Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Thymian Dallison fand inmitten ihres geschäftigen Lebens noch Muße, ihre Erinnerungen und Gedanken auf den unbenutzten Seiten alter Schulhefte niederzuschreiben. Sie verfolgte keinen bestimmten Zweck, indem sie das tat, noch hatte sie das Bedürfnis, in Gefühlen zu schwelgen – das hätte sie als unmodern und töricht verspottet. Es geschah aus einer Überfülle jugendlicher Kraft und in dem Wunsche, sich zu äußern, der in der Luft lag. Überall war er – dieser Wunsch: bei ihren Mitschülerinnen, bei ihren jungen Freunden, im Salon ihrer Mutter und im Atelier ihrer Tante. Was dem Fräulein der Viktorianischen Zeit Empfindsamkeit und Ehestand waren, dasselbe war für Thymian die Pflicht, sich zu äußern, und Hand in Hand damit die Pflicht, eine frohe, vergnügte Jugend zu genießen. Sie las die niedergeschriebenen Gedanken nie wieder durch; sie trug nicht Sorge, die Bücher zu verschließen, da sie überzeugt war, daß ihre Freiheit, ihre Entwicklung und ihr Vergnügen geheiligte Dinge seien, an die zu rühren niemandem einfallen würde; sie hatte sie in eine Schublade gestopft, in der sie zwischen ihren Taschentüchern, Krawatten und Blusen lagen, zusammen mit einem unvertilgbaren Endchen Bleistift.
Dieses Tagebuch, frisch und achtlos niedergeschrieben, verzeichnete in ziemlich wirrem Durcheinander den jeweiligen Eindruck der Geschehnisse auf ihr Gemüt.
Am frühen Morgen des 4. Mai saß sie im Nachtkleid am Fußende ihres weißen Bettes, das aufgelöste braune Haar um ihr Köpfchen gebauscht, die Augen glänzend, die Wangen noch rot vom Schlaf, und kritzelte eifrig in ihr Buch, indes sie im Eifer, sich zu äußern, einen nackten Fuß gegen den andern rieb. Ab und zu hielt sie wohl mitten in einem Satz inne und sah zum Fenster hinaus oder reckte sich behaglich. Das Leben schien für sie zu voll von Freuden, als daß sie lange bei ein und derselben Sache hätte verweilen können.
»Gestern war ich bei Großvater und blieb eine Weile dort, während er dem kleinen Modell diktierte. Ich finde Großvater so wundervoll. Martin sagt, ein Idealist ist schlimmer als unnütz; die Menschen, sagt er, dürfen ihre Zeit nicht mit Träumen und Phantasien vertrödeln. Er nennt Großvaters Ideen vorsintflutlich. Ich kann's nicht ausstehen, daß man sich über ihn lustig macht. Martin ist immer in allem so totsicher. Ich glaube, er fände nicht viele Männer von Achtzig, die noch das ganze Jahr kalt baden und ihr Zimmer selbst aufräumen, sich ihr Essen selbst kochen, von ihren dreihundert Pfund Pension nur neunzig für sich gebrauchen und das übrige weggeben. Martin sagt, das wäre falsch und sein ›Buch von der Allgemeinen Brüderschaft‹ dummes Zeug. Mir ist das ganz egal; es ist jedenfalls schön, wie er so immer Tag um Tag daran arbeitet. Martin gibt das auch zu. Das ist das Unangenehmste an Martin: Er ist so kühl; man kann ihm nicht beikommen; es ist immer, als ob er einen kritisiert; manchmal macht's mich ganz wild ... Das kleine Modell ist ein Dummkopf. Ich hätte die ganze Geschichte in der halben Zeit abgeschrieben. Alle Augenblicke hörte sie auf und starrte mit halboffenem Munde vor sich hin, als ob sie noch den ganzen Tag vor sich hätte. Großvater ist so vertieft, daß er's gar nicht merkt; er liest die Geschichte immer noch mal und noch mal, um zu hören, wie's klingt. Ich glaube, das Mädchen taugt zu keiner Arbeit als zum Modellstehen. Tante Bi behauptete, sie ›sitzt‹ gut. Sie hat so was Merkwürdiges im Gesicht: es erinnert mich ein bißchen an die Botticellische Madonna in der National-Galerie, – vielleicht weniger in den Linien als im Ausdruck – er ist fast einfältig und doch wieder, als ob ihr allerlei passieren könnte. Sie hat schöne Hände und Arme, und ihre Füße sind kleiner als meine. Sie ist zwei Jahre älter als ich. Ich fragte sie, weshalb sie gerade Modell wurde, was doch 'n ekliger Beruf ist. Sie meinte, sie wär' froh, daß sie was verdiente! Darauf fragte ich sie, warum sie nicht lieber ins Geschäft geht oder in Dienst. Zuerst gab sie gar keine Antwort und dann sagte sie, sie hätte keinerlei Empfehlungen gehabt – oder nicht gewußt, wie sie's anfangen sollte. Dann mit einem Mal wurde sie ganz mürrisch und sagte, sie hätte keine Lust gehabt ...«
Thymian unterbrach sich hier, um eine Skizze vom Profil des kleinen Modells hinzumalen ...
