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Nach Mitternacht bewölkte sich der Himmel, und ehe der Tag noch graute, begann ein warmer Regen zu fallen. Bei Anbruch der Dämmerung kamen die Knechte. Pater Desertus saß noch immer auf der Schwelle der Jägerhütte, mit bleichen, müden Zügen, die Augen heiß umrändert. Als er die Knechte gewahrte, erhob er sich und atmete tief, als wäre ihm die Nähe wachender Menschen willkommen. Einer der Knechte fragte ihn, was sie zu tun hätten. Er meinte, sie sollten sich, da Herrn Heinrich der Pirschgang auf den Auerhahn verregnet wäre, ruhig verhalten, bis die Schläfer von selbst erwachen würden. Dann trat er in die Hütte. Gittli war schon wach, sie stand über Haymo gebeugt, der noch immer ruhig schlief; als sie den Chorherren kommen hörte, trat sie scheu zurück, lispelte den Morgengruß und verließ die Hütte. Nach einer Weile kam sie wieder, gewaschen, mit frisch gezopften Haaren; sie schürte auf dem Herd ein Feuer an und ging geräuschlos ab und zu, um saubere Ordnung in der Stube zu machen. Als sie wieder einmal Wasser holte, wurde drüben an der Herrenhütte ein Fensterladen aufgestoßen.
»Guten Morgen, Gittli!« rief Herr Heinrich.
Sie stellte die Wanne nieder und lief hinüber.
»Nun, wie geht es ihm?«
»Er schläft noch allweil, Herr, und ich mein, der Schlaf hat ihm gut getan, denn er hat schon Farb im Gesicht.«
»Dann wird er wohl auch bald erwachen. Freust du dich schon?«
»Und wie!«
»Gelt, und du freust dich auch schon auf seinen Dank?«
»Den hab ich schon, Herr!«
»So?«
»Ja, gestern auf die Nacht, da hat er ein lützel reden können, und da hat er mir gleich ein Vergeltsgott gesagt.«
»Aber ich meine, du hoffst doch wohl noch auf besseren Dank?« lächelte Herr Heinrich, während er sich breit ins Fenster legte.
Sie sah mit großen Augen zu ihm auf. »Was sollt ich noch wollen? Ich hab mein Vergeltsgott.«
Er betrachtete sie mit freundlichem Blick. »So? So?« Und leise zuckte es um seinen Mund, als er sagte: »Freilich, mehr kannst du nicht verlangen von ihm. Aber jetzt geh nur, ich komme gleich hinüber.«
Hurtig lief Gittli davon, um aus dem Regen wieder unter Dach zu kommen.
Über diesem Zwiegespräch war Walti aus dem Schlaf erwacht. Er rieb sich erschrocken die Augen, als er den hellen Morgen schimmern sah, kletterte die Leiter empor und rief: »Frater! Frater! Stehet auf, der Herr ist wach!«
Frater Severin fuhr aus dem Heu wie der Hase aus dem Krautacker, wenn der Bauer kommt. Er packte seinen Schnarchgenossen an der Brust. »Herr Vogt! Auf! Auf! Auf!«
Herr Schluttemann drehte sich auf die Seite. »Aber Cäcilia!«
»Auf! Auf! Auf!«
»Aber Cäcilia!« wimmerte Herr Schluttemann. »Geht denn der Teufel schon wieder los? Alle Tag und alle Tag! Nicht einmal ausschlafen soll der Mensch können! Kreuz Teufel! Laß mich in Ruh! Oder ich fahr dir noch einmal mit groben Pratzen in die Zöpf!«
Frater Severin schüttelte seufzend den Kopf, überließ den Vogt seinem grausamen Traum und stieg mit starren Beinen über die Leiter hinunter.
Herr Schluttemann hatte sich tief eingewühlt in das Heu, als umschlänge er mit seinen Armen das Kissen, das er an jedem Morgen fest über die Ohren zu drücken pflegte, wenn Frau Cäcilia ihre Predigt begann. Die lautlose Ruhe, die ihn plötzlich umgab, mochte ihm als etwas Ungeheuerliches erscheinen. Er richtete sich erschrocken auf und starrte mit großen, runden Augen im Dämmerlicht des Heubodens umher.
