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Neunundzwanzigstes Kapitel

Rückkehr des kleinen Modells

Am selben Nachmittag stand ›Westminster‹ in der High Street, den Kragen hochgeklappt vor dem scharfen Wind, den alten Hut von Regentropfen bespritzt, und sog an seiner Tonpfeife, indes seine bebrillten Augen aufmerksam die Vorübergehenden musterten. Es war für ihn ein Tag, an dem er bisher merkwürdig wenig von seiner grünlichen Zeitung verkauft hatte, und eine förmliche Wut hatte ihn erfaßt gegen den gemeinen Kerl von Kollegen, der die billigeren Abendblätter feil hielt. Sein Gerechtigkeitsgefühl hatte sich, seitdem er heute auf seinen Platz gekommen, schon zweimal Luft gemacht: Das eine Mal in den Worten, die er dem Händler der ›Pall Mall‹ zurief: »Ich hab' doch mit dir abgemacht, daß du nich über den Laternenpfahl 'rausgehst. Untersteh' dich, mich noch mal anzusprechen. So was – will mich von meinem Platz wegdrängen!« Und das andre Mal zu den jugendlichen Verkäufern der billigeren Blätter: »Na, wartet, ihr Lümmels! Euch will ich lehren, mir meine Kunden vor der Nase wegzuschnappen! Wartet man damit, bis ihr 'n bißchen älter seid!« Worauf die Buben antworteten: »Reg dich man nich auf, Alterchen! Lange machste's ja doch nich mehr!«

Es wäre jetzt seine Teestunde gewesen, aber da ›Pall Mall‹ fortgegangen, um diese Erfrischung zu sich zu nehmen, blieb er da, weil er gegen alles Erwarten hoffte, daß ein paar Kunden jenes gemeinen Burschen nun zu ihm kommen würden. Und während er in trauriger Vereinsamung dastand, sagte eine schüchterne Stimme neben ihm:

»Mr. Creed!«

Der Alte wandte sich um und sah das kleine Modell.

»Ah,« sagte er gleichgültig, »Sie sind's?« Da er, mit seiner beständigen Vorliebe für Rang und Stand, wußte, daß sie ihr Brot als Schreiberin in einem so wenig regulären Haushalt wie einem Künstlerheim verdiente, hatte er sie von Anfang an geringer als eine Kammerzofe eingeschätzt. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten ihn noch unfreundlicher gegen sie gestimmt. Ihre neuen Kleider, die zu sehen er früher noch nicht den Vorzug gehabt, verschärften, obgleich sie ihm ein Feiertagsgefühl gaben, seine moralischen Zweifel.

»Und wo wohnen Sie jetzt?« fragte er in einem Ton, der all diese Empfindungen in sich schloß.

»Das darf ich Ihnen nich sagen.«

»Na, denn nich. Behalten Sie's für sich!«

Die Kleine ließ ihre Unterlippe noch mehr hängen als gewöhnlich. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Gesicht zeigte einen gequälten, mitleiderregenden Ausdruck.

»Wollen Sie mir nich sagen, was es Neues gibt?« fragte sie mit ihrer schüchternen Stimme.

Der Alte ließ ein eigentümliches Grunzen hören. »Hm,« sagte er, »das kleine Kind is gestorben; morgen is das Begräbnis.«

»Gestorben!« wiederholte das kleine Modell.

»Ich geh' mit – es is auf dem Brompton-Friedhof. Punkt halb neun geh' ich von zu Hause fort. Na, das is ja wohl der Anfang vom Ende. Der Mann is im Gefängnis, und die Frau sieht man bloß noch wie 'n Schatten aus.«

Die Kleine rieb die Hände gegen ihr Kleid.

»Warum sitzt er im Gefängnis?«

»Weil er ihr tätlich angegriffen hat; ich bin Zeuge gewesen.«

»Weshalb hat er's denn getan?«

Creed sah sie an und antwortete, den Kopf abgewandt: »Das wissen doch die am besten, die schuld dran sind.«

Das Gesicht des kleinen Modells bekam die Farbe von Purpurnelken.

»Ich kann doch nichts für das, was er tut,« sagte sie; »was sollt ich mir wohl aus ihm machen, aus so 'nem Mann? Nee, den möcht ich nich haben!« Die ehrliche Verachtung, die aus diesem plötzlichen Ausbruch des Ärgers sprach, machte offenbar Eindruck auf den Alten.

