meiner Treu, ich bin ein seelensguter Kerl! Aber in der Früh halt, in der Früh! Da steckt mir das Weib in allen Knochen und hebt mir die Fäust und blast mir die Backen auf.«
»Wenn Frau Cäcilia das Zanken nicht einstellen will, so laßt ihr doch einmal den PagsteinDas Mühldorfer Stadtrecht im 14. Jahrhundert bestimmte: »Welleich leicht Weib pagent (zanken) mit den Worten die sie vermeiden sollen, der soll man den pagstein an irn Hals hengen und sollst von gazzen ze gazzen traiben.« um den Hals hängen und laßt sie vom Fronknecht durch die Gassen führen. Ihr seid ja der Vogt!«
Herr Schluttemann kraute sich hinter den Ohren. Freilich, er war der Vogt. Aber Frau Cäcilia war der Obervogt!
Herr Heinrich verwand das Lächeln. »Sagt mir, weiß das Mädchen schon von Eurem Fund?«
»Nein, Reverendissime!« gab Herr Schluttemann eilfertig zur Antwort. »Die Dirn war weggegangen, als wir kamen.«
»Weggegangen? Wohin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie soll kein Wort von allem erfahren. Und Haymo?«
»Er ruhet wieder.«
»Schweigt auch gegen ihn. Mit Eurem Gewissen aber, Vogt, mit dem dürft Ihr reden, so laut Ihr könnt.«
Mit zerknirschter Miene machte der Vogt einen tiefen Bückling, als Herr Heinrich die Stube verließ. Draußen rief der Propst den Knecht herbei, der am Morgen mit den Hunden gekommen war; er sollte die beiden einzuholen suchen, die der Vogt hinuntergeschickt; sie möchten den Sudmann in Ruhe lassen und von der Sache schweigen, bis Herr Heinrich selbst hinunterkäme; könnte der Knecht die beiden nicht mehr einholen und hätten sie den Mann schon gefaßt, dann sollte er sie tun lassen, wie es ihr Auftrag heische. »Und im Salzhaus laß dir ein Saumpferd geben! Ich will morgen zu Tal und kann den Haymo nicht in der Einöd lassen.«
Der Knecht machte sich auf den Weg. Herr Heinrich ging in die Jägerhütte, setzte sich zu Haymo an das Lager und ließ sich noch einmal erzählen, wie alles geschehen wäre. Mit stockenden Worten berichtete Haymo.
»So hat er den Stoß an der Stelle geführt, an der das Mädchen dich gefunden hat?«
»Ja, Herr!« sagte Haymo leis.
»Es ist also nicht beim Kreuz geschehen?«
Haymo sah den forschenden Blick des Propstes auf sich gerichtet. Zugleich aber war es ihm auch, als stünde Gittli neben ihm, mit angstvollen Augen und bittend erhobenen Händen. Er senkte den Blick. »Nein, Herr!« Kaum war das Wort gesprochen, da hätte er's gerne wieder zurückgenommen. Nur wenige Stunden waren vergangen, seit er von seines Herren Lippen den Spruch vernommen:
»Wehr ohne Schart und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl –«
und jetzt hatte er schon dawider gesündigt. Aber er fühlte, wenn er ein zweites mal gefragt würde, so könnte er wieder nur sagen: »Nein, Herr!«
Man hörte draußen den Frater mit Walti reden; er suchte Herrn Heinrich, auf den die Mahlzeit wartete. Der Propst erhob sich und ging in die Herrenhütte. Verwundert fragte er: »Wo ist Pater Desertus?«
»Ich weiß nit, Herr!« sagte der Frater. »Er ist fortgegangen.«
»Auch fortgegangen? Und weißt du nicht, wohin das Mädchen gegangen ist?«
»Nein Herr! Ich weiß nit, was über die Dirn gekommen ist. Der Haymo hat sie doch nit vertrieben.« Frater Severin lachte. »Ich bin mit ihr hinübergegangen, um dem Jäger das Essen zu bringen, und da war zuvor eine Dirn da, die hat dem Haymo einen Veiglbuschen gebracht, und aus den Blumen hat er ein feines Kränzl gewunden. Wie wir nun zu ihm hineinkommen, und die Gittli geht vor sein Lager hin, da drückt er ihr lachend das Kränzl auf den Scheitel. Rot ist sie geworden wie ein Krebs und ist davongeschossen, ohne ein Wörtl zu reden. Und seit der Zeit hab ich sie mit keinem Aug mehr gesehen.«