»Ach sooo!« flötete er, als er das stille Wunder langsam zu begreifen begann. Dann lachte er vergnügt vor sich hin. »Jetzt kann geschehen, was will, jetzt schlaf ich mich einmal aus!« Sprach's, legte sich wieder auf die Seite und streckte sich behaglich: »Aaah!« Eine kleine Weile, und er schlief schon wieder.
»Herr Vogt!« rief Frater Severin in der Küche. Herr Schluttemann hörte nicht.
»Vogt! Vogt! Wo seid Ihr?« rief Herr Heinrich selbst. Vogt Schluttemann hörte nicht. »So laßt ihn schlafen!« lächelte der Propst. »Das irdische Vergessen ist über ihn gekommen.« Er drohte mit dem Finger zum Heuboden hinauf: »Wartet nur, Vogt, der Morgen kommt schon wieder, da Euch die Donner des Gerichtes wecken! Dies irae, dies illa!«
»Jactat scopas turturilla!« kicherte Frater Severin, die zweite Zeile der ernsten Hymne in seinem Küchenlatein lustig parodierend, und ließ sich vor dem Herde nieder, um mit vollen Backen in die Kohlen zu blasen.
Als Herr Heinrich hinüberging zur Jägerhütte, kam ihm Gittli entgegengelaufen. »Herr, Herr! er wachet schon!« stammelte sie. »Mein Gott, und so viel sorgen tut er sich, Ihr könntet ihm harb sein, weil ihm so was hat geschehen können.« Die Freude redete aus ihr, aber es war eine zitternde Freude; nun konnte Haymo sprechen, nun mußte er sagen, was geschehen war.
Sie blieb, als Herr Heinrich die Hütte betrat, an der Türe stehen, Freude im Herzen, Angst in der Kehle.
Haymo saß aufgerichtet in seinem Heubett. »Herr Heinrich!«
Der Propst legte ihm die Hand auf den Mund. »Du sollst nicht sprechen, Haymo, ich will es so! Lege dich zurück und laß mich nach deiner Wunde schauen! Dann sollst du essen und trinken und wieder schlafen, und wenn du dann gestärkt erwachst, dann setz ich mich zu dir, und du erzählst mir alles. Und mach dir keine dummen Sorgen! Du bist Haymo, mein treuer Jäger! Hast ja deine Treue mit deinem Blut besiegelt.«
»Herr Heinrich –«
»Wirst du schweigen!« schalt der Propst und drückte den Jäger mit sanfter Gewalt auf das Kissen zurück.
Gittli atmete auf; und da sie in der Jägerhütte nun entbehrlich war, lief sie hinüber in das Herrenhaus.
»Frater? Kann ich Euch nit helfen?«
»Ei freilich, mein Dirnlein, schürz dich, tummel dich!« Und im Hui hatte er ein Dutzend Aufträge für Gittli bereit.
Sie griff mit flinken Händen zu, trug alles herbei, was der Frater in der Küche brauchte, brachte Ordnung in die Schlafkammer und machte die Herrenstube spiegelblank.
Draußen ›schnürelte‹ der Regen, und die Knechte, die unter dem vorspringenden Dach der Herrenhütte an die Balkenwand gelehnt standen, sangen mit leisen Stimmen, um sich die nasse Zeit zu vertreiben.
Als Herr Heinrich mit Desertus aus der Jägerhütte trat, sagte er: »Dein Aussehn ist schlimm, Dietwald. Die Nachtwache hat dich erschöpft.«
»Ja, Herr!«
»Aber ich hoffe, es hat dich in dieser Nacht dein Gespenst in Ruhe gelassen?«
»Meint Ihr?«
»Dietwald!«
»Es weilte mit mir unter einem Dach die ganze lange Nacht.«
Herr Heinrich schwieg, den Pater mit forschendem Blick betrachtend. Dann sagte er: »Komm, lege dich schlafen, du bist ermüdet.«
Sie betraten die Herrenhütte; Desertus ging in die Schlafkammer und warf sich auf das Lager, doch seinen Augen war es anzusehen, daß sie den Schlummer nicht finden würden. Herr Heinrich füllte einen Becher mit Wein und goß dazu einige Tropfen aus einer Phiole, die er seinem Arzneikästlein entnommen hatte. »Trink, Dietwald, das wird dir Schlaf bringen!«
Desertus leerte den Becher. Und es währte nicht lang, so lag er mit geschlossenen Lidern, tief atmend, in schwerem Schlummer.
