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Neunzehntes Kapitel

Bianca

Am selben Nachmittag stand Bianca in ihrem Atelier vor dem Bildnis des kleinen Modells – jener Gestalt mit den halbgeöffneten, mattroten Lippen und den fremdartigen blaßblauen Augen, die aus dem Dämmer ins Lampenlicht starrten.

Sie runzelte die Stirn, als sei ihr dieses Werk leid, das imstande war, ihre anderen Bilder zu verdunkeln. Welche Macht hatte sie gezwungen, so etwas zu malen? Was mochte sie empfunden haben, während das Mädchen vor ihr gestanden hatte, regungslos, wie eine bleiche Blüte in einem Glas Wasser? Liebe war es nicht – es lag keine Liebe in der Darstellung jener Zwielichtgestalt; auch Haß war es nicht – es war kein Haß in der Art, wie sie das stumme Flehen veranschaulicht hatte. Und doch lag in dem Bildnis dieses Schattenmädchens zwischen Dunkel und Lichtglanz, eine geheimnisvolle Kraft, die die Künstlerin getrieben hatte, etwas zu schaffen, das den Beschauer lange im Bann hielt.

Bianca wandte sich um und trat vor das Porträt ihres Gatten, das sie vor zehn Jahren gemalt hatte. Sie blickte von dem einen Bild zum andern, und ihre Augen wurden hart und scharf wie Dolchspitzen.

In den intimeren Beziehungen der Menschen gibt es einen Punkt, über den hinaus sich weder Männer noch Frauen über ihre Gefühle ganz ehrlich Rechenschaft ablegen – sie empfinden da eben zuviel. Es war auch Biancas Schicksal, allzu reichlich mit jener Eigenschaft ausgestattet zu sein, die mehr als irgend eine andere über den wahren Wert eines Menschen täuschen kann. Ihr Stolz war es, der sie von Hilary fernhielt, bis sie fühlte, daß sie ihn verloren hatte. Ihr Stolz hatte sich gegen diesen Verlust so empört, daß sie begann, ein von dem seinen vollständig getrenntes Leben zu führen. Ihr Stolz hatte sie zu jenem Benehmen gezwungen, das da andeutet: »Lebe du dein Leben; ich würde mich schämen, dir zu zeigen, daß mir an den guten Beziehungen zwischen uns viel gelegen ist.« Ihr Stolz hatte sie nicht erkennen lassen, daß sich bei ihr hinter dem Schleier spöttelnder Vorurteilslosigkeit ein echtes Frauenherz barg, treu seinen Pflichten, hungrig nach Liebe und Beachtung. Ihr Stolz wollte die Welt nicht merken lassen, daß in ihrer Ehe irgend etwas nicht stimmte. Und ihr Stolz verhinderte sogar, daß Hilary sich recht bewußt wurde, was an ihrem zerstörten Eheleben die Schuld trug: ihre unbeherrschbare Sehnsucht nach Wertschätzung, beherrscht von unbezwingbarem Stolz. Zu Hunderten von Malen hatte ihn die Dornenhecke ihrer Natur zurückgeschreckt. Bei jedem neuen Annäherungsversuch wurde etwas in ihm verwundet, bis auch die letzten Wurzelfasern einer einstigen Zuneigung verdorrt waren. Sie hatte die Geduld eines Mannes erschöpft, der, seinen Handlungen und seinem Wesen nach, von Natur langmütig gegen die Fehler anderer war. Unter dem Anschein von gegenseitiger Liebenswürdigkeit und Rücksicht – denn ihr guter Geschmack hatte sie trotz allem nicht verlassen – war diese Tragödie des Weibes, das geliebt sein will und das doch allmählich die Liebesmöglichkeit in dem Manne ertötet, Jahr um Jahr weitergegangen. Für Hilary hatte es aufgehört, eine Tragödie zu sein; der Nerv seiner Liebe war vollkommen tot – langsam aus ihm herausgefroren. Bei Bianca war es noch lebendige Tragödie; in ihr war das eifersüchtige Sichsehnen nach feiner Liebe noch nicht erstorben. Überdies sagte ihr ein Instinkt mit bitterem Hohn, daß, wäre er ein brutalerer Mensch gewesen, – einer, der ihr den Herrn zeigte – er hätte die trennende Hecke doch wohl niedergerissen. Das erweckte in ihr einen geheimen Groll gegen ihn, die Überzeugung, daß nicht sie es war, die Schuld an der Entfremdung trug.