»Sie trug ein wirklich nettes Kleid, ganz einfach und gut gearbeitet – es hat sicher drei oder vier Pfund gekostet. Da kann's ihr doch gar nicht so schlecht gehen, oder sie hat's von irgendwem geschenkt bekommen ...«
Und wieder hielt Thymian inne.
»Sie sah so viel hübscher aus als in ihrem alten braunen Rock, fand ich ... Onkel Hilary hat gestern Mittag bei uns gegessen. Wir sprachen über soziale Fragen; wir erörtern immer solche Sachen, wenn er da ist. Ich mag Onkel Hilary riesig gern; er hat so gute Augen, und er ist so sanft, daß man nie ungeduldig mit ihm wird. Martin nennt ihn schwach und unzulänglich, weil er nicht mit dem wirklichen Leben in Berührung kommt. Mir scheint eher, als ob's ihm unerträglich wäre, jemanden zu bestimmen, irgend was zu tun; ich glaube, er sieht immer alle Dinge von zwei Seiten an, und auf feste Entschlüsse versteht er sich nicht. Er ist vielleicht so, wie Hamlet gewesen sein mag; nur daß niemand zu wissen scheint, wie Hamlet wirklich war. Ich sagte ihm, was ich von den niederen Klassen halte. Man kann über alles mit ihm sprechen. Vaters Art, immer schlechte Witze zu machen, als ob nichts ernst zu nehmen sei, kann ich nicht ausstehen. Ich sagte, ich glaube, es hätte keinen Sinn, etwas so ganz oberflächlich zu tun; wir müßten den Dingen auf den Grund gehen. Ich sagte, Geld und Klassenunterschiede seien abgenutzte Begriffe, mit denen wir aufräumen müßten. Martin meint, wenn es dazu kommt, ernstlich was in sozialen Dingen und für die Armen zu tun, dann seien all die Leute, die wir kennen, doch nur Dilettanten. Er sagt, wir müßten uns frei machen von all den alten, sentimentalen Anschauungen und dahin arbeiten, daß alles auf seine Zweckmäßigkeit und Hygiene hin geprüft wird. Vater nennt Martin einen ›Sanitisten‹; und Onkel Hilary sagt, wenn man das Volk heut von Staats wegen waschen wollte, wäre es morgen gerade wieder so schmutzig ...«
Wieder hielt Thymian inne. Drüben aus den Anlagen tönte der langanhaltende, leise, kichernde Triller einer Amsel. Thymian lief zum Fenster und lugte hinaus. Der Vogel saß auf einer Platane, und mit emporgerecktem Hals ließ er seinem gelben Schnabel jene wundersame Art der Lebensäußerung entströmen. Allem schien er Lob zu singen – dem Himmel, der Sonne, den Bäumen, dem tauigen Gras – sich selbst!
»Du süßes Tierchen!« dachte Thymian. Sie reckte sich in wohligem Behagen und schob dann ihr Heft wieder in die Schublade zurück, warf das Nachtkleid ab und eilte ins Bad.
Gegen zehn Uhr schlüpfte sie leise zum Hause hinaus. Am Sonnabend hatte sie keine Stunden, aber dafür beanspruchte die Mutter gern ihre Gesellschaft, und der Vater wünschte, daß sie mit ihm nach Richmond hinausfahre zum Golfspielen. Denn am Sonnabend verließ Stephen die heiligen Hallen des Gerichts fast immer schon vor drei Uhr. Dann machte er gern, wenn er seine Frau oder Tochter dazu bringen konnte, ein paar Probespiele für den Sonntag, wo er stets um halb elf Uhr aufbrach und den ganzen Tag Golf spielte. Wenn Cecilia und Thymian ihn im Stiche ließen, ging er wohl in seinen Klub und las die Zeitschriften, um sich über alle Erscheinungen der sozialen Bewegung zu unterrichten.