Freilich! Denn ehe der Frater in die Herrenhütte zurückkam, hatte Gittli ihr Bündel aus dem Winkel gezogen und war davongesprungen, um irgendwo im Gebüsch ein Versteck zu suchen, in dem sie die rußigen Kleider gegen ihr gutes Gewand vertauschen könnte. Mit Suchen und Suchen – auf jedes Flecklein blickten die Hütten her – war sie tief hinunter in das Steintal geraten. Endlich fand sie eine sonnige Mulde mit dichtem Föhrengestrüpp, versteckt zwischen Felsgewirr. Gittli schlüpfte durch das Gezweig und fand inmitten des Gebüsches einen kleinen Teich, zu dem sich das Regenwasser über dunklem Moos und weißem Sande gesammelt hatte; wie ein Spiegel blickte ihr das klare Wasser entgegen, von keinem Lüftchen gewellt, von keinem Staub getrübt, farbig schimmernd in der sinkenden Sonne. Gittli klatschte vor Freude die Hände ineinander. Keine Fürstentochter hatte in ihrer stolzen Burg ein Stübl, wie sie es hier gefunden: mit weichem Teppich, mit immergrünen Wänden, umgeben von himmelhohen Mauern, darüber die blaue Decke, an der die Sonne als Lampe hing – und mitten drin in der grünen Stube ein lockendes Bad, das der Wettermacher des Himmels, der heilige Petrus, als Marschall ihr bereitet hatte. Hastig tauchte sie die Hand in das Wasser; es war nicht allzu kühl, denn der Regen war lau gefallen, und die Sonne hatte gut geheizt. Im Gebüsch legte Gittli das Gewand zurecht, das sie mitgebracht, dann schlüpfte sie aus den Kleidern und huschte ins Wasser, flink und schlank, zart und geschmeidig wie ein Elf, bis zu den Knien umhüllt vom schwarzen Mantel der gelösten Haare. Da plätscherte sie nun in der Sonne und schauerte und kicherte und wusch und rieb sich das Gesicht, daß ihr die Wangen zu brennen begannen. Dann plötzlich erschrak sie und lauschte – es raschelte im Gebüsch – mit leisem Aufschrei tauchte sie in das Wasser, daß nur die Augen noch hervorlugten, vom schwimmenden Haar umgeben wie von einem dunklen Schattenkreis. Es war still in den Büschen. Doch nein, jetzt wieder began das Rascheln, ganz leise. Und immer näher kam es. Gittli zitterte vor Angst und Kälte und wagte sich nicht zu regen; sie sah im Dickicht die Spitzen der Äste sich bewegen, etwas Graues schlich da drinnen hin und her, nun teilten sich die Zweige, und zögernd trat aus den Büschen ein Hirschkalb hervor, das der nahende Abend aus dem Lager getrieben hatte.
Beim Anblick des Wassers verhoffte das Tier, denn vor zwei Nächten war an der Stelle, wo der Teich sich gebildet hatte, noch Weide gewesen. Scheu, mit vorgestrecktem Halse, kam es näher, stieg mit tastenden Schritten in das Wasser und schaute verwundert auf sein Spiegelbild.
Das war so drollig anzusehen, daß Gittli, die sich mäuschenstill gehalten, kichern mußte. Das Wild hob mit jähem Ruck den Hals und gewahrte nun das weiße Gesicht mit den großen, leuchtenden Augen; ungeduldig stampfte das Kalb mit den Läufen, denn die seltsame Wasserblume mit den tausend schwarzen schwimmenden Blütenfäden und dem silberweiß aus dem Teich hervorschimmernden Stengel mochte ihm nicht ganz geheuer erscheinen. Da tauchte Gittli hurtig in die Höhe. »Brrrr!« machte sie, mit beiden Händen Wasser spritzend. Und mit einer hohen Flucht stob das erschrockene Wild in das Dickicht zurück, daß die Äste rauschten und die Zweige knackten.
»Hast du mich erschreckt, hab ich dich erschreckt!« lachte Gittli; aber sie brachte die Worte kaum heraus; so fröstelte sie. Eilig schüttelte sie das Haar, rang das Wasser aus den Strähnen und huschte ins Gebüsch zurück.
