Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtunddreißigstes Kapitel

Hughs' Heimkehr

Hilary hatte offenbar mit seiner Vermutung recht gehabt, daß die Kleine nicht die Wahrheit gesprochen, als sie behauptete, Hughs gesehen zu haben; denn erst am folgenden frühen Morgen geschah es, daß drei Menschen die sich sehr lang hinziehende Straße von Wormwood nach Kensington hinschritten. Sie verhielten sich schweigend, nicht etwa, weil nichts in ihrem Herzen war, das nach Ausdruck rang, sondern, weil zu viel darin war. Und sie gingen im Gänsemarsch – voran Hughs, seine Frau ein paar Schritte zur Linken dahinter, und wieder ein Stückchen dahinter ihr Sohn Stanley. Es hatte nicht den Anschein, als ob sie irgend jemand andern auf der Straße sahen, und niemand auf der Straße schien sie zu bemerken; aber alle drei, so verschieden sie waren, konjugierten in Gedanken dasselbe Zeitwort mit verschiedenen Gefühlen:

»Ich war im Gefängnis
»Du warst im Gefängnis
»Er war im Gefängnis.

Hinter diesen vier Worten barg sich für Hughs ein solcher Sturm hochflutender Erregung, so viel wilde Bitterkeit, so viel Trotz, daß kein noch so heftiger Ausbruch ihm genügend Erleichterung verschafft hätte. Dieselben vier Worte faßten für Mrs. Hughs eine so seltsame Mischung von Furcht, Mitgefühl, Anhänglichkeit, Scham zusammen und dann die zitternde Neugier, wie dieser neue Faktor ihr Leben gestalten würde, daß sie vor einem Überschuß an Empfindung kein Wort hätte hervorbringen können. Für ihren Sohn waren die vier Worte wie eine romantische Legende, die kein bestimmtes Bild heraufbeschwor, sondern nur eine vage Verwunderung in ihm weckte.

»Trödle nich, Stanley, halt mit deinem Vater Schritt!«

Der kleine Junge machte drei hastigere Schritte, dann blieb er wieder zurück. Seine schwarzen Augen schienen zu antworten: »Du sagst das bloß, weil du nicht weißt, was du sonst sagen sollst.« Und ohne ihren Gänsemarsch zu ändern, aber wieder in tiefem Schweigen, setzten diese drei ihren Weg fort.

Im Herzen der Näherin hatten sich Zweifel und Angst langsam zu der Furcht verwoben vor dem ersten Laut, der über ihres Gatten Lippen kommen würde. Was würde er fragen? Was sollte sie antworten? Würde er wilde Reden führen oder vernünftige? Ob er das junge Mädchen vergessen oder ob seine gottlose Phantasie sich in jenem Haus des Kummers und des Schreckens noch mehr mit ihr beschäftigt hatte? Ob er fragen würde, wo das Kind sei? Ob er ihr ein gutes Wort geben würde? Aber neben ihrer Furcht bestand in ihr der feste Entschluß, ihn auf keinen Fall, wenn er noch dran dächte, fort und zu dem jungen Ding gehen zu lassen.

»Trödle nich, Stanley!«

Als sie diese Worte zum zweiten Mal sagte, begann Hughs zu sprechen.

»Laß den Jungen in Ruh! Nächstens wirst du noch gar an dem Kleinsten rumnörgeln!«

Heiser und hohl, wie Laute aus einem dumpfen Gewölbe, so klang seine erste Rede.

Der Näherin liefen die Augen über.

»Dazu werd ich keine Gelegenheit haben,« stieß sie hervor. »Er is fort!«

Hughs' Zähne schimmerten wie die eines gereizten Hundes.

»Wer hat ihn fortgenommen? Auf der Stelle sagst du mir, wer das war!«

Tränen rollten der Frau über die Wangen; sie konnte nicht antworten; statt dessen sagte ihres kleinen Sohnes dünne Stimme:

»Baby is tot; wir hab'n ihn begraben; ich war dabei. Mr. Creed is mit mir im Wagen gefahren!«

Ein paar weiße Flecke erschienen plötzlich in Hughs' Mundwinkeln. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen, und wieder marschierte die kleine Familie schweigend weiter ...