Thymian schritt vorwärts, den Kopf hoch erhoben, ein Fältchen zwischen den Brauen, wie in ernstes Nachdenken vertieft; wenn bewundernde Blicke sie trafen, schien sie es nicht zu bemerken.
Unweit von Hilarys Haus bog sie in den Hauptweg des Parkes ein und ging ihn bis zu seinem anderen Ende entlang.
Auf einem Geländer, seine langen Beine von sich streckend und die Vorübergehenden beobachtend, saß ihr Vetter, Martin Stone. Als sie näher kam, stand er auf.
»Wieder zu spät,« sagte er. »Komm!«
»Wohin gehen wir zuerst?« fragte Thymian.
»Mehr als das Notting Hill-Viertel können wir heut nicht abmachen, wenn wir noch zu Mrs. Hughs hin sollen. Ich muß heute nachmittag im Krankenhaus sein.«
Thymian runzelte die Stirn. »Ich beneide dich drum, daß du allein wohnen kannst, Martin. Zu dumm, daß man bei den Eltern leben muß.«
Martin erwiderte nichts, aber man sah, wie sich der eine Flügel seiner langen Nase wölbte, und Thymian nahm schweigend davon Notiz. Sie gingen einige Minuten zwischen hohen Häusern daher und blickten ruhig um sich. Dann sagte Martin: »Lauter Purceys hier herum!«
Thymian nickte. Wieder herrschte Schweigen; aber es lag nichts Verlegenes darin, nicht das Bewußtsein, daß es ein Schweigen sei und ihre Augen – diese jungen, ungeduldigen, wißbegierigen Augen – blickten unausgesetzt beobachtend umher.
»Die Grenzlinie. Gleich sind wir zur Stelle.«
Sie gingen eine lange, graue, gekrümmte Straße hinunter, deren schmale, trübselig farblose Häuser bitterste Armut verrieten. Der Frühlingswind wirbelte in den Gossen Stroh und Papierstückchen durcheinander; unter dem strahlenden Sonnenlicht schien hier ein erbitterter, grausamer Kampf zu wüten.
Thymian sagte:
»Die Straße gibt mir ein Gefühl von dumpfer Leere.«
Martin nickte. »Schlimmer als das richtige Elend. Eine halbe Meile geht das so fort. Hier ist alles bitteres Ringen. Weiterhin haben sie's aufgegeben.«
Und schweigend gingen sie weiter die gewundene Gasse mit den ärmlichen Läden und der endlos engen Trübsal hinauf.
An der Ecke einer Querstraße sagte Martin: »Wir wollen hier einbiegen.«
Thymian blieb, die Nase rümpfend, stehen. Martin warf ihr einen Blick zu.
»Sei kein Hasenfuß!«
»Ich bin kein Hasenfuß, Martin; ich kann bloß die Gerüche nicht vertragen!«
»Du wirst dich dran gewöhnen müssen.«
»Ja, ich weiß, aber – aber ich habe mein Eukalyptus vergessen.«
Der junge Mann zog sein Taschentuch hervor, das noch ungebraucht zusammengefaltet war.
»Da, nimm meines.«
»Ich bekomm' so ein Gefühl von – ich schäme mich deines anzunehmen,« und sie nahm sein Taschentuch.
»So ist's recht,« sagte Martin. »Komm weiter!«
Die enge Straße schien voller Frauen in und außer den Häusern. Viele von ihnen trugen kleine Kinder auf dem Arm; sie waren entweder mit irgend einer Arbeit beschäftigt und blickten zum Fenster hinaus oder saßen schwatzend auf den Türschwellen. Und alle hielten inne, um auf das vorübergehende Paar zu starren. Thymian warf ihrem Begleiter einen scheuen Seitenblick zu. Er ging mit unverändert langen Schritten weiter; auf dem blassen Gesicht lag sein gewöhnlicher, spöttischer Ausdruck. Ihr Taschentuch krampfhaft bereithaltend, versuchte sie, Martins gleichmütige Miene nachzuahmen und blickte so auf eine Gruppe von fünf Frauen an der nächsten Tür. Drei saßen auf den Stufen und zwei standen. Eine von diesen, eine junge Frau mit offenem, runden Gesicht, sah Mutterfreuden entgegen; die andere, die ein kleines, dunkles Gesicht und eisengraue, wirre Haare hatte, rauchte aus einer Tonpfeife. Von den drei sitzenden hatte die eine, ganz junge, ein Gesicht, das so grauweiß aussah wie ein schmutziges Laken, und das eine Auge war blutunterlaufen. Die zweite, mit einer zerrissenen, offenen Bluse, nährte gerade ihr Kind. Die dritte stand auf der obersten Stufe mit eingestemmten Armen, im Gesicht die Merkmale der Trunksucht und rief achtlos zu einer Fensternachbarin unflätige Worte hinüber. In Thymian schrie es leidenschaftlich auf: »Wie widerwärtig! Wie furchtbar widerwärtig!« Und da sie nicht wagte, diesem Gefühl lauten Ausdruck zu geben, biß sie sich auf die Lippen und wandte den Kopf ab. Ihre ganze Jungmädchen-Seele empörte sich über diesen Verrat an ihrem Geschlecht.
Die Weiber starrten sie an; und in diesen Gesichtern konnte man, je nach ihrem Temperament, zuerst dieselbe unbestimmte, durchdringende Neugier lesen, mit der Thymian sie zuerst betrachtet hatte, dann dieselbe heimliche Kritik, als ob wiederum sie fühlten, daß des jungen Mädchens unberührte Keuschheit, ihre erröteten Wangen und die saubere Kleidung ein Verrat an ihnen sei.
»Das wär 'n Püppchen für Bill; er würd' ihr schon lehren, der ...« In einem Ausbruch von Gelächter verlor sich das Schimpfwort.
Martins Lippen kräuselten sich.
Thymian war dunkelrot geworden.
Am Ende der kleinen Gasse blieb er vor einem Laden stehen.
»Komm mit hinein,« meinte er; »dann weißt du, wie's dort aussieht, wo sie ihren Proviant herholen.«
An der Tür stand ein dünner, brauner Wachtelhund, eine kleine blonde Frau mit hoher kahler Stirn, die ein Kranz von Papilloten umgab, und ein kleines Mädchen, das mit irgend einem Hautleiden behaftet schien. Ihnen gleichmütig zunickend, schob Martin sie beiseite. Der Laden hatte etwa zehn Fuß im Geviert; die zwei Ladentische, die mit zweien der Wände parallel liefen, waren voll von Schüsseln, auf denen Kuchen, Würstchen, alte Schinkenknochen, Pfeffermünzbonbons und Waschseife lagen. Außerdem gab es da noch Brot, Margarine, Fett in Töpfen, Zucker, Bücklinge – viel Bücklinge – Schiffszwieback und daneben allerlei andere Waren. An der Wand hingen ein paar geschlachtete Kaninchen. Alles lag und stand unbedeckt da, so daß die vorhandenen Fliegen sich auf kommunistische Art versorgen konnten. Hinter dem Ladentisch stand ein etwa siebzehnjähriges Mädchen und bediente eine hohlwangige Frau, indem sie von einem Käse, den sie mit einer kräftigen, nicht ganz sauberen Hand festhielt, einzelne Stückchen mit einem Messer absägte. Auf dem Ladentisch, nahe dem Käse, saß still ein Kätzchen.
Sie alle sahen auf das junge Paar, das wartend dastand.
»Machen Sie nur erst fertig,« sagte Martin; »dann geben Sie mir für drei Pence Caramel-Bonbons.«
Mit einer Kraftanstrengung beendete das junge Mädchen das Absägen des Käses. Die hagere Frau nahm ihn, hustete drüber hinweg und ging hinaus. Das Mädchen, das keinen Blick von Thymian ließ, gab ihnen jetzt für drei Pence Caramel-Bonbons, die sie, weil sie zusammenklebten, mit den Fingern aus der Büchse herausholte. Dann tat sie sie in eine Zeitungsdüte und gab sie Martin. Der junge Mann, der all dem gelassen zugesehen hatte, stieß Thymian leise an. Sie hatte bisher mit niedergeschlagenen Augen dagestanden; jetzt wandte sie sich um. Sie gingen hinaus, und Martin übergab die Bonbondüte dem kleinen, hautkranken Mädchen.
Die Gasse erweiterte sich von hier ab zu einer breiten Straße, die von kleinen, niedrigen Häusern gebildet wurde.
»Schwarz – hier,« sagte Martin, »die ganze Straße hinunter – Gelegenheitsarbeiter, Verbrecher, Müßiggänger, Trinker, Schwindsüchtige. Sieh dir die Gesichter an!«
Gehorsam hob Thymian die Augen. Diese Hauptverkehrsader machte einen andern Eindruck als die Nebengäßchen; hier begegneten den beiden nur stumpfe und mürrische Blicke, wenn sich überhaupt Blicke zu ihnen verirrten.
Auf den Fenstersimsen einiger Häuser standen verkümmerte Topfpflanzen; in einem Fenster sang ein Kanarienvogel. Da gab es Ställe, Häuser mit zerbrochenen oder verrammelten Fenstern, Stockfisch-Läden, ordinäre Kneipen, Häuser ganz ohne Türen. Man sah hier mehr Männer als Frauen; die Männer schoben Karren voll alter Flaschen oder Lumpen vor sich her, oder sie standen in Gruppen zu dreien und vieren schwatzend, zankend vor den Kneipen. Hier und da schlenderten sie auf dem Fahrdamm oder an den Gossen sehr langsam dahin, als versuchten sie, sich zu erinnern, ob sie denn wirklich lebendig seien. Ab und zu kam irgend ein junger Mensch mit einem gewalttätigen Ausdruck im Gesicht vorüber, mürrisch seinen Karren vor sich herstoßend. Dann und wann trat aus einem der Stockfisch- oder Eisenwarenläden ein Mann mit schmieriger Schürze heraus, um sich ein bißchen zu sonnen und Umschau zu halten, ohne daß er indes irgend etwas zu sehen schien, das ihn aufregte, oder ihm die gute Laune verdarb. Inmitten dieses sich langsam vorwärts arbeitenden Verkehrsstromes konnte man hier und da Frauen bemerken, die in Zeitungspapier eingewickeltes Essen trugen oder Bündel in Tüchern. Die Gesichter dieser Frauen waren entweder sehr rot und gemein oder bläulichweiß; sie trugen den Ausdruck von Geschöpfen, die da wissen, daß sie ein Dasein leben, wie das Schicksal es nun einmal für sie bestimmt hat. Weder Verwunderung noch Auflehnung, noch Unmut oder Scham trat je in diesen Gesichtern zutage; statt dessen äußerte sich bei ihnen nur eine dumpfe, gefühllose Ergebung oder eine mechanische, rohe Lustigkeit. Ihrer Beschäftigung nachzugehen, war ihnen jahraus jahrein tägliche Gewohnheit; da gab es nur ein Sichfügen. Da sie weder hoffen durften, daß es ihnen je besser ergehen würde, noch imstande waren, sich eine andere Art Leben vorzustellen, verschwendeten sie nicht erst Kraft an den Versuch, zu hoffen oder zu träumen. Hier und da schleppten sich wohl auch langsam alte Männlein und Weiblein vorüber, wie Winterbienen, die durch irgend einen unglücklichen Zufall vergessen haben, im Sonnenlicht ihrer Schaffenszeit zu sterben.
Thymian sah, wie in der Mitte der Straße ein Bierwagen langsam dahergerattert kam. Er wurde von drei Pferden gezogen, die geflochtene Schwänze und banddurchzogene Mähnen hatten; das Messing an ihrem Geschirr schimmerte hell in der Sonne. Hoch oben, gleich einer Gottheit, thronte der Kutscher, seine schmalen Schlitzaugen über den vollen roten Wangen regungslos auf die Helmbüsche seiner Pferde gerichtet. Hinter ihm rollte mit leisem, unaufhörlichem Knirschen der Wagen voller Gebinde, auf denen sein Mitfahrer schlafend lag. Wie das stumme Abbild einer gewaltigen, dräuenden Macht zog das Gefährt vorüber, als sei es stolz darauf, daß sein gewaltiger Leib alle Wonne, alle Seligkeiten barg, die jene Schatten von der Straße je erfuhren.
Die beiden jungen Leute kamen jetzt an die Hauptstraße, die sich nach Ost und West weiter dehnte.
»Hier hinüber,« sagte Martin, »und dann weiter nach Kensington. Jetzt gibt's nichts Interessantes mehr, bis wir zur Hound-Street kommen. Daherum sind nur Purceys und nichts als Purceys!«
Thymian schüttelte sich.
»Ach, Martin, wir wollen doch durch eine Straße gehen, wo man ein bißchen Luft und Licht hat. Ich fühl mich so schmutzig!« Sie legte die Hand auf ihre Brust.
»Da ist gleich eine,« sagte Martin.
Sie wandten sich nach links in eine mit Bäumen bepflanzte Straße. Jetzt, wo sie wieder atmen und um sich blicken konnte, hielt Thymian ihren Kopf hoch emporgehoben und reckte die Arme.
»Martin, etwas muß da geschehen!«
Der junge Arzt antwortete nicht; sein Gesicht sah immer noch blaß, ironisch beobachtend aus. Er drückte ihr mit einem halb spöttischen Lächeln den Arm.