Eine Weile, und sie erschien im blauen Rock und schwarzen Mieder, in jenem schmucken Staat, in dem sie am grünen Donnerstag das nörgelnde Staunen des Herrn Schluttemann geweckt hatte; die Haare ließ sie offen hängen, damit sie auf dem Heimweg trocknen möchten; und über ihrem Scheitel saß, als lieblicher Schmuck, der duftende Veilchenkranz. Sie trat an das Ufer, zog den Rock an die Knie und neigte sich vor; mit ernsten Augen betrachtete sie ihr Spiegelbild, dann lächelte sie ein wenig. Sie schien sich zu gefallen. Aber gleich wieder schüttelte sie den Kopf und seufzte: »So schön wie die Zenza bin ich allweil nit!«
Langsam stieg sie durch das Steintal empor und suchte den Pfad zu gewinnen. In der scheidenden Sonne trocknete ihr Haar und begann sich zu locken. Als sie den Steig erreichte und über das Tal hinwegblickte, blieb sie zögernd stehen. Saß dort drüben, einem Fels zu Füßen, nicht Pater Desertus? Doch es gab keinen anderen Weg zu den Hütten; sie mußte an ihm vorüber. Aber weshalb nur war ihr bange vor diesem Mönch? Sie hatte ihm nichts zuleide getan und hatte keine Ursach, ihn zu fürchten. Wohl hatte Haymo ihr geraten: geh dem Chorherren aus dem Weg – aber sie hatte keinen anderen Pfad.
Ruhig schritt sie weiter. Als sie in eine tiefe Senkung des Tales kam, entschwand der Pater ihrem Blick.
Desertus hatte das Mädchen noch nicht gewahrt. Seine Augen blickten – wie Gittli zu Herrn Heinrich gesagt – wieder einwendig. Er saß auf einem niederen Stein und hielt den das Haupt stützenden Arm über einen höheren Felsblock gelehnt. Warm lag die sinkende Sonne auf seinem bleichen Gesicht und um die schmalen Lippen spielte ein träumendes Lächeln. Die holden Bilder der Vergangenheit webten vor seinem Geist. Frühling war's, und schüchtern begannen im Laubwald die Blätter zu sprossen. Zwischen den Bäumen läuteten die Stimmen der Bollbeißer, die Hörner klangen, und jagender Hufschlag tönte. Nun geben die Hunde Standlaut. »Sie haben ihn!« Allen anderen fliegt Dietwald auf schäumendem Pferde voran und löst schon den Riemen, mit dem der kurze Speer, die ›Feder‹, lose an seinen Arm gekoppelt ist. Auf einer kleinen Blöße haben die Beißer den Bären gefaßt, wie die Kletten hängen sie an seinem Gehör. Dietwald schwingt sich vom Pferde, sicher führt er den Stoß. Der Bär hat seinen ›Fang‹ erhalten und liegt verendet unter den Hunden. Nun geht es heimwärts durch den Wald mit Lachen und Plaudern. Von den Zinnen seiner Burg weht eine weiße Fahne, frohe Botschaft kündend. Er spornt das Roß, jetzt hat er den Hof erreicht, mit langen Sprüngen nimmt er die Stufen. Unter der Tür der Frauenstube treten ihm die Mägde entgegen und bringen ihm sein Dirnlein, das ihm Gott geschenkt, derweil er den Bären jagte. Ach, Herr, solch ein Würmchen! Kein Gesicht, nur Augen! Mit denen schaut es umher in der Welt, in die es geraten, so neugierig, so erstaunt! Er wagt das winzige Ding kaum anzurühren, fürchtet, es möchte ihm zerbrechen unter den Händen. Da war sein Junge schon aus festerem Holz; der schrie wie ein kleiner Geier, zappelte mit den Füßen, schlug mit den kleinen Fäusten um sich, ließ sich drücken und küssen.
»Dietwald!« Ach, wie matt diese Stimme klang! Er reicht das Dirnlein den Mägden und tritt auf den Zehen in die dunkle Stube, aus deren Ecke die weißen Linnlaken des Bettes schimmern. Er tritt hinzu, noch finden sich seine Augen nicht zurecht, doch eine kleine, weiche Hand erfaßt die seine. »Judita!« stammelt er in seliger Freude und überströmt die zitternde Hand mit seinen heißen Küssen. Da er aufblickt, lächelt ihm die junge Frau entgegen, sie kann in ihrer Schwäche das Haupt nicht erheben, es ruht auf schwarzen Kissen – nein doch, das sind die gelösten Haare, die um ihre Wangen gebreitet liegen wie schwarze Seide.
