Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neununddreißigstes Kapitel

Das Duell

Bianca hatte ihren Mann nicht mehr gesehen, seitdem sie zusammen von dem ›Runden Teiche‹ heimgekehrt waren. Sie aß am Abend außer dem Hause, und am nächsten Morgen vermied sie eine Begegnung. Als Hilarys Gepäck heruntergebracht und die Droschke vorgefahren war, schlüpfte sie zufluchtsuchend in ihr Zimmer. Bald darauf hörte sie das Geräusch von Schritten, die den Korridor heraufkamen und vor ihrem Zimmer halt machten. Er pochte. Sie gab keine Antwort.

Ein Lebewohl wäre Hohn gewesen! Mochte er gehen mit den ungesagten Worten! Und als ob ihr Gedanke seinen Weg durch die geschlossene Tür gefunden hätte, vernahm sie, wie die Schritte sich wieder entfernten. Gleich darauf sah sie ihn mit gesenktem Haupt zur Droschke gehen, sah wie er sich bückte und Miranda liebkoste. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hörte, wie der Wagen davonrollte.

Das Herz ist wie das Antlitz einer orientalischen Frau – warm und glühend hinter vielen Schleiern und Hüllen. Bei jeder neuen Berührung von den Fingern des Lebens kommt ein neues Stückchen, eine neue Rundung, ein Fältchen zum Vorschein, und wird gewiß zu allerletzt – vielleicht auch niemals – von dem einen bemerkt, dem sie zu eigen sind.

Als der Wagen davongefahren war, erwachte in Biancas Seele ein Gefühl des Unabänderlichen, und geheimnisvoll verwoben mit jenem herben Weh, eine Art bitteren Mitleids. Wie würde es jenem unglückseligen Geschöpf nun ergehen, da er fort war? Würde sie völlig auf Abwege geraten – bis sie eines jener armen Wesen geworden, wie die Gestalt des ›Schatten‹, die sich unter den Laternen auf den Straßen herumdrücken? Aus dieser Betrachtung, die bitter war wie der Geschmack der Aloe, glühte in ihr eine Sehnsucht nach etwas Tröstlichem, Gütigem auf. Nach irgend einem Ausdruck jenes Mitleidinstinktes, der tief in jeder menschlichen Brust, sei es darin auch noch so unharmonisch, ruht. Aber selbst in diese Sehnsucht mischte sich das Verlangen, sich vor sich selbst zu rechtfertigen und zu beweisen, daß sie über Eifersucht erhaben sein konnte.

So machte sie sich auf den Weg nach der Wohnung des kleinen Modells.

Ein Kind ließ sie in den düstern Flur eintreten, der als Diele diente. Die vielerlei Empfindungen, die Biancas Seele erfüllten, während sie draußen vor der Tür des Mädchens stand, waren ihr vom Gesicht nicht abzulesen, das seinen gewohnten, beherrschten, halb spöttischen Ausdruck zeigte.

Die Stimme des kleinen Modells rief leise: »Herein.«

Das Zimmer war in Unordnung, als ob es bald geräumt werden sollte. Ein geschlossener, verschnürter Koffer stand in der Mitte auf der Erde; das Bett lag offen da in der ganzen Ärmlichkeit seiner buntgewürfelten Bezüge. Das Steingutservice des Waschständers war umgestülpt. Neben diesem Waschständer, den Hut auf dem Kopf – jenen Hut mit den roten Rosen und der kleinen Pfauenfeder – stand das kleine Modell in der fassungslosen Haltung eines Menschen, der einen Kuß erwartet hat und einen Schlag bekommt.

»Sie ziehen also hier aus?« fragte Bianca ruhig.

»Ja,« murmelte das Mädchen.

»Mögen Sie diese Gegend nicht? Haben Sie es zu weit in die Stadt?«

Wieder antwortete die Kleine: »Ja.«

Biancas Augen wanderten langsam über die blaugeblümten Wände und rostroten Türen. Durch die enge Stickluft dieses in Unordnung geratenen Zimmers drängte sich ein starker Duft von Moschus und Veilchen hervor, als ob eine billige Essenz hier wie ein Weihopfer verschüttet worden wäre. Eine kleine, leere Parfümflasche stand vor dem armseligen Spiegel.

