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In ihrem Frühstückszimmer saß Mrs. Stephen Dallison an einem alten, eichenen Schreibtisch und versuchte ihre zerstreuten Gedanken zu sammeln. Sie lagen umher, da auf einem Stück Briefpapier, das die Worte ›Liebe Cecilia‹ oder ›Mrs. Tallents Smallpeace's Gesuch‹ zeigte, oder auf einem einzelnen Stückchen Pappe, auf dem die Namen von Theatern, Konzert- oder Ausstellungssälen standen, oder auch auf Briefbogen billiger Art, die mit den Worten ›Liebe Freundin‹ begannen und mit irgend einem Dutzendnamen wie ›Wessex‹ schlossen, so daß vorher kein Argwohn auftauchen konnte über das Bittgesuch, das zwischen Anfang und Ende stand. Sie hatte auch Bogen ihres eigenen Briefpapiers vor sich, die die Aufschrift ›76 Old Square, Kensington‹ trugen, und zwei kleine Bücher. Eines, in marmoriertem Glanzpapier, trug die Aufschrift: ›Bitte das Buch gut zu bewahren‹; quer über dem andern, das in die Haut irgend eines verstorbenen Tierchens gebunden war, lief die kurze Inschrift: ›Verabredungen‹.
Cecilia trug eine mattgrüne Seidenbluse mit Ärmeln, die ihre schlanken Hände ganz verdeckt hätten, wären nicht die silbernen, in Rosenform gearbeiteten Knöpfe gewesen, die sie an den Handgelenken zusammenhielten. Ihre Stirn war leicht gerunzelt, als ob sie sich darüber wunderte, wo ihre Gedanken überall umherirrten. So saß sie jeden Morgen da, um diese Gedanken einzusaugen und sie in dem einen oder anderen ihrer Büchelchen festzuhalten. Nur durch diese Mühe vermochte sie es, sich, den Gatten und die Tochter im nötigen Zusammenhang mit all den verschiedenen Vorgängen des Tages zu halten. Und gleichsam als Beweis dafür, daß sie sich wirklich ernsthaft mühte, hatte sie fast jeden Tag ihr kleines Kopfweh. Denn sie lebte ständig in der Furcht, einen der Vorgänge zu übersehen, oder sich von einem anderen allzusehr in Anspruch nehmen zu lassen. Es gab gar so viele interessante Menschen, so viele, die ihr und Stephen sympathisch waren und deren Verkehr sie gern gepflegt hätte, daß es von äußerster Wichtigkeit war, einen einzelnen nicht zu bevorzugen. Manchmal dachte sie fast mit einem Gefühl des Neides an Biancas ›glorreiche Vereinsamung‹, deren die Schwester sich jetzt erfreute. Freilich ahnte sie mehr davon, als sie positiv darüber wußte. Doch regte sich dieser Neid in ihr nicht häufig, denn sie war eine brave kleine Frau, der Stephen und sein Wohlergehen wichtiger als alles andere schien. Allzu viel Gedanken machte sie sich überhaupt nicht wegen dieser Dinge – vielleicht kaum mehr, als das Angorakätzchen auf ihrem Schoß, das auch stundenlang dasitzen konnte, emsig beschäftigt, nach seinem Schwanz zu haschen, mit einer Falte zwischen den Augen und ein wenig eingefallenen Backen.
Als sie sich endlich entschieden, welches der Konzerte sie aufgeben wollte, ihren Beitrag für den Verein zur ›Abschaffung der Büchsenmilch‹ gezeichnet und für die Einladung, dem Herabfallen eines Menschen aus dem Luftballon beizuwohnen, gedankt hatte, unterbrach sie sich. Dann tauchte sie die Feder von neuem ein und schrieb: »Mrs. Stephen Dallison bittet, ihr das gestern gewählte Kleid ungeändert sofort zuzusenden. An das Kaufhaus von Rose und Thorn. High Street, Kensington.« Während sie auf die Klingel drückte, dachte sie: »Da wird die arme Mrs. Hughs etwas zu tun bekommen. Ich glaube, sie wird es grad so gut machen können wie Rose und Thorn. – Lassen Sie, bitte, Mrs. Hughs hereinkommen.« – »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Hughs! Kommen Sie nur näher!«
Die Näherin, die bis in die Mitte des Zimmers getreten war, blieb mit schlaff herabhängenden Händen stehen. Nichts an ihr schien lebendig als der geduldig müde Blick ihrer großen braunen Augen. Sie stand da wie eine Rätselgestalt. Ihre Gegenwart rief in Cecilia stets eine gewisse Beklemmung hervor, als ob sie plötzlich einem Wesen gegenüberstände, das sie selbst sein könnte, hätte das Schicksal einige kleine Zufälligkeiten anders gefügt. Sie war sich wohl bewußt, daß sie hier Teilnahme empfinden sollte; und sie bemühte sich zu zeigen, daß es nichts Trennendes zwischen ihnen beiden gab.
»Na, kommen Sie mit den Vorhängen zurecht, Mrs. Hughs?« fragte sie freundlich.
»Ja, gnädige Frau.«
»Morgen habe ich noch eine Arbeit für Sie – ein Kleid zu ändern. Können Sie kommen?«
»Ja, gnädige Frau; ich danke gnädige Frau.«
»Geht's dem Baby gut?«
»Ja, gnädige Frau; ich danke, gnädige Frau.«
»Es hat keinen Zweck, von ihren häuslichen Angelegenheiten mit ihr zu reden,« dachte Cecilia; »nicht etwa, daß es mich nicht interessiert!« Aber da sie das Schweigen plötzlich peinlich empfand, sagte sie hastig: »Ist Ihr Mann jetzt besser zu Ihnen?«
Es kam keine Antwort; Cecilia sah, wie eine Träne langsam der Frau über die Wange lief.
»Oh weh, oh weh!« dachte sie, »das arme Ding! Nun bin ich dran schuld.«
Da begann Mrs. Hughs leise Stimme:
»Er is schrecklich, gnädige Frau. Ich hatt' mir schon vorgenommen, es Ihnen zu sagen. Er is schon die ganze Zeit so, seit das junge Mädchen« – ihr Gesicht wurde hart – »in der Stube da wohnt; es is grade, als ob er extra schlecht zu mir sein will.«
Cecilias Herz begann lebhafter zu klopfen; es war wie das angenehm erregte Herzklopfen, das man bei den Liebesschicksalen anderer Leute, seien sie auch schmerzlicher Art, empfindet.
»Sie meinen das kleine Modell?« fragte sie.
Die Näherin antwortete erregt: »Ich will ja nichts gegen sie sagen, aber sie hat ihn geradezu behext; ja, das hat sie ganz gewiß. Es is grad, als ob er von nichts anderem mehr reden könnte, und immer lungert er um ihr Zimmer rum. Das war neulich mein Kummer, als ich die gnädige Frau getroffen hab'. Und seit gestern Mittag – wo Mr. Hilary da war – da is er fuchswild – und stößt mich – und – und –« Ihre Lippen versagten, und da es nicht anging, vor Höhergestellten zu weinen, schluckte sie die Tränen herunter, und in ihrem dünnen Hals bewegte sich etwas auf und nieder.
Bei der Erwähnung von Hilarys Namen hatte Cecilias prickelnde Erregung sich verändert; es war jetzt Neugier, Furcht und Ärger, was sie empfand.
»Ich verstehe Sie nicht ganz,« sagte sie.
Die Näherin fältelte ihren Rock zusammen. »Ich kann ja nichts dafür, wenn er so redet, gnädige Frau. Ich möcht' weiß Gott die schlimmen Dinge, die er über Mr. Hilary sagt, nich wiederholen. Es is grad, als ob er den Verstand verloren hätt', wenn er anfängt von dem jungen Dinge zu reden.«
Sie sprach diese letzten Worte in fast heftigem Tone.
Cecilia war im Begriff zu sagen: »Genug, hören Sie auf; ich will nichts mehr wissen,« aber ihre Neugier und eine sonderbare leise Furcht zwangen sie, statt dessen zu wiederholen: »Ich verstehe nicht ganz. Meinen Sie, er will behaupten, daß Mr. Hilary irgend etwas – mit diesem Mädchen zu tun hat, oder was sonst?« Und sie dachte bei sich: »Ich will dem ein Ende machen, auf alle Fälle.«
Das Gesicht der Näherin war ganz verzerrt vor Anstrengung, ihre Stimme zu beherrschen.
»Ich hab' ihm gesagt, es is niederträchtig von ihm, solche Dinge zu reden, gnädige Frau und Mr. Hilary is ein so freundlicher Herr, und was ihn das kümmerte, hab' ich gesagt, er hätt' doch seine Frau und Kinder. Ich bin ihm auf der Straße nachgegangen, ich hab' aufgepaßt – als ich bei Mrs. Hilary nähte – wie er immer ums Haus herumgestrichen is und auf das Mädchen gewartet hat – und ihr nachgegangen is –« wieder versagten ihre Lippen den Dienst, und sie schluckte die Tränen hinunter.
Cecilia dachte bei sich: »Ich muß es sofort Stephen sagen, der Mann ist ja gefährlich.« Ihr Herz krampfte sich zusammen; unklare Empfindungen, die sie früher schon bedrängt hatten, stellten sich jetzt mit erneuter Kraft wieder ein. Ihr war, als sähe sie das Antlitz des gemeinen Lebens die Familie Dallison anstarren. Mrs. Hughs Stimme, die sie mit aller Gewalt zu beherrschen suchte, begann von neuem:
»Ich hab' zu ihm gesagt: Was hast du eigentlich vor? Und wo Mrs. Hilary so gut zu mir war! Aber wenn er getrunken hat, dann is er wie ein Wahnsinniger, und er sagt, er will zu Mrs. Hilary gehen.«
»Zu meiner Schwester? Wozu? Der Raufbold!«
Als sie ihren Mann ›Raufbold‹ nennen hörte, da flog etwas wie Haß über Mrs. Hughs' Gesicht. Ein Erröten und Zittern lief darüber hin. Im Laufe des Gespräches hatte sich die Stellung der beiden Frauen zu einander merkwürdig verändert. Es war, als ob jede genau wußte, wieviel Sympathie und Vertrauen sie von der anderen zu erwarten hätte. Grad, als ob das Leben plötzlich eine Nebelwand hinweggezogen hätte und sie beide nun, durch einen tiefen Abgrund getrennt, einander gegenüberständen. In Mrs. Hughs' Augen war der Blick jener Menschen, die schweigen müssen aus Furcht, das Stückchen Grund und Boden unter sich zu verlieren, auf dem sie stehen. Und Cecilia's Augen blickten kalt und beobachtend. »Ich empfinde Teilnahme,« schienen sie zu sagen, »jawohl; aber du mußt doch begreifen, daß du keine Teilnahme erwarten darfst, wenn deine Angelegenheiten die Mitglieder meiner Familie bloßstellen.« – Sie wünschte lebhaft, sich jetzt von der Gesellschaft dieser Frau zu befreien, die so gereizt worden war, daß nun zum Vorschein kam, was eigentlich hinter ihrer stumpfen, eigensinnigen Fügsamkeit verborgen lag. Das war nicht Gefühllosigkeit bei Cecilia, sondern die natürliche Folge ihrer Erregung. Ihr Herz war wie ein Vogel, der in seinem Messingkäfig Angst bekommt, wenn er in der Ferne eine Katze sieht. Aber so leicht verlor sie ihre Geistesgegenwart nicht, und sie bemerkte ruhig: »Sagten Sie mir nicht, Ihr Mann sei in Südafrika verwundet worden? Mir scheint, als wäre er nicht ganz... Ich glaube, Sie sollten einen Arzt fragen!«
Die Antwort der Näherin, die ganz langsam und trocken herauskam, war schlimmer als vorher ihre Erregung.
»Nein, gnädige Frau, verrückt is er nich!«
Cecilia war zum Kamin hinübergegangen, dessen dunkelblaue Kacheln sie erst nach langem Suchen aufgetrieben hatte. Unter einer Reproduktion von Botticelli's ›Primavera‹ blieb sie stehen und sah ungewiß zu Mrs. Hughs hinüber. Das Angorakätzchen, das sie noch an sich gedrückt hielt, blickte aufgestört aus verschlafenen Augen zu ihr auf. »