Sie soll nicht reden, und er darf nicht sprechen zu ihr; aber an ihrem Lager darf er sitzen und ihre Hand in der seinen halten und träumend alle Freude nachgenießen, die er mit diesem holden Weibe gewann. Er hatte sie zum erstenmal gesehen, da er mit König Ludwig einritt in die Passauer Bischofsburg; als das Turnier gehalten wurde, warf er seine Gegner spielend in den Sand; die schönen Augen, die aus allen Fenstern auf ihn gerichtet waren, störten ihn nicht; in seinem Herzen glühte nur die Freude am Kampfspiel; doch als ihm Frau Irmgard, des Bischofs Schwester, den Turnierdank reichte, sah er neben der stolzen Frau ein Mägdlein sitzen, fast noch ein Kind, mit feingeschnittenem Gesicht, mit tiefen Rätselaugen, Stirn und Wangen dicht umringelt von schwarzem Gelock. Die Blicke der beiden trafen sich, und leis errötend senkte das Mädchen die Lider. »Nun, Herr Graf, was zögert Ihr?« lächelte Frau Irmgard. »Ihr habt den Dank verdient!« Dietwald beugte das Knie und ließ sich den Kranz um die Stirne legen. Als er zurücktrat, winkte er dem Seneschall des Bischofs. »Wer ist das holde Kind?« »Frau Irmgards Tochter Judita, ihr Vater hauset auf der Ortenburg.« Bei der Tafel fand sich Dietwald an Juditas Seite. Drei Maitage schwanden mit allem Sonnenglanz und Blütenduft der ersten jungen Liebe, mit ihrem sehnenden Sichsuchen, ihrem zagenden Sichfinden, ihrem seligen Stammeln und Verstummen und mit der süßen, alles Verschwiegene bekennenden Zwiesprach der kühneren Augen. Und als Frau Irmgard Abschied nahm, und Dietwald und Judita schweigend standen, sagte die lächelnde Mutter: »Nach der Ortenburg habt Ihr ein kurzes Reiten, Graf, lasset Euch einmal blicken bei uns, ehe Herr Ludwig wieder heimzieht nach seiner Pfalz!«
Einen Tag lang wehrte Dietwald seiner Sehnsucht, am zweiten Morgen saß er zu Pferd. Über blumige Wiesen ging der Weg, durch jung ergrünenden Wald. Auf einem Hügel erhob sich die stattliche Burg, und ihr zu Füßen lag das kleine Dorf. Dort tönten die Pfeifen, und jauchzende Stimmen klangen. »Sie halten den Maitanz,« sagte ein Bauer, »und die Burgleute sind auch dabei, und das liebe Fräulein tanzet mit jedem braven Buben und ist gewandet wie ein Bauernkind!«
»So will ich mir auch einen Reigen holen!« lachte Dietwald, sprang vom Pferde, warf die Zügel dem Knechte zu und eilte dem Dorf entgegen.
Nun plötzlich rann es ihm heiß und kalt durch das Herz – dort, zwischen den grünen Büschen, kam sie gegangen zögernden Schrittes, leise lächelnd, gekleidet wie ein Kind des Dorfes, in blauem Rock mit schwarzem Mieder, die Schultern umringelt von dunklem Gelock, um die Stirn den Veilchenkranz, sie selbst eine liebliche Blume, die ein Wunder verwandelte in Fleisch und Blut.
»Judita!« schrie er, stürzte ihr entgegen und umschlang sie mit zitternden Armen.
Das Mädchen erblaßte, riß sich mit angstvollem Aufschrei von seiner Brust – und hinter ihm rief eine zornige Stimme: »Desertus!«
Taumelnd griff er mit beiden Händen nach seiner Stirn, erwachend starrte er um sich her, und da sah er in weitem Kreis die kahlen Felsen ragen, Herr Heinrich stand vor ihm, und auf dem Pfade floh Gittli, von Schreck gejagt, den Hütten zu.
»Welch ein Erwachen!« stöhnte er, schlug die Hände vor das Gesicht und sank vor Herrn Heinrichs Füße.