»Haben Sie schon ein neues Quartier gefunden?«

Das kleine Modell schob sich dichter an das Fenster. In ihr scheues, verdutztes Gesicht kam etwas verhohlen Achtsames.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nich, wo ich hingehe.«

Als wollte sie deutlicher sehen, hob Bianca ihren Schleier. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie mich immer bereit finden werden, Ihnen zu helfen.«

Die Kleine gab keine Antwort, aber plötzlich stahl sich durch ihre schwarzen Augenwimpern ein Blick zu ihrem Besuch hinauf. »Kannst du,« schien er zu sagen, »du – mir helfen? Oh nein; das glaub ich nicht!« Und als hätte jener Blick sie verwundet, sagte Bianca mit schneidender Ruhe: »Es ist natürlich ganz und gar meine Aufgabe, jetzt nachdem Mr. Dallison fortgereist ist.«

Das kleine Modell nahm diese Worte mit einem bebenden Zucken auf. Es war, als ob ein Pfeil ihr den weißen Hals durchbohrt hätte. Einen Augenblick lang schien es, als wolle sie zu Boden sinken, aber sich an das Fensterbrett klammernd, blieb sie gerade stehen. Ihre Augen irrten, wie bei einem Tier, das Schmerzen hat, hier-, dort-, überallhin und blieben dann regungslos an ihrem Besuch hängen. Dieses Anstarren, das nichts zu sehen, sondern nur intensiv zu empfinden schien, hatte etwas Unheimliches. Allmählich kam in die Lippen, Augen und Wangen die Farbe zurück; sie schien mit ihrem Suchen zu einem befriedigenden Schluß gekommen zu sein.

Und plötzlich begriff Bianca. Das also bedeutete der gepackte Koffer, das in Unordnung geratene Zimmer! Er wollte sie doch mitnehmen!

In dem Aufruhr, den diese Entdeckung in ihr entfachte, entschlüpften ihr zwei Worte:

»Ich verstehe!«

Sie genügten. Das Antlitz des Mädchens verlor sofort jede Spur von Nachdenklichkeit, hellte sich auf, nahm etwas Schuldbewußtes und dabei Trotziges an.

Die Feindseligkeit zwischen den beiden während der ganzen, langen, vergangenen Monate trat jetzt offen zutage. Biancas Stolz vermochte sie nicht länger zu verbergen, des Mädchens Unterwürfigkeit sie nicht länger zu verhüllen. Sie standen da wie zwei Duellgegner, zwischen ihnen der Koffer, dieser gewöhnliche, braunlackierte, verschnürte Blechkoffer. Bianca betrachtete ihn.

»Sie,« rief die Frau, »Sie und er: Hahahaha! Hahaha!« Diesem grausamen Lachen, das ausdrucksreicher war als hundert Abhandlungen über Klassenunterschiede, als tausend hohnvolle Worte, vermochte das kleine Modell nicht Stand zu halten; sie setzte sich auf den Stuhl nieder, auf dem sie offenbar vorher gesessen hatte, um auf die Straße hinabzusehen. Aber wie die Blutspur einen Jagdhund wild macht, so schien ihr eigenes Lachen Bianca all ihrer Selbstbeherrschung zu berauben.

»Was glauben Sie denn, Mädchen, weshalb er Sie mitnimmt? Doch nur aus Mitleid! Als Einsamer! Aber davon verstehen Sie nichts!«

Das kleine Modell taumelte wieder auf seine Füße zurück. Ihr Gesicht war rot geworden. »Er will mich haben!« sagte sie.

»Will Sie haben! Wie er sein Mittag haben will. Und wenn er es genossen hat – was dann? Nein, natürlich, verlassen wird er Sie nicht, dazu ist sein Gewissen zu empfindsam! Aber Sie werden ihm am Halse hängen – so!« Bianca hob ihre Arme, verschlang sie um den Nacken und zog ihn langsam herab, wie die Arme einer Meerjungfer den untersinkenden Schiffer hinabziehen.