Herr Heinrich wollte ins Freie treten, da sah er Gittli in der Küche schaffen. Ein Gedanke schien ihn zu befallen, er schüttelte wie abwehrend den Kopf, doch immer wieder kehrte sein Blick zu dem Mädchen zurück.
»Gittli!«
Sie säuberte die Hände an der Schürze und kam auf ihn zugegangen. »Ja, Herr?«
»Erzähl mir doch, hast du dich mit dem Chorherren auch gut vertragen die lange Zeit vom Abend bis zum Morgen?«
»Allweil gut!« meinte Gittli mit scheuem Lächeln. »Der Pater hat gewachet, und ich hab geschlafen.« Als müßte sie sich entschuldigen, fügte sie bei: »Ich bin so viel müd gewesen.«
»Immer geschlafen? Die ganze Nacht?«
»Gott behüt, Herr! Diesmal bin ich schon aufgekommen.«
»Nun? Und dann habt ihr wohl miteinander Haimgart gehalten, gelt?«
»Aber Herr!« sagte sie ganz erschrocken. »Wie tät ich mir denn einfallen lassen, daß ich haimgarten wollt mit so einem Herrn. Ich bin allweil gelegen und hab keinen Muckser getan.«
»Und er? Er wird doch mit dir geredet haben?«
»Kein Sterbenswörtl! Ich glaub, er hat mich gar nit gesehen. Allweil ist er gesessen und hat blinde Augen gemacht, als tät er einwendig schauen.«
»Einwendig schauen?« wiederholte Herr Heinrich und nickte vor sich hin. »Aber sag, hast du ihn schon öfters gesehen?«
»Zweimal, Herr! Das erstemal drunten am Seesteig.« Sie stockte; denn sie durfte Herrn Heinrich doch nicht sagen, welchen Schreck sie damals empfunden hatte – Schreck und Furcht vor einem Gottesmann! Leise sprach sie weiter: »Und das andermal am Ostertag.« Da kamen ihr die Tränen.
»Was hast du, Gittli, warum weinst du?«
»O mein Gott, schauet, Herr, er ist dazugekommen, wie unser Kindl hat verscheinen müssen, unser liebes, gutes Kind!«
»Komm, Gittli, komm, setz dich!« Er führte sie zu einer Bank. »So! Und jetzt sage mir, wie war es mit dem Kind?«
Unter Tränen erzählte sie in ihrer schlichten Weise von Mimmidatzis kurzem Leben. »Schauet, Herr, wie ein Lichtkäferl ist das Kind gewesen in unserem Sorgenhaus, wie ein Blüml im Winter, und in aller Herzensnot wie ein Stückl ewiges Brot, von dem man allweil hat zehren können, und es ist doch nit weniger worden. Und jetzt hat's verscheinen müssen! Warum denn? Warum?«
Frater Severin klapperte am Herd mit seinen Pfannen; ein Zittern war ihm in die Hände gekommen; auch mußte ihm was ins Auge geflogen sein, denn er wischte immer, aber es wollte nicht helfen.
Herr Heinrich hielt die Hände des Mädchens gefaßt und blickte tiefbewegt in Gittlies Gesicht, das von Tränen überronnen zu ihm emporgerichtet war, wie einer tröstenden Antwort harrend.
Hätte nicht das Feuer geknistert, der Regen über dem Schindeldach geplätschert und Herr Schluttemann auf dem Heuboden ein klein wenig geschnarcht, es wäre ganz still gewesen in der Küche.
»Warum? Ja, warum?« Herr Heinrich setzte sich an Gittlis Seite. »Das fragst du? Das weißt du nicht? So ein kluges Dirnlein wie du? Geh doch, Gittli, wie kannst du nur so fragen?«
Sie wurde verlegen und suchte nach Worten. »Weil ich's halt doch nit weiß, Herr!«
»Aber freilich weißt du es! Welch ein liebes, holdes Kind euer Mimmikätzlein war, das weißt du doch, gelt?«
»Ja, Herr, ach ja, ja, ja!«
»Und nun denke dir: wenn das Kind hätte leben müssen und Schmerzen leiden und siechen, und böse Menschen hätten es gestoßen, getreten und geschlagen, und es hätte Unglück über Unglück erfahren, Kummer über Kummer, Not und Elend? Und du und des Kindes Mutter, ihr hättet das alles mit ansehen müssen? Hätt euch das im Herzen nicht weher getan als jetzt, weil es verschienen ist?«
»Ach Gott!« klagte Gittli und wehrte mit beiden Händen, als wollte sie den Gedanken, daß ihr Mimmidatzi hätte leiden müssen, gar nicht eindringen lassen in ihr Herz.