Zwischen den Brauen des Propstes glättete sich die zornige Furche. Er legte die Hand auf den Scheitel des Chorherren.
»Dietwald! Erhebe dich!«
Desertus drückte das Antlitz in Herrn Heinrichs Gewand und umklammerte ihn wie der Sinkende den rettenden Baum.
»Komm, Dietwald, steh auf!« Herr Heinrich nahm ihn bei den Armen, hob ihn empor und führte den Wankenden zu einem Stein. »Rede! Wie kam es, daß du dich so vergessen konntest?«
Desertus schaute zu ihm auf mit dem Blick der Verzweiflung; er drückte die eine Hand auf seine stürmisch bewegte Brust und führte die andere an den Lippen vorüber, wie um zu sagen: ich kann nicht sprechen! Herr Heinrich ließ sich auf einen Felsblock nieder und wartete. Es währte lange, bis Desertus zu sprechen begann, heiser, mit abgerissenen Worten: »Ich saß und schlief mit wachenden Augen und träumte, und da stand es wieder vor mir, wie herausgetreten aus meinem Traum.«
»Dein Gespenst?« sagte Herr Heinrich betroffen. »So hätt ich dich falsch verstanden bei der Klause? Nicht eine Ausgeburt deiner irrenden Sinne? Ein Gespenst aus Fleisch und Blut? Dieses Kind hat die Versuchung über dich gebracht?«
Desertus starrte Herr Heinrich an, als verstünde er ihn nicht. »Versuchung? Nein, Herr! Es war noch kein Lebender seinem atmenden Glück so treu, wie ich an meinen Toten hänge. Eh' ich Judita fand, hab ich kein Weib mit Mannesaugen angesehen, und seit ich sie verlor, ist mir, was Weib heißt, aus der Welt gestorben. Ich wäre Mönch gewesen, es hätte der Gelübde nicht bedurft. Versuchung? Nein! Ihr müßt es Wahnsinn nennen, den ein grausam spielender Zufall der Natur in mir entzündet!« Wie im Fieber flogen seine Worte. »Ich hab es mit eigenen Ohren doch gehört von den bleichen Lippen meiner Sassen, die den mörderischen Räubern noch entkamen und es ansahen mit entsetzten Augen, wie mein Weib auf den Altan des brennenden Turmes flüchtete, meinen Knaben an sich gedrückt, mein Töchterlein auf den Armen, und wie die Mauern barsten und die Balken stürzten, mein Glück begrabend unter Flammen, Rauch und Trümmern. Ich habe doch meines armen, süßen Weibes verkohlte Beine gefunden, noch umwunden von dem goldenen Kettenschmuck, den Judita als mein Angebinde getragen. Ich weiß doch, daß aus dem Reich des Todes keine Straße zurückführt in das Leben. Und doch! So oft mir dieses Kind vor Augen tritt, mein ich, ein Wunder hätte sich vollzogen, der Lauf der Zeiten wäre still gestanden, und alles Geschehene wäre ein böser Traum gewesen, der sich nun löst von mir, da ich erwache. Denn dieses Kind, Herr Heinrich – wo find ich Worte für das Wunder? Ich suche auf der Erde: so gleichet keine Blume ihrer Schwesterblume. Ich suche am Himmel: so gleichet kein Stern dem Stern, wie dieses Kind an Haar und Augen, an Antlitz und Gestalt, an Reiz und Wesen meinem Weibe! Und so, wie dieses Mädchen jetzt, im Kleid des Dorfes, mit gelöstem Haar, den Kranz von Veilchen über der Stirn, so trat mir Judita entgegen, als ich in seliger Freude den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte.« In sich versinkend schlug er die Hände vor das Gesicht.
»Dietwald!« rief Herr Heinrich in tiefer Erregung. »Sage mir –« Er verstummte wieder. Es war ein Unmögliches, was er dachte! Und durfte er aus der schmerzvollen Seele dieses schwer Gebeugten einen Wahnsinn reißen, indem er einen andern Wahn in ihr erweckte? Er strich ihm langsam die Hand über den Scheitel. »Vergib mir, Dietwald, daß ich dich falsch verstand und dich aus der Pein in die Marter stieß, als ich dich hierherführte, statt weite Meilen zwischen dich und diese Hütten zu legen. Du darfst nicht bleiben. Nicht um deinetwillen, nicht um des unschuldigen Kindes willen, das du erschreckt hast bis ins innerste Herz.«
Desertus nickte vor sich hin.