›Westminster‹, in seinem abgetragenen Sommerjackett – denn der Tag war heiß – hatte schon eine ganze Weile in Mrs. Budgens Tür unten im Parterre der Hound Street gestanden. Da er wußte, daß Hughs am frühen Morgen herauskommen sollte, hatte er mit der Umsicht und Vorsorglichkeit, die ihm eigen war, überlegt: »Ich werd keine Ruh in meinem Bett haben, bis ich nich weiß, ob der gemeine Bursch wieder mit mir anfangen will. Es hat keinen Zweck, es 'rauszuschieben. Ich will nich, daß er in mein Zimmer kommt und mich alten Mann überfällt. Ich will ihn lieber unten im Hausflur erwarten. Die lahme Frau wird's schon erlauben. Ich werd' sie nich weiter stören. Sie wird schon dazwischenfahren, wenn er mir was antun will. Ich fürcht mich nich vor ihm!«

Aber, als die Minuten des Wartens vorübergingen, da erschien seine alte Zunge wie die eines Hundes, der Prügel erwartet, immer häufiger, um seine zusammengekniffenen Lippen anzufeuchten. »Das kommt davon, wenn man's mit Soldaten zu tun kriegt,« dachte er, »und mit so 'nem Menschen, so 'nem ordinären Menschen wie der is. Ich hätte ausziehn sollen. Es soll mich nich wundern, wenn er mich fragt, wo das junge Mädel is; und dabei hat er seinen guten Namen, seine Stellung und alles verloren, bloß wegen so 'ner Weibergeschichte!«

Er beobachtete Mrs. Budgen mit ihrem freundlichen Gesicht und den Augen, in denen es immer so kampfesmutig leuchtete, wie sie ihre Stuben aufräumte. Sie lehnte sich ausruhend gegen eine Kommode, auf der chinesische Tassen und Porzellanhunde so dicht wie Giftpilze auf einem Hügel bei einanderstanden.

»Ich habe meinem Charlie gesagt,« begann sie, »er soll dem Hughs en bißchen aus 'm Wege gehen. So was kommt stachlig wie 'n Igel raus und fängt Zank an, sowie er einen nur sieht.«

Voll Würde entgegnete Creed: »Ich wart' hier und will gleich reinen Tisch zwischen uns machen. Glauben Sie, daß er gleich am frühen Morgen über mich herfallen wird?«

Die lahme Frau zuckte die Achseln. »Er wird woll einen hinter die Binde gegossen haben,« sagte sie, »ehe er nach Hause kommt. Sie verkühl'n sich gewöhnlich da en bißchen den Magen, die armen Deibel!«

Dem alten Herrschaftsdiener begann das Herz bis in den Hals zu schlagen. Er hob seine zitternde Hand und legte sie auf den Mund, als wolle er sich dadurch zusammenraffen.

»Ach ja,« sagte er; »ich hätte kündigen soll'n und ausziehn; aber es hat mir leid getan um die arme Frau, wo sie schon so herunter war. Ich möchte auch nich gern ausziehn. Die Frau is immer so nett und macht mir meine Sachen zurecht. Jawoll, das läßt sie sich nich nehmen!«

Die lahme Frau hinkte von ihrem Ruheplatz und begann das Bett zu machen, dabei runzelte sie die Stirn, wie immer, wenn sie eine Arbeit tat, die ihren lahmen Fuß anstrengte. »Wenn du deinem Nachbar nich hilfst, hilft dein Nachbar dir nich,« sagte sie vor sich hin.

Creed richtete seine bebrillten Augen schweigend auf sie. Er überlegte, wie er im Lichte dieses Ausspruches zu Hughs stand.

»Ich bin beim Begräbnis von dem Kind gewesen,« sagte er. »Oh je, da is er ja schon!«

Tatsächlich standen die Hughs alle drei in der Haustür.