»Gelt? Da ist halt wieder einmal der liebe Herrgott gescheiter gewesen, als wir alle miteinander. Der hat sich gedacht: nein, so was laß ich nicht kommen über das liebe gute Kind, da nehm ich es lieber zu mir herauf in meinen Himmel und mach ein Englein aus ihm, damit es in Freude und Glückseligkeit hinunterlachen kann auf sein Heimatl, und damit es ein fester Schutzengel sein soll für seine lieben Leut!«
»O mein, brauchen täten wir freilich einen!« seufzte Gittli tief auf; und zu Herrn Heinrich emporblickend sagte sie: »Schauet, Herr, ich hab mir allweil so was gedacht, aber ich hab mir's halt völlig nit sagen können.«
»Gelt, siehst du, daß du es weißt!«
»Ja, und es muß auch wahr sein, denn hätt ich den Schutzengel nit gehabt, ich hätt den Haymo nimmer finden können, und jede Stund derzeit, Tag und Nacht, hab ich das Kind allweil bei mir sitzen sehen, und allweil hat's mich angelacht. Gelt, Herr Heinrich, unser Herrgott ist doch ein guter, guter Mann?«
»Das mein ich! Und drum sei gescheit, Gittli, verlaß dich nur auf ihn und wisch dir die Zähren ab! Und dann laß dir vom Frater Severin eine tüchtige Schüssel voll Suppe geben, trag sie hinüber zum Haymo und sorge dafür, daß er tüchtig ißt.«
Jetzt lächelte Gittli. »Da seid nur ganz ruhig, Herr Heinrich, ich will schon hineinstopfen in ihn, was Zeug hat!«
Frater Severin kam bereits mit der Schüssel. »Nimm, Dirnlein, nimm!« flüsterte er und zwinkerte mit freundlichen Augen. »Die besten Bröcklein hab ich für ihn gefischt.«
»Vergeltsgott!« sagte sie, nahm die Schüssel und ging mit achtsamen Schritten davon, die Augen starr auf die Suppe gerichtet, um nur ja keinen Tropfen zu verschütten.
Herr Heinrich blickte ihr lächelnd nach. »Warum? Warum? Du alte, ewig menschliche Frage! Wärst du doch in jeder Brust so leicht zu geschweigen, wie in dem Herzen dieses Kindes!«
Als er die Herrenstube betreten wollte, fühlte er einen Kuß auf seiner Hand. Frater Severin stand vor ihm mit brennender Nase.
»Wie, Bruder? Auch du gerührt? Mens agitat molem?« lachte Herr Heinrich. »Aber es hilft dir nichts! Der Bauch muß weg.«
»Herr Heinrich!« schmollte der Frater und zeigte eine gekränkte Miene. »Wenn Ihr meinet, daß ich es deshalb tat, dann –« Er streckte den Bauch heraus und trommelte mit beiden Händen drauf. »Dann nehmet nur gleich ein Messer und schneidet zu! Ich will stillhalten!«
»Bruder! Bruder!« drohte Herr Heinrich. »Wenn ich dich beim Wort nähme? Doch sei beruhigt, ich tu's nicht. Es ginge dir ans Leben. Und wer brächte mir dann die Suppe? Denn mich hungert, Bruder!«
Frater Severin rannte, daß die Kutte flog.
Inzwischen hatte Gittli die Jägerhütte erreicht, in welcher Walti plaudernd bei Haymo saß. »Da schau,« sagte sie, »was ich da jetzt bring!«
Haymo richtete sich auf. »Gittli!« Hätte er tausend Worte gesprochen, er hätte mehr nicht sagen können, als was der Klang dieses Namens verriet und was der leuchtende Blick seiner Augen sprach.