»Weißt du den Weg nach deiner Klause zu finden?«
»Nein, Herr! Aber fort, fort, nur fort!«
»So warte hier. Ich will dir den Walti senden. Er soll dir den Basthut und das Griesbeil bringen und soll dich führen. Auch eine Fackel soll er mitnehmen, denn ihr kommet in die Nacht hinein. Und wenn du in der Klause bist, dann halte den Buben bei dir, er plaudert gern, und laß die Fackel brennen die ganze Nacht. Beten kannst du nicht mit diesem Irrsinn im Herzen. Und schlafen noch minder. Nimm die Schnüre und beginne ein Netz zu flechten mit engen Maschen! Ich komme morgen abend zu Tal. Eine Klafter hoch und drei Klafter lang soll das Netz geraten sein, bis ich komme. Und weniger will ich nur finden, wenn dich der Schlaf befiel. Bessere Hilfe weiß ich dir nicht, als schaffen, schaffen und schaffen, bis dir die Augen sinken und die Arme erlahmen. Und übermorgen sollst du reisen!«
Sie reichten sich die Hände.
»Ich gehorche!« flüsterte Pater Desertus.
Und Herr Heinrich ging, an der Wende des Pfades noch einmal zurückschauend mit bewegtem Blick. Als er das Herrenhaus erreichte, kam Frater Severin aus der Jägerhütte.
»Wo ist Walti?«
»Ich habe den Buben um Holz geschickt.«
»Und das Mädchen?«
»Ich glaub, sie hockt in der Küche. Was die nur hat! Als wär die Drud hinter ihr, so ist sie gerannt gekommen, und vor Haymos Lager ist sie hingefallen und hat kein Wort geredet, was wir sie auch gefragt haben. Ich hab schon gemeint, der Haymo fahrt aus der Haut, so hat er's getrieben mit der Dirn. Aber sie hat ihm nit Red gestanden, und weil er gar nit hat aufhören wollen mit Fragen, ist sie zur Tür hinausgeschossen. Der Haymo hat gleich aufspringen und ihr nachlaufen wollen. Ich hab ihn gehalten, und weil ich gesehen hab, daß die Dirn ohne die Veiglen gekommen ist, hab ich ihm eingeredet, daß sie so verdreht wär, weil sie die Blumen verloren hat. Da drüber hat er sich gefreut.«
Herr Heinrich trat in die Küche und sah das Mädchen verschüchtert in einem Winkel sitzen.
»Gittli!«
Sie folgte ihm zögernd in die Herrenstube.
»Wo hast du deine schönen Blumen?«
»Verloren!« lispelte das Mädchen. »Die müssen mir heruntergefallen sein, wie er mich –« Sie verstummte.
»Du bist wohl arg erschrocken?«
Schweigend stand sie, mit gesenkten Lidern.
»Vergiß es, Gittli! Weißt du, der Pater ist ein armer, kranker Mann, krank im Herzen.«
Sie sah zu Herrn Heinrich auf.
Freundlich strich er mit der Hand über Gittlis Haar. »Denk nur, ehe der Pater in das Gotteshaus getreten ist, war er ein Rittersmann, hatte eine junge schöne Frau und holde Kinder und hat alle seine lieben Leut verlieren müssen in einer einzigen Nacht.«
Gittlis Augen wurden feucht.
»Weißt du, und seit der Zeit ist er manchmal so träumig wie ein Kranker. Und wie du jetzt gekommen bist, hat er völlig gemeint, seine liebe Frau tät ihm erscheinen.«
»Wohl,« fiel Gittli hastig ein, »er hat auch einen Namen gerufen, wie ich gar nit heiß.«
»Siehst du!«
»Mein, jetzt tut er mich dauern!« Sie streckte Herrn Heinrich die Hand hin. »Saget ihm doch, daß ich ihm nimmer harb sein will, gar nimmer!«
»Ja, Kind, das sag ich ihm, und das wird ihn freuen. Mußt auch mit keinem davon reden, weißt, die Leut täten ihn drum anschauen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber komm, setz dich ein Weil! Ich bin ganz allein, wir wollen ein wenig haimgarten!«
Schüchtern setzte sie sich auf die Bank und strich an ihrem Rock die Falten glatt.