Die Lebensweisheit, mit der ›Westminster‹ bisher durch das Dasein gekommen war, zeigte sich klar in den nächsten paar Sekunden. »Es is so wichtig für mich, mich gesund und am Leben zu erhalten,« schienen seine Augen zu sagen. »Ich weiß ganz genau, was du für eine Art Mensch bist; aber jetzt, wo du wieder da bist, hat's keinen Zweck, daß ich mich vor dir fürchte. Ich muß scheu zusehen, wie ich neben dir fertig werd'. Jawoll, bleib du für dich, und mit deinem ganzen Unsinn will ich nichts zu tun haben; das halt ich nich aus! Oh je, gewiß!«

Schweißtropfen standen ihm dick auf der Stirn; mit zusammengekniffenen Lippen und aufmerksam starrenden Augen wartete er auf das, was der entlassene Gefangene sagen würde.

Hughs, dessen Gesicht im Gefängnis eine fahle, grau-weiße Färbung angenommen hatte, und dessen schwarze Augen in den Kopf zurückgesunken zu sein schienen, sah den alten Mann langsam von oben bis unten an. Endlich nahm er seine Mütze ab, so daß ein kurzgeschorener Kopf sichtbar wurde.

»Sie haben mir das eingebrockt, Alterchen,« sagte er; »aber ich trag's Ihnen nich nach. Kommen Sie rauf und trinken Sie mit uns 'ne Tasse Tee.«

Und sich umwendend, begann er, gefolgt von Frau und Kind, die Treppe hinaufzusteigen. Schweratmend stieg der alte Herrschaftsdiener ihnen nach.

Im Zimmer des zweiten Stockwerks, wo jetzt kein Kind mehr war, gab sich ein Schellfisch auf dem Tisch alle Mühe, frisch zu erscheinen; um ihn herum standen und lagen auf Tellern Scheiben Brot, ein Stück Butter in einer Backform, eine Teekanne, brauner Streuzucker in einer Schüssel, und neben einander eine kleine Kanne kalter, bläulicher Milch und eine halbleere Flasche roten Essigs. Dicht neben einem Teller lag ein Bund Levkoyen und Goldlack auf dem schmutzigen Tischtuch, als ob es vom Gott der Liebe fallen gelassen und da vergessen worden wäre. Ihr schwacher Duft mischte sich mit den anderen Gerüchen. Der alte Mann heftete seine Augen auf die Blumen.

»Die arme Frau hat die woll gekauft,« dachte er bei sich, »und hat gehofft, ihn an vergangene Tage zu erinnern. Vielleicht hat sie dieselben Blumen an ihrem Hochzeitstag getragen!« Da diese poetische Auffassung ihn selbst überraschte, wandte er sich an den kleinen Jungen und sagte: »Das wird für dich mal 'n Erinnerungstag sein, wenn du groß bist.« Und ohne ein weiteres Wort setzten sie sich alle nieder. Schweigend aßen sie, und der Alte dachte: »Der Fisch is nich wie er sein soll; aber der Tee is fein. Der Mann ißt ja nichts. Er is viel vernünftiger, wie ich gedacht hab. Große Freude wird jetzt woll keiner mit ihm haben!«

Seine Augen wanderten zu der Stelle, von der das Seitengewehr verschwunden war, und blieben an dem Bild der Heilandsgeburt haften. »Lasset die Kindlein zu mir kommen,« dachte er, »und wehret ihnen nicht.«

»Er wird sich freuen, wenn er hört, daß zwei Trauerwagen mitgefahren sind.«

Und eine gute Gelegenheit abwartend, räusperte er sich, um sich für eine kleine Ansprache vorzubereiten. Aber diesen stummen Menschen gegenüber vermochte er keinen Laut hervorzubringen. Nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte, stand er auf. Dinge, die er hatte sagen wollen, gingen ihm bunt durch den Sinn. »Sehr erfreut gewesen, Sie zu sehn. Ich hoffe, Sie sind ganz gesund im momentanen Augenblick. Ich möchte nu aber auch nich länger stören. Wir alle müssen, sozusagen, einmal sterben.« All das blieb ungesagt. Mit einer unbestimmten Bewegung seiner dürren Hand ging er unsicher, aber rasch, zur Tür. Als er schon fast aus dem Zimmer heraus war, machte er noch eine letzte Anstrengung.

»Ich will nichts weiter gesagt haben,« fing er an, »bloß 'n guten Morgen wünsche ich Ihnen!«

Draußen blieb er einen Augenblick stehen, dann faßte er nach dem Geländer.

»Wenn er auch noch so stille dasitzt, besser is er da nich geworden! So 'ne Augen, wie der macht!« Und langsam stieg er hinunter, erfüllt von einer Art tiefsten Staunens. »Ich habe ihn nich richtig erkannt,« dachte er bei sich, »er is man immer bloß 'n ganz harmloses Menschenkind gewesen. Wir haben alle so 'ne verkehrte Einbildungen von manche Leute; ich habe ihn nich richtig erkannt. Se haben ihm das Herz gebrochen – das haben se!«

In dem Zimmer dauerte, nachdem er sich verabschiedet hatte, das Schweigen fort. Aber als der Knabe zur Schule gegangen war, stand Hughs vom Tisch auf und legte sich aufs Bett. Er blieb dort regungslos liegen, das Gesicht der Wand zugekehrt, die Arme um den Kopf geschlungen, um ihn zu stützen. Die Näherin, die sich lautlos in der Stube zu schaffen machte, hielt dann und wann in der Arbeit inne und warf ihm einen Blick zu. Wenn er heftig gegen sie, gegen alle gewesen wäre, es hätte ihr nicht solche Angst eingeflößt, wie dieses völlige Schweigen, das sie nicht zu fassen vermochte. – Es war wie das Schweigen eines Menschen, der vom Meere gegen einen Felsen geschleudert wird und dort zerschmettert hängen bleibt.

All das unbestimmte Sehnen, jetzt, nachdem ihr das Kind genommen, irgend etwas in ihrem grauen Leben zu haben, dem sie nahe stand – die unübersteigliche Grenze zu überschreiten, die sie von der Welt trennte –, all das schien sich in ihr aufzubäumen und jenem Wall von Schweigen und Starrsinn entgegenzufluten.

Zwei- oder dreimal rief sie ihn scheu beim Namen oder machte irgend eine gleichgültige Bemerkung. Er gab keine Antwort und lag da, als ob er in Wahrheit nur der Schatten eines Mannes sei. Und das Unrecht, das er ihr mit seinem Schweigen zufügte, erschien ihr ungeheuerlich. War sie nicht sein Weib? Hatte sie ihm nicht fünf Kinder geboren und sich abgequält, ihn von jenem Mädchen loszukriegen? War es ihre Schuld, wenn sie ihm mit ihrer Eifersucht das Leben zur Hölle gemacht, wie er es an jenem Morgen ihr entgegen geschrieen hatte, ehe er auf sie losgegangen und dann ›kalt gestellt‹ worden war? Er war ihr Mann. Es war nur ihr gutes Recht, nein, mehr noch, ihre Pflicht gewesen!

Und immer noch lag er schweigend da. Aus der engen Straße, in der wenig Verkehr herrschte, tönte das Rufen eines Gemüsehändlers und fernes Pfeifen durch die stickige Luft. Unter dem Giebel zwitscherten unaufhörlich ein paar Spatzen. Die kleine, sandfarbene Katze hatte sich hereingestohlen und heftete, indem sie sich gegen den Türpfosten drückte, ihre Augen auf die Schüssel, die die Überreste des Fisches enthielt. Die Näherin beugte ihre Stirn zu den Blumen auf den Tisch hinab; unfähig, das Geheimnisvolle dieses Schweigens länger zu ertragen, begann sie leise zu weinen. Aber die dunkle Gestalt auf dem Bett drückte ihre Arme nur noch fester um den Kopf, als ob in ihr etwas starr und tot sei, das über Menschenworte hinausging.

Die kleine, sandfarbene Katze schlich sich über den Fußboden, griff mit ihren Pfoten nach der Fischgräte und zog sie unter das Bett.


 << zurück weiter >>