»Du! Jetzt tu nit reden!« drohte sie. »Jetzt mußt du essen! Und alles! Bis auf das letzte Bröserl!« Sie setzte sich auf den Rand des Lagers und zog das Knie herauf, um eine Stütze für die Schüssel zu haben. Er begann zu essen, und bei jedem Löffel, den er nahm, sah er zu ihren Augen auf; und immer wieder nickte sie ihm zu und lächelte: »Gelt, das schmeckt?«
Walti steckte die schnuppernde Nase in den Suppendampf. »Kruzi, Kruzi, wenn ich allweil solche Sachen kriegen tät, da ließ ich mir auch eins auf den Buckel stechen von so einem schlechten Kerl!« Er griff mit beiden Händen zu, denn die Schüssel wackelte bedenklich zwischen Gittlis Händen. »Was machst du denn? So halt doch fest!« Und zu Haymo sich wendend, fragte er: »Sag, Jäger, du mußt aber doch wissen, was es für einer war?«
Haymo schüttelte den Kopf. »Sein Gesicht war angerußt.«
Tief atmete Gittli auf; dann sagte sie zu Walti: »Geh, tu den Becher spülen! Jetzt muß er den Wein kriegen!«
Der Bub nahm den Becher vom Tisch und rannte hinaus.
»Haymo,« stammelte Gittli mit raschen, leisen Worten, »gelt, wenn sie dich ausfragen, nachher sag's nit, daß es beim Kreuz geschehen ist!«
»Warum nit?«
Sie senkte den Kopf. »Weil ich dich bitten tu!«
Er nickte vor sich hin. »Ich weiß schon, wie du's meinst! Gelt, weil sie Gottesleut sind? Und müßten sich kränken, wenn sie hören täten, daß ihr Herrgott so was hat geschehen lassen.« Ein bitters Lächeln zuckte um seinen Mund. »Zu mir hat er reden mögen! Warum denn hat er nit auch zum anderen sagen können: tu's nit, tu's nit?«
Gittli hing an ihm mit angstvollen Augen; sie verstand den Sinn seiner Worte nicht. »Haymo –«
Sie konnte nicht weitersprechen, denn Walti kam zurück. Mit zitternder Hand reichte sie dem Jäger den gefüllten Becher, den er dürstend leerte, mit dem Becher zugleich ihre Hand gefangen haltend. Als er dann aufblickte zu ihr mit glänzenden Augen, flüsterte er: »Nein, Gittli, nein, ich darf nimmer fragen: warum? Ich weiß schon, warum er's hat geschehen lassen. Ich weiß es!« Er zog ihre Hand mit dem Becher an seine Brust.
Sie ließ ihn gewähren und stand, als wüßte sie nicht, wie ihr geschähe. Und da er ihre Hand nun freigab, blickte sie auf, wie erwachend, nahm wortlos die Schüssel und ging zur Türe.
»Gittli!« rief er ihr leise nach. »Kommst du bald wieder?«
»Wohl, Haymo!« lispelte sie und verließ die Hütte.
»Hohohoho!« lachte Walti auf, klemmte die Hände zwischen die Knie und schüttelte vor Vergnügen die Schultern.
»Was hast du denn, dummer Bub?«
»Ich weiß auch was! Hohohoho! Ich weiß auch was!« Kichernd steckte Walti den Kopf in den Winkel zwischen Bett und Bank.
Draußen vor der Hütte stand Gittli, fuhr mit dem Rücken der freien Hand über ihre heißen Wangen und stammelte: »Was weiß er denn? Was kann er denn wissen?« Zögernd ging sie der Herrenhütte zu.
Einer der Knechte kam ihr entgegen; er hätte ihr eine Botschaft auszurichten. Ihr Bruder, der Sudmann, wäre in der Nacht zu den Almen gekommen und hätte gejammert, daß seine Schwester seit zwei Tagen abginge, und daß kein Mensch wüßte, wohin sie gekommen wäre. Als ihm die Knechte erzählten, daß seine Schwester den Jäger todwund gefunden und in der Hütte gepflegt hätte, bis die Herrenleute kamen, da hätte er sich vor Staunen kaum fassen können; jedes Wort, das er gesprochen, wäre ein Lob für seine Schwester gewesen; und sie sollte nur ja in der Hütte bleiben, solang die Herrenleute sie nötig hätten; er selbst wäre gern noch zu ihr hinaufgestiegen in die Röt; aber da er nun wüßte, daß sie wohlauf und sicher geborgen wäre – hätte er gesagt – so wollte er lieber wieder heimlaufen, um die Schicht im Sudhaus nicht zu versäumen. Er täte die Schwester recht schön grüßen lassen.