»Wie alt bist du, Gittli?«
»Im letzten Anderherbst bin ich fünfzehn Jahr geworden.«
»Fünfzehn Jahr?« wiederholte Herr Heinrich. Und nach kurzem Besinnen sagte er: »Weißt du nicht auch den Tag, an dem du geboren bist?«
»Wohl, Herr, am heiligen Pelagitag.«
Betroffen blickte der Propst das Mädchen an. Am heiligen Pelagitag? Das war zehn Tage nach der Ampfinger Schlacht und einen Tag nach dem Brande der Burg Falkenberg! Hier hatte die Natur das seltsame Spiel getrieben, oder – - Tief atmend schüttelte Herr Heinrich den Kopf und fragte: »Wo seid ihr daheim gewesen?«
»In Dorfen, Herr, wir haben aber nit im Ort gehauset. Unser Haus ist einödig im Wald gestanden, denn der Vater hat gekohlet.«
»Kannst du dich noch besinnen auf Vater und Mutter?«
Sie sah ihn mit feuchten Augen an. »Kann denn eins Vater und Mutter vergessen? Ich bet doch alle Tag dafür, und da seh ich sie allweil wieder dastehen vor mir, der Vater, der wie ein Baum gewesen ist, wenn das Mies dran hängt, ja, so einen langen Bart hat er gehabt, und wisset, Herr, er hat schon ein lützel gegrauelet. Aber die Mutter hat noch allweil Zöpf gehabt wie ein Junges. Und so gut schauen hat sie können, und eine Hand hat sie gehabt, wenn sie einen damit angerührt hat, das ist einem völlig gewesen, wie an einem Abend, wenn's recht warmelet und es streicht ein Lüftl an einen hin. Und so viel lieb hat sie mich mögen! Ich glaub, es hat noch keins auf der Welt eine so gute Mutter gehabt, wie ich!« Sie fuhr sich mit dem Arm über die Augen.
Herr Heinrich erhob sich, trat auf Gittli zu und nahm ihre Wangen in seine Hände. »Diese Mutter nimmt dir keiner mehr, und wenn er dir auch eine andere geben könnte!«
Sie sah ihn fragend an.
Frater Severin erschien. »Der Bub ist daheim.«
»Er soll kommen.«
Walti trat in die Stube, und während Herr Heinrich leise mit ihm redete, erhob sich Gittli und schlich zur Türe. Draußen fuhr sie sich noch einmal über die Augen, dann ging sie der Jägerhütte zu. Ehe sie das kleine Haus erreichte, blieb sie stehen, als besänne sie sich. Und nun eilte sie dem Pfad entgegen, der in das Steintal führte. Sie wollte die verlorenen Veilchen suchen.
Als sie die Wende des Steiges erreichte, fuhr sie erschrocken zurück. Dort auf dem Stein saß immer noch der Chorherr; und in seinen Händen hielt er ihren Kranz und blickte darauf nieder mit regungslosen Augen. Jetzt hörte sie auch Tritte hinter sich; dort kam der Bub mit zwei Bergstöcken und einer Kienfackel. Lautlos schlüpfte sie in eine Staude und wartete. Sie hörte, wie die beiden einige Worte wechselten und sich entfernten.
Nun kam sie wieder hervor und begann zu suchen. Das Kränzl wollte sich nicht finden lassen.
»Jetzt hat er's mitgenommen!« stammelte sie; aber sie zürnte nicht. »Vielleicht hat er eine Freud dran?« Und einem, der so viel Schmerzen getragen, war eine Freude zu gönnen. Weib und Kind verlieren müssen, in einer Nacht! Wer hätte mit ihm Erbarmen fühlen sollen, wenn nicht sie? Hatte sie doch Vater und Mutter auch an einem Tag verloren – damals, als im Land das große Sterben umging.
Lange, lange stand sie und blickte dem Chorherren nach, wie er bald im Gewirr der Felsblöcke verschwand, wieder auftauchte, zwischen dunklen Gebüschen sich verlor und wieder erschien.
Der frischer ziehende Abendwind spielte mit ihrem lockigen Haar. Unter ihr im Bergwald rief ein Kuckuck, der erste, der mit dem Frühling gekommen war. Und über den Halden begannen die steilen Wände, zwischen denen der Schnee nur noch in einzelnen Schluchten hing, mit warmer Röte zu glühen.