Der Stolz war Biancas Verhängnis, ihr Zauber und ihre Eigenart. Wie ein schattiger Hügelabhang hinter schimmernden Streifen entschwindenden Sonnenlichtes, so war sie in lächelnden Stolz gehüllt – sich selbst fast ein Geheimnis. Dieser Stolz spielte sogar in viele ihrer großmütigen Regungen hinein, in ihr Wohltun, das fast heimlich geschah, und um dessentwillen sie sich selbst verspottete. Sie spottete überhaupt ständig über ihre eigene Person, selbst darüber, daß sie Kleider von einer Farbe trug, die Hilary gern mochte. Sie hätte nicht zugegeben, daß ihr daran lag, ihm zu gefallen.

Wie sie da zwischen den zwei Bildern stand, den Malstock an ihre Brust gedrückt, gemahnte sie ein wenig an das Bild einer italienischen Heiligen, die sich den Märtyrerdolch ins Herz stößt. – –

Jene Persönlichkeit, die in Cecilia einmal die Erinnerung an Italien erweckt hatte – Hughs – war während der letzten acht Stunden durch die Straßen gezogen und hatte in seinem Wagen die Abfälle des Lebens aufgesammelt. Er hatte dabei durchaus nicht den Anblick eines von den Leidenschaften der Liebe oder des Hasses gepeinigten Menschen dargeboten. Während der ersten zwei Stunden hatte er sein Pferd gelenkt, ohne irgendwelchen besonderen Ausdruck in seinem dunklen Gesicht. Seine stramme Soldatengestalt steckte in der Uniform, die ihm, wie ›Westminster‹ behauptet hatte, ein ›schrecklich ausländisches Ansehen‹ gab. Dann und wann hatte er wohl mit seinem Pferd geredet; aber sonst hatte er sich die ganze Zeit über still verhalten. In den folgenden zwei Stunden war er, eine Schaufel handhabend, hinter dem Wagen hergegangen, und noch immer zeigte sich in seinem derben, breiten Gesicht mit dem kleinen, dunklen Schnurrbart und den noch dunkleren Augen kein Merkmal irgend eines inneren Konfliktes. So verbrachte er den Tag. Abgesehen von der Tatsache, daß Männer überhaupt nicht dazu neigen, ihre innersten Gefühle zur Schau zu tragen, hatte Hughs durch ein seit seinem zwanzigsten Jahre dem Vaterlande gewidmetes Leben, zuerst als Soldat, dann in der mehr beschaulichen Stellung eines Straßenfegers, einen gewissen Ernst angenommen. Das Leben hatte ihn mit der Stumpfheit jener Menschen ausgestattet, denen es ganz gleich ist, auf welche Weise sie ihr Brot erwerben. Hätte Hughs seiner Neigung folgen oder sein Leben nach eignem Gefallen gestalten können, man hätte ihn schwerlich zum gemeinen Soldaten gemacht. Noch weniger hätte man ihn, bei seinem Rücktritt von diesem Beruf, der ihm eine ehrenvolle Wunde eingetragen, aus vielen anderen Bewerbern heraus zum Straßenfeger bestellt.

Er hatte nie gelernt, seine Gedanken zu äußern, und seit seiner Verwundung fühlte er mitunter eine verzweifelte Leere in seinem Hirn. Es darf daher nicht wundernehmen, daß er oft einer falschen Beurteilung ausgesetzt war, namentlich durch jene, die nichts weiter mit ihm gemein hatten, als einen ziemlich nebensächlichen Umstand – das gemeinsame Menschentum. Die Dallisons hatten ihn ebenso falsch, aber nicht falscher beurteilt, als er von ihnen dachte, da er, wie ›Westminster‹ sich gegen Hilary geäußert hatte, ›über die feinen Leute so hergezogen war‹. Er war wie ein zerschlitzter Ofenschirm, wie ein geborstenes Schiff, durch dessen Risse Licht hinausdringt.

Nach einem oder zwei Glas Bier, denen sein armer, verwundeter Kopf nicht mehr standhielt, wurde er sofort ›schrecklich ausländisch‹. Leider war es seine Gewohnheit, nach beendeter Arbeit im ›Grünen Baum‹ vorzusprechen. An jenem Nachmittag waren aus dem einen Glas drei geworden, und während er das Lokal verließ, stieg plötzlich in ihm die unklare Vorstellung auf, daß es eigentlich seine Pflicht sei, sich mal das Haus näher anzusehen, wo das Mädchen, in das er so vernarrt war, ›ihre Possen trieb‹. Seine soldatische Gewohnheit keinen Klatsch weiter zu tragen, kämpfte hart mit diesem Pflichtgefühl; und er war sich über seine Empfindungen noch nicht klar, als er schon vor dem Hause stand, die Klingel zog und nach Mrs. Dallison fragte. Die Disziplin zog jedoch wieder ihre Maske über sein Gesicht, und er blieb vor Bianca ›stramm‹ stehen, die dunklen Augen gesenkt, die spitze Mütze mit beiden Händen umklammernd.