Mit Bangen und Zittern hörte Gittli diese Botschaft an, die sie nicht zu verstehen vermochte. Wie wäre es ihrem kindlichen Sinn auch beigefallen, daß Wolfrat diesen Gang zur Alm, wo er die Knechte zu finden hoffte, nur getan hatte, um einen drohenden Verdacht von sich abzuwenden. Wenn er die Schwester hatte gehen lassen, ohne sich weiter um ihr Verbleiben zu kümmern, dann mußte er wissen, weshalb sie gegangen war, wissen, wo und weshalb sie blieb.
Als Gittli die Herrenhütte betrat, kam sie gerade recht, um Herrn Schluttemanns Auferstehung mitzufeiern. Sein Kopf erschien über dem Rand des Heubodens. Wo aber hatte er das Gesicht gelassen, das er sonst an jedem Morgen zu zeigen pflegte? Jenes zornbrennende Gesicht mit den finster gerunzelten Brauen, den rollenden Augen und dem gesträubten Schnauzer? Er schien sich verwandelt zu haben in diesem langen Schlaf. Sanft hing ihm der Schnauzbart über den Mund, lustig blitzten seine Augen, und mit einem Gesichte, lachend bis zu den Ohren, stieg er über die Sprossen nieder, Frater Severin meinte: wie der strahlende Erzengel Gabriel herunterkommt über die Himmelsleiter.
Auf der Erde angelangt, streckte und dehnte sich der Vogt, rieb vergnügt die Hände, schüttelte die Heufäden von seinem Wams, schlug den Frater mit der flachen Hand auf die breite Schattenseite, daß die ganze Kutte wackelte, kneipte Gittli in die Wange und trat mit fröhlichem Gesicht in die Herrenstube. Und während nun Stunde um Stunde verging, hörte man seine lachende Stimme an allen Ecken und Enden, bald im Herrenhaus und bald in der Jägerhütte. Hier wurde er freilich von Herrn Heinrich ausgetrieben, um Haymo einen ruhigen, stärkenden Schlaf zu sichern.
Einige Stunden nach Mittag versiegte der Regen, die Wolken klüfteten sich, und die Sonne warf, ehe sie hinter die Berge sank, noch einen goldigen Schein über die beiden Hütten.
Herr Heinrich nahm die Armbrust hinter den Rücken und stieg zum Kreuzwald empor; der Vogt machte sich mit den Knechten auf die Suche, und Desertus wanderte einer nahen Felshöhe zu; dort sah ihn Gittli auf einem Steinblock sitzen, bis der Abend dämmerte. Haymo schlief, und Gittli weilte mit Frater Severin und Walti auf der Bank vor der Hütte, mit halbem Ohr nur hörend, was die beiden plauderten; in Sorg und Unruh glitten ihre Blicke immer wieder hinüber nach dem Steintal; die bitterste Angst war aber doch von ihr genommen. Sie hatte jetzt einen Schutzengel, der droben im Himmel sorgte für sie, für den Wolfrat und die Seph. Und was der Bruder auch gesündigt – sie hatte es doch ein lützel wieder gut gemacht.
Der erste, der zurückkam, war Herr Schluttemann. Er hatte nichts gefunden, rein gar nichts! Der Regen hatte Haymos blutige Fährte und die Schweißspur des verschleppten Steinbocks ausgelöscht. Ja, der Schutzengel!