Das kleine Modell stotterte: »Ich will tun, was er mir sagt! Ich will tun, was er mir sagt!«

Bianca blieb ruhig stehen und sah sie an. Des Mädchens schwer atmende Brust, die kleine Pfauenfeder auf ihrem Hut und die kleinen, runden, ineinander gefalteten Hände, der Duft ihrer Kleider – all das erschien ihr wie eine Beleidigung.

»Und glauben Sie, daß er Ihnen sagen wird, was er möchte? Bilden Sie sich ein, er würde die nötige Brutalität haben, Sie von sich zu weisen? Er wird sich verpflichtet fühlen, Sie solange zu behalten, bis Sie ihn sitzen lassen, was Sie ja wohl vermutlich eines Tages tun werden!«

Das Mädchen ließ die Hände sinken.

»Ich werde ihn niemals verlassen!« rief sie leidenschaftlich.

»Dann stehe ihm der Himmel bei!« sagte Bianca.

Die Augen des kleinen Modells schienen die Pupille ganz zu verlieren. Alles, was sie empfand, strebte durch diese Augen hindurch nach Offenbarung; aber zu tief für Worte, kam nichts davon über ihre Lippen, die so wenig an die Kundgebung irgend welcher Gefühle gewohnt waren. Sie vermochte nur zu stammeln:

»Ich bin nich – ich bin nich – ich will« – und dabei preßte sie ihre Hände gegen die Brust.

Bianca kräuselte die Lippen.

»Ich verstehe. Sie halten sich für opferfähig! Nun, hier haben Sie ja eine Gelegenheit! Machen Sie von ihr Gebrauch!« Sie wies auf den verschnürten Koffer. »Jetzt ist die Zeit da! Sie brauchen nur zu verschwinden!«

Das kleine Modell wich nach dem Fenster zurück.

»Er will mich haben!« stieß sie hervor; »ich weiß, er will mich haben.«

Bianca biß sich auf die Lippen, bis Blut kam.

»Wenn Sie jetzt gehen,« sagte sie, »wird er in einem Monat nicht mehr an Sie denken!«

Das Mädchen würgte. Es lag etwas so Jammervolles in der Bewegung ihrer Hände, daß Bianca sich abwandte. Einige Minuten stand sie da, auf die Tür starrend, dann sagte sie, sich wieder umwendend:

»Nun?«

Aber mit dem Gesicht des Mädchens war eine vollständige Veränderung vorgegangen. So tränenüberströmt es war, lag doch jetzt schon wieder ein Ausdruck starrer Einfalt darüber.

Bianca ging hastig auf den Koffer zu. »Sie müssen fort!« sagte sie. »Nehmen Sie das Ding und gehen Sie!«

Das kleine Modell rührte sich nicht.

»Sie wollen also nicht?«

Das Mädchen zitterte am ganzen Leibe. Sie feuchtete ihre Lippen an und versuchte zu sprechen, brachte es nicht fertig, feuchtete sie wieder an, und dann murmelte sie: »Ich tu's nur – ich tu's nur – wenn er mich's heißt!«

»Sie bilden sich also immer noch ein, daß er es Ihnen sagen wird?«

Die Kleine wiederholte nur: »Ich mag nichts tun ohne ihn!«

Bianca lachte. »Ha, grad wie ein Hund!« sagte sie spöttisch.

Aber das Mädchen hatte sich plötzlich zum Fenster gewandt. Ihre Lippen waren halb geöffnet, sie schwankte und zitterte bei dem, was sie dort draußen sah. Tatsächlich stand sie da wie ein Wachtelhund, der seinen Herrn kommen sieht. Es brauchte Bianca nicht gesagt zu werden, daß Hilary sich näherte. Sie ging auf den Korridor und öffnete die Tür.

Er kam die Treppen herauf, das Gesicht verstört wie das eines Fiebernden. Beim Anblick seiner Gattin blieb er still stehen und sah ihr gerade ins Gesicht.

Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne die geringste Spur von Erregung und ohne, daß sie seine Anwesenheit zu bemerken schien, ging Bianca an ihm vorüber und langsam zum Hause hinaus.


 << zurück weiter >>