Bianca betrachtete neugierig die Narbe auf der linken Seite seines kurz geschorenen, dunklen Kopfes.

Was Hughs auch immer zu sagen haben mochte, leicht fiel es ihm nicht.

»Ich bin hergekommen,« begann er endlich in trotzigem Ton, »damit Sie alles erfahren. Ich hab nie in dies Haus kommen wollen. Ich hab' nie einen von hier sehen wollen.«

Bianca bemerkte, daß seine Lippen und Augenlider in einer Weise zitterten, die zu seinem sonstigen stumpfen Wesen wenig stimmte.

»Meine Frau hat mich gewiß bei Ihnen verklatscht. Sie hat wohl gesagt, ich hätt' sie geschlagen, nich wahr? Mir is gleich, was sie Ihnen vorredet oder den andern, wo sie arbeitet. Aber ich will bloß das Eine sagen: Ich hab' sie nie angefaßt bis neulich, wo sie mit mir angefangen hat. Da sehen Sie! Da hab' ich noch die Spuren davon!« und seinen Ärmel hochstreifend, wies er auf eine Kratzwunde an seinem sehnigen, tätowierten Arm. »Ich bin nich wegen ihr hergekommen,« fuhr er fort, »denn das geht niemand nichts an.«

Bianca wendete sich ihren Bildern zu. »Nun,« meinte sie, »weshalb sind Sie denn gekommen? Sie sehen, ich bin beschäftigt.«

Hughs' Gesicht veränderte sich. Die Stumpfheit verschwand daraus, der Blick wurde hastig, wild, springend wie ein dunkler Sturzbach. Nie hatte sie einen Mann so voll lebendigen Lebens gesehen. Hätte eine Frau ihr so gegenübergestanden, sie würde – wie Cecilia bei Mrs. Hughs – das Unpassende, Unverschämte dieser Zurschaustellung von Gefühlen empfunden haben; aber das Weib in ihr fühlte sich durch diese männliche Gewalt eigentümlich angezogen. So lodern im Frühling, wenn alles grau und düster scheint, Hecken und Bäume plötzlich auf, den purpurnen Wolken entgegen, ihr ganzes Gezweig in Flammen. Im nächsten Augenblick ist jener lichte Spuk geschwunden, die Wolken sind nicht länger purpurn, nicht mehr zittert und hüpft feuriges Leuchten über die Heckenreihen. Ebenso rasch war die Leidenschaft in Hughs Gesicht erloschen. Bianca hatte ein Gefühl von Enttäuschung; fast, als hätte sie gewünscht, daß ihr Leben mehr solcher Momente enthielte. Er warf ihr einen scheuen Blick zu aus seinen dunklen Augen, die, wenn er sie zusammenkniff, etwas Samtnes bekamen, wie der Körper einer wilden Biene; dann schnellte er den Daumen nach dem Bild des kleinen Modells hin.

»Wegen ihr will ich mit Ihnen reden!«

Bianca sah ihn kalt an.

»Ich habe nicht das geringste Verlangen, etwas davon zu hören.«

Hughs blickte umher, als suche er etwas, das ihm das Weiterreden erleichtern könnte; da fiel sein Auge auf Hilarys Porträt.

»Ich tät' die zwei zusammengeben, wenn ich an Ihrer Stelle wär!« sagte er hastig.

Bianca schritt an ihm vorbei auf die Tür zu.

»Entweder gehen Sie, oder ich verlasse das Zimmer!«

Aus dem Gesicht des Mannes sprach weder Feindseligkeit noch Leidenschaft, sondern nichts als Jammer.

»Sehen Sie, Madam,« begann er, »Sie müssen's mir nich übel nehmen, daß ich hergekommen bin. Ich bin gar nich drauf aus, Ihnen was Böses zu tun. Ich hab' meine Frau zu Haus, und Gott weiß, was ich mir von ihr mit anhören muß, alles von wegen diesem Mädchen. Nächstens geh' ich noch ins Wasser. Es ist wegen dem, daß er ihr die Kleider geschenkt hat; das hat mich drauf gebracht, herzukommen.«

Bianca öffnete die Tür. »Bitte, gehen Sie,« herrschte sie ihn an.

»Ich bin schon mucksstill und geh,« brummte er und ging mit gesenktem Kopf hinaus.