»Ich will nichts gesagt haben,« meinte er; »mir is alles eins. Ich misch mich nie in andrer Leute Angelegenheiten. Aber mir kommt das sehr in die Quere. Ich bekomme kein ordentliches Frühstück mehr. Die arme Frau is ja halb von Sinnen. Wenn das Kind begraben is, dann muß ich mich nach 'nem andern Zimmer umsehn, ehe er wieder rauskommt.«

»Hoffentlich behalten sie ihn da,« stieß die Kleine plötzlich hervor.

»Einen Monat hat er gekriegt,« sagte Creed.

»Bloß einen Monat?«

Der Alte sah sie an: »In der steckt doch mehr,« schien er zu sagen, »als ich je gedacht hab'.«

»Weil er seinem Vaterland gedient hat, hat er nich mehr gekriegt,« bemerkte er laut.

»Mir tut's so leid um das arme, kleine Kind,« sagte das Mädchen mit ihrem einfältigen Ton.

›Westminster‹ schüttelte den Kopf. »Ich hab nie geglaubt, daß es leben bleibt,« erklärte er.

Das Mädchen biß sich auf die Fingerspitzen ihres weißen Baumwollhandschuhs und starrte hinaus in das lebhafte Getriebe. In dem Bewußtsein des alten Creed dämmerte wie ein blasser Lichtschimmer in einer dunklen Höhle der Gedanke auf, daß er das Mädchen nicht ganz begriff. Es waren ihm in seinem langen Leben viele junge Menschen begegnet, bei denen er bald gemerkt hatte, wohin sie gehörten. Aber das Gefühl, daß er hier bei dieser jungen Person nicht Bescheid wußte, war für ihn wie etwa das einer Eule, die der Tag überrascht.

Plötzlich ging sie ohne ein Wort des Abschieds davon.

»Na,« dachte er, indem er ihr nachblickte, »besser sind deine Manieren da, wo du jetzt bist, auch nich geworden und deine Erscheinung auch nich, wenn du auch die neuen Kleider anhast.« Und eine Zeitlang dachte er über den Ausdruck in ihren Augen und ihr plötzliches Davongehen nach.

Zur selben Zeit trat Bianca aus ihrer Haustür. Ihre seelische Erregung, ihr bebendes Verlangen nach Eintracht war geschwunden. In ihrem seltsam zerrissenen Herzen kämpften die zwei Gedanken: »Wenn sie doch wenigstens eine Dame wäre!« Und dann: »Ich bin froh, daß sie keine Dame ist.«

Von all den dunklen, qualvollen Stätten dieses Lebens ist das menschliche Herz die dunkelste und qualvollste; und von allen menschlichen Herzen gab es keine unklareren und verworreneren, als die Herzen jener Klasse von Menschen, unter denen Bianca ihr Dasein verbrachte. Der Stolz wäre eine einfache Eigenschaft, wenn er sich mit einer einfachen Lebensanschauung verbände, die sich auf die klare Philosophie des Eigentums gründet. Der Stolz aber ist keine einfache Eigenschaft mehr, wenn die hundert lähmenden Zweifel und Ansprüche eines sozialen Gewissens ihn eindämmen. Während sie so vorwärts eilte mit der ehrlichsten Absicht, das kleine Modell in seine frühere Stellung wieder einzusetzen, kämpfte ihr Herz gegen ihren Stolz; und das weibliche Bewußtsein ihrer Eigentumsrechte an den Mann, den sie geheiratet hatte, stritt mit den anerzogenen Begriffen von Freiheit, Großmut, Gleichheit und gutem Geschmack. Da ihr Sinn so verwirrt und ihr Gemüt so uneins mit sich selbst war, handelte sie wirklich nur aus dem einfachen Instinkt des Mitleids.

Sehr bald hatte sie die unfreundliche Straße in Bayswater erreicht, in der, wie Cecilia ihr gesagt hatte, die Kleine jetzt wohnte. Die große, hagere Wirtin ließ sie eintreten.

»Wohnt hier eine Miß Barton?« fragte Bianca.

»Ja,« sagte die Wirtin, »aber ich glaube, sie is aus.«

Sie sah in das Zimmer der Kleinen hinein.

»Ja,« wiederholte sie, »sie is aus. Aber, wenn Sie ihr vielleicht eine Bestellung zurücklassen wollen, können Sie sie dadrin aufschreiben. Wenn Sie ein Modell brauchen – sie sucht, glaube ich, Beschäftigung.«

Sie blickte um sich. Welch geistige Leere in diesem kleinen Zimmer! Da war auch nicht etwas, abgesehen von einer zerrissenen Nummer der ›Tit-Bits‹, was darauf schließen ließ, daß hier irgend etwas mit Seele und Gemüt Begabtes lebte. Dabei, oder vielleicht gerade deshalb, machte das Zimmer einen recht saubern Eindruck.

»Ja,« sagte die Wirtin, »ordentlich hält sie ihre Stube. Natürlich, sie is ja vom Lande – aus meiner Gegend da unten.« Sie sagte das, indem sie das harte aber nicht unfreundliche Gesicht verzog. »Wenn es nicht darum wäre,« fuhr sie fort, »möchte ich's keiner von ihrem Berufe vermieten.«

Bianca schrieb auf ihre Karte mit Bleistift:

»Kommen Sie, bitte, heut oder morgen zu meinem Vater, wenn Sie Zeit haben.«

»Wollen Sie ihr, bitte, das geben? Es wird genügen.«

»Ich will's ihr geben,« sagte die Wirtin. »Sie wird ganz froh sein, glaub' ich. Ich seh' ja, wie sie den ganzen Tag dasitzt. So 'ne Mädchen, wenn sie nichts zu tun haben, – da, sehen Sie, da hat sie sich auf dem Bett rumgewälzt.«

Man konnte tatsächlich den Abdruck einer Gestalt auf der rot und gelb gewürfelten Bettdecke sehen. Bianca warf einen Blick darauf. »Ich danke Ihnen,« sagte sie, »Adieu.«

Vor dem Gartentor stand das kleine Modell in eigener Person und starrte auf das Haus, als ob sie schon eine ganze Weile da wäre. Während Bianca den Damm überschritt, hatte sie den vollen Anblick der jugendlichen Erscheinung, die jetzt sehr nett und ordentlich aussah, aber in ihren vielleicht mehr anmutigen als vornehmen Linien verriet, daß sie keine wirkliche Dame war. Es lag etwas von Grund auf Unerzogenes in ihr, etwas, das mehr durch die Tatsachen des Lebens als durch den geheimen Kodex gesellschaftlicher Regeln gegeben war. Es zeigte sich bald hier, bald da in Kleinigkeiten, die nur Frauen verstehen, vor allem in der Art, wie ihr Blick auf jenem Hause lag, das sie offenbar nur allzugern betreten hätte. Nicht ein ›soll ich hineingehen?‹ lag in dem Blick, sondern ›wag ich's hineinzugehen?‹

Plötzlich gewahrte sie Bianca. Die Begegnung dieser beiden war wie eine alltägliche Begegnung zwischen Herrin und Dienerin. Biancas Gesicht zeigte keinen besonderen Ausdruck, höchstens die leise, hochmütige Neugier, die zu sagen schien: »du bist für mich ein versiegeltes Buch; als solches habe ich dich immer angesehen; was du wirklich denkst und tust, werde ich nie erfahren.«

Das Gesicht des kleinen Modells zeigte einen halb scheuen, halb einfältigen Ausdruck.

»Bitte, gehen Sie hinein,« sagte Bianca; »mein Vater wird sich freuen, Sie zu sehen.«

Sie hielt die Gartentür auf, um das Mädchen vorüber zu lassen. Dabei empfand sie etwas wie eine leise Belustigung darüber, daß ihr Weg eigentlich überflüssig gewesen war. Nicht einmal diese kleine Probe von Großmut war ihr, wie es schien, verstattet.

»Wie geht es Ihnen?«

Das kleine Modell machte eine rasche Bewegung bei dieser unerwarteten Frage. Aber sie sofort unterdrückend antwortete sie:

»Sehr gut, danke; das heißt, nicht sehr –«

»Sie werden meinen Vater heute sehr matt finden, er hat sich erkältet. Lassen Sie ihn, bitte, nicht zuviel lesen.«

Die Kleine schien eine Anstrengung zu machen, um irgend etwas zu sagen, aber da sie es nicht fertig brachte, ging sie in das Haus hinein.

Bianca folgte ihr nicht, sondern stahl sich in den Garten zurück, wo die Sonne noch auf ein Beet mit Goldlack am äußersten Ende des Gartens fiel. Sie neigte sich über diese Blüten, bis ihr Schleier sie berührte. Zwei Bienen saßen da. Sie schwirrten mit ihren graubraunen Flügeln, klammerten sich mit ihren schwarzen, winzigen Beinen an die bräunlichen Blütenblätter und senkten ihre schwarzen, winzigen Zungen tief hinein in das süße Innere. Die Blüten bebten unter der Wucht der kleinen, dunklen Tierkörper. Auch Biancas Gesicht bebte, während sie sich tief zu ihnen hernieder neigte, ohne die geringste Furcht, daß sie stechen könnten.

Hilary, der, wie man weiß, mehr im Nachdenken über Ereignisse, als in den Ereignissen selbst lebte, und für den nackte Tatsachen und Worte nur insofern etwas bedeuteten, als sie für sein Philosophieren irgend einen Wert hatten, begrüßte das Erscheinen des Mädchens, dem er vor Stones Zimmer begegnete, mit erschrecktem Gesicht. Aber bei dem kleinen Modell, das geistig so zu sagen von der Hand in den Mund lebte und nur die Philosophie seiner Wünsche kannte, wirkte die Begegnung anders. Sie wußte, daß sie sich während der letzten fünf Tage wie ein Schoßhündchen, das man von seinem rechtmäßigen Platz fortgejagt hat, gewünscht hatte, dort zu stehen, wo sie jetzt eben stand. Sie wußte, daß sie in ihrem neuen Zimmer mit den rostroten Türen sich die Lippen und Finger blutig gebissen hatte und, wie frisch gefangene Vögel im Bauer flattern, mit den Flügeln gegen jene Wände mit den braunen Rosen auf gelbem Grund geschlagen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie in dumpfem Brüten auf jener rot und gelb gewürfelten Bettdecke gelegen, die Fransen ineinander geknotet und mit halb geschlossenen Augen ins Leere gestarrt hatte.

In ihrem Blick auf Hilary lag jetzt etwas Neues. Er hatte viel von seiner kindlichen Hingebung verloren, er war kühner geworden, als ob sie etwas durchgemacht und ein gut Teil Schmelz von ihren Flügeln in diesen wenigen Tagen abgestreift hatte.

»Mrs. Dallison hat mir gesagt, daß ich kommen sollte,« erklärte sie. »Ich dachte, nun dürfte ich. Mr. Creed hat mir erzählt, daß Er im Gefängnis sitzt.«

Hilary machte ihr Platz und ihr in Stones Zimmer folgend, schloß er die Tür. »Der Ausreißer ist wieder da,« sagte er.

Als sie diese ungerechte Benennung hörte, wurde die Kleine dunkelrot und versuchte zu sprechen. Da sie aber Hilary lächeln sah, blieb sie stumm und blickte von ihm auf Stone und wieder zurück, von den verschiedensten Gefühlen bestürmt.

Stone hatte sich erhoben und bewegte sich sehr langsam nach seinem Schreibtisch hin. Er legte beide Arme auf das Pult, um sich zu stützen, und als er einige Sicherheit verspürte, begann er sein Manuskript zu ordnen.

Durch das offene Fenster vernahm man den fernen Klang einer Drehorgel. Matt und viel zu langsam tönte der Walzer, den sie spielte, aber es lag etwas Dringliches, Lockendes in dem Ton. Das kleine Modell wandte sich ihm zu, und Hilary beobachtete sie sinnend. Das Mädchen da, zusammen mit jenem Klang – das war ja ganz deutlich die Musik, die er viele Tage lang gehört hatte, wie jemand, der in Fieberträumen liegt.

»Sind Sie bereit?« fragte Stone.

Die Kleine tauchte ihre Feder in die Tinte. Ihre Augen aber stahlen sich nach der Tür hin, wo Hilary noch mit demselben Ausdruck im Gesicht stand. Er vermied ihren Blick und trat zu seinem Schwiegervater.

»Müssen Sie heute wirklich diktieren?«

Stone sah ihn ärgerlich an. »Weshalb nicht?« fragte er.

»Sie sind vielleicht nicht wohl genug.«

Stone hob sein Manuskript auf.

»Wir sind seit drei Tagen im Rückstand.« Und ganz langsam begann er zu diktieren. »Barbarische Gewohnheiten wurden in jenen Tagen, wie die Einrichtung, die unter dem Namen Krieg bekannt ist« – seine Stimme erstarb; man merkte, daß er sich nur dadurch aufrecht hielt, daß er die Ellbogen schwer auf das Schreibpult stützte.

Hilary rückte einen Stuhl näher, und den alten Herrn unter die Arme fassend, setzte er ihn vorsichtig hinein.

Als er merkte, daß er saß, hob Stone sein Manuskript und las weiter: – »geübt, ungeachtet jedes brüderlichen Gefühls. Es war, als ob eine Herde Hornvieh, über grüne Weiden nach jenem Tor getrieben, hinter dem sie ihr sicheres Ende erwartete, angefangen hätte, einander vorzeitig zu durchbohren und auszuweiden in leidenschaftlicher Hingebung an jene individuelle Form, die sie doch so bald verlieren sollten. So starrten die Menschen – Stamm gegen Stamm und Land gegen Land mit ihren blutunterlaufenen Augen einander an, weit über die Täler hin – – –«

Langsamer und langsamer kamen seine Sätze heraus, und als das letzte Wort verklang, da war er eingeschlafen und atmete friedlich durch eine kleine Öffnung des linken Mundwinkels unterhalb des Schnurrbartes.

Hilary, der auf diesen Augenblick gewartet hatte, legte vorsichtig das Manuskript auf das Pult und winkte dem Mädchen. Er führte sie nicht in sein Arbeitszimmer, sondern sprach im Korridor mit ihr.

»Solange Mr. Stone noch leidend ist, fehlen Sie ihm. Also kommen Sie, bitte, jetzt wieder her, da ja Hughs noch im Gefängnis sitzt. Wie behagt Ihnen Ihr Zimmer?«

Das kleine Modell sagte kurz: »Nicht sehr.«

»Weshalb nicht?«

»Es ist so einsam da; aber jetzt macht's ja nichts, wo ich wieder hierherkommen kann.«

»Das ist doch nur vorläufig,« war alles, was Hilary als Antwort fand.

Das kleine Modell senkte die Augen.

»Das Kind von Mrs. Hughs wird morgen begraben,« begann sie plötzlich.

»Wo?«

»Auf dem Brompton-Friedhof. Mr. Creed geht auch mit.«

»Um welche Zeit ist die Beerdigung?«

Das Mädchen sah ihn verstohlen an. »Mr. Creed geht Punkt halbneun von Hause fort.«

»Ich möchte auch dabei sein,« sagte Hilary.

Ein heller Schimmer, der rasch ihr Gesicht überflog, verschwand wieder hinter einer Wolke von Einfältigkeit. Dann, als sie sah, daß Hilary sich der Tür näherte, begann sich ihr Mund zu verziehen.

»Leben Sie wohl,« sagte er.

Die Kleine wurde rot und begann zu zittern. »Du siehst mich nicht mal an,« schien sie zu sagen: »Du hast nicht ein freundliches Wort zu mir gesprochen.« Und plötzlich sagte sie mit harter Stimme:

»Jetzt werd' ich nich mehr zu Mr. Lennard hingehen.«

»Oh, Sie sind also bei ihm gewesen?«

Ein Triumphgefühl darüber, daß sie sein Interesse wachgerufen, Schreck über das Eingeständnis, flehendliches Bitten und ein halb trotziges Lächeln, all das spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

»Jawohl,« sagte sie.

Hilary schwieg.

»Mir war alles gleich, nachdem Sie mir gesagt hatten, daß ich nich mehr hierherkommen soll.«

Immer noch schwieg Hilary.

»Ich hab' nichts Böses getan,« sagte sie mit Tränen in der Stimme.

»Nein, nein,« sagte Hilary, »gewiß nicht!«

Die Kleine würgte.

»Es is doch mein Beruf.«

»Ja, ja,« sagte Hilary, »schon recht.«

»Mir is's gleich, was er denkt; ich will nu nich mehr hingehen, so lange ich hierherkommen darf.«

Hilary klopfte ihr sacht auf die Schulter. »Gut, gut,« sagte er und öffnete ihr die Tür.

Das kleine Modell ging bebend, wie eine Blume, die nach dem Regen einen Sonnenkuß bekommen, hinaus, und in ihren Augen war ein Leuchten.

Der Herr des Hauses ging wieder zu Stone hinein. Lange saß er da und bewachte den Schlummer des alten Mannes. »Ein Denker über das Problem der Tat sinnend,« so hätte man Hilarys Gestalt mit seinem schmalen in die Hand gestützten Antlitz, mit der Furche zwischen den Brauen und dem schmerzlichen Lächeln, in irgend einem Skulpturenkatalog bezeichnen können.


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