Bei Anbruch der Nacht kam der Propst mit Pater Desertus zurück. Herr Heinrich hatte eine Fehlpirsch auf den Auerhahn getan. Beim Niederstieg hatte er einen Luchs aufgegangen und dem fliehenden Raubtier einen Bolzen nachgeschickt. Nun sollten zwei der Knechte während der Nacht hinuntersteigen zum Kloster, um die beiden Schweißhunde zu holen: die Hel und den Weckauf. Einem der Knechte befahl Herr Heinrich, im Hause des Sudmanns vorzusprechen, um für Gittli mitzubringen, was sie nötig hätte an Gewand und Wäsche. Bald nachdem der Abendimbiß genommen war, wurde es still in den beiden Hütten; Gittli und Walti wachten bei Haymo; Herr Heinrich, der vor Tag wieder auf den Beinen sein wollte, hatte sich zur Ruhe begeben, und Desertus mußte seinem Beispiel folgen. In der Küche saßen Herr Schluttemann und Frater Severin am Herd. Als der Vogt meinte, daß Herr Heinrich schon in Schlaf gesunken wäre, verließ er die Hütte und holte das zweite ›Pärchen‹ aus dem Versteck. Schwer seufzend wandte Frater Severin sich ab, als Herr Schluttemann die eine der beiden Steinflaschen zwischen die Knie nahm, um mit hochwichtiger Sorgfalt den mit Wachs verklebten Pfropf zu lösen. Einen langen, langen Zug tat der Vogt, dann reichte er die Flasche dem Bruder. »Tauchet an. Frater!«
Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort.
Herr Schluttemann erschrak. »Bruder? Seid Ihr krank?«
»Nein. Aber ich will nit trinken. Heut treib ich keine Heimlichkeit. Herr Heinrich war so gut zu mir.«
»Tatata! Das ist eine Ausred! Wer nicht trinken will, hat entweder ein böses Stück getan oder will's begehen. Zeiget, daß Ihr ein unschuldig Herz habt! Schluck, schluck!«
»Ich hab keinen Durst!« sagte Frater Severin und seufzte tief.
»Tatata! Durst? Durst? In unserer unschuldigen Zeit trinken nur zu viel ohne Durst. Und billig! Man trinkt für den zukünftigen. Kauft in der Not, so sagen die Quacksalber, dann habt ihr's im Tod!«
»Jetzt hab ich's einmal gesagt,« seufzte Frater Severin, »ich trink nit!«
»Tatata!« Herr Schluttemann faßte des Fraters Kutte und zog ihn zu sich nieder. »Kommt her, Frater, setzet Euch zu mir, ich will Euch ein Lidl singen, das soll Euch ins Gewissen reden!« Er schlang seinen Arm um den des Fraters, schwenkte die Flasche und sang mit leiser Stimme:
»Wohlauf, lieb Bruder und Gespiel,
Quem sitis vexat plurima,
Ich weiß ein Wirt im Tale kühl,
Qui vina habet aurea!
Er zapfet fleißig uns den Wein
De dolio in cantharum!
Drum wollen wir auch fröhlich sein
Ad noctis usque terminum!
Wer greinen oder murren will,
Ut canes decet rabidos,
Der mag wohl bleiben aus dem Spiel,
Ad porcos eat sordidos!«
Schon die zweite Strophe hatte Frater Severin mit wiegendem Kopfe mitgesummt; und jetzt ergriff er die Flasche und sog und schluckte, aber schon gehörig! Dann freilich, als er absetzte, machte er ein kummervolles Gesicht. »Jetzt hab ich halt doch getrunken! O Mensch, Mensch! Was bist du für ein Hafen voll teuflischer Suppe! Pfui!« Mißbilligend schüttelte er den Kopf, setzte die Flasche an und trank. »Jetzt geht's schon in einem hin!«
Ein paar feuchte Stunden verrannen den beiden, bis sie es zuwege brachten, daß die Flaschen einen trockenen Boden bekamen. Als Herr Schluttemann sich erhob, merkte er, daß er nicht mehr völlig Meister seiner Beine war – er merkte es, als er mit der Nase schon auf der Erde lag.
»En jacet in trexis!« jammerte Frater Severin. »Sehet Ihr, Herr Vogt, sehet Ihr! Das ist Gottes Strafe, weil Ihr meine Seel in des Teufels Schlinge getrieben habt.«
Herr Schluttemann krabbelte sich mühsam an des Fraters Kutte in die Höhe. »Glaubet mir, Frater, das ist seiner Lebtag kein guter Fuhrmann, der nicht auch einmal umwerfen kann!« Die Zunge wurde ihm schwer. »Und Ihr wisset doch, wie der gelehrte Philosoph sagt:
Wirft uns der Wein schon nieder,
Gehn wir morgen doch zum ihm wieder.«
Frater Severin hielt die Leiter, und Herr Schluttemann tappte über die Sprossen hinauf ins Heu.