Nachdem sie ihn durch den Seiteneingang auf die Straße hinausgelassen hatte, ging Bianca zurück, dorthin, wo sie gestanden hatte, ehe er kam. Das Schlucken wurde ihr ein wenig schwer; und zum ersten Mal hatte ihr Gesicht seine Maske abgelegt. So stand sie eine Zeitlang da, ohne sich zu regen; dann stellte sie die Bilder auf ihren Platz zurück und ging durch den kleinen Verbindungsgang in das Haus hinüber. Vor ihres Vaters Tür blieb sie lauschend stehen, dann drückte sie leise die Klinke herunter und trat ein.

Stone, der ein paar Blatt Papier in der Hand hielt, diktierte eben dem kleinen Modell, das, mit dem Kopf fast auf dem Arm liegend, eifrig schrieb. Sie hielt bei Biancas Eintritt inne. Stone unterbrach sich nicht, sondern sagte nur, die andere Hand hebend:

»Wir wollen die letzten drei Seiten noch einmal durchgehen. Folgen Sie gut!«

Bianca setzte sich ans Fenster.

Die Stimme ihres Vaters klang – leise und langsam und Silbe von Silbe scharf getrennt – wie die verkörperte Eintönigkeit:

»Es ließen sich tatsächlich in jenen Tagen gewisse schüchterne Versuche zu einer Klassenverschmelzung nachweisen ...«

Die Stimme sprach weiter, monoton, ohne je anzuschwellen oder sich zu senken, als wüßte der Vorlesende, daß er noch eine weite Strecke vor sich hatte, wie ein Läufer, der wichtige Botschaft über Berge, Flüsse und Ebenen trägt.

Für Bianca hätte jene dünne Stimme ebenso gut das gewohnte Säuseln des Windes sein können, so ungeteilt richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die Kleine, die dasaß und mit der Federspitze die Worte auf den Seiten verfolgte.

Mr. Stone unterbrach sich.

»Haben Sie das Wort ›krankhaft‹?« fragte er.

Die Kleine hob das Gesicht: »Ja wohl.«

»Streichen Sie es!«

Den Blick auf die Bäume draußen geheftet, atmete der alte Mann hörbar. Die Kleine bewegte ihre steifgewordenen Finger, um sie wieder gelenkig zu machen. Biancas seltsames, lächelndes Forschen ließ nicht von ihr, als wolle sie sich das Bild des Mädchens unauslöschlich einprägen. Es lag etwas Erschreckendes in diesem Anstarren, das grausam war gegen sich selbst und grausam gegen das Mädchen.

»Ich finde das rechte Wort nicht,« sagte Stone. »Lassen Sie da Platz frei. Weiter! ... Weder jene freundliche, brüderliche Teilnahme von Mensch zu Mensch, noch ein Interesse für Naturerscheinungen als solche ...« Seine Stimme klang weiter eintönig, unaufhaltsam, und die Federspitze der kleinen Schreiberin glitt, seinen Worten folgend, immer noch über die Seiten. Plötzlich hielt Stone wieder inne, blickte seine Tochter an, als sei er erstaunt, sie da sitzen zu sehen und fragte:

»Willst du mich sprechen, Kind?«

Bianca schüttelte den Kopf.

»Weiter!« sagte Stone.

Aber die Augen der Kleinen hatten sich abgewandt und suchten verstohlen dem auf sie gerichteten, forschenden Blick zu begegnen.

Ein Ausdruck flog über ihr Gesicht, der zu sagen schien: »Was habe ich dir getan, daß du mich so anstarrst?«

Scheu und doch wie gebannt blieb ihr Auge an Bianca haften, indes ihre Hand sich, den Text mechanisch verfolgend, weiter bewegte. Und der stumme Augenzweikampf nahm seinen Fortgang – der Blick der Frau fest, grausam, lächelnd; der des Mädchens unsicher, grollend. Keine von beiden hörte ein Wort von dem, was der alte Mann las.

Stone machte wieder eine Pause, offenbar um die letzten Sätze noch einmal zu erwägen.

»Das ist richtig, denke ich,« murmelte er leise vor sich hin. Und dann redete er plötzlich seine Tochter an: »Bist du nicht auch meiner Ansicht, liebes Kind?«

Er erwartete anscheinend ungeduldig ihre Antwort.

»Ja, Vater, gewiß!«

»Ah,« meinte der alte Mann, »es ist mir lieb, daß du mir beistimmst. Mir lag daran. Weiter!«

Bianca erhob sich. Auf ihren Wangen brannten rote Flecke. Sie schritt zur Tür, und das kleine Modell folgte ihrer Gestalt mit einem langen, trotzigen, suchenden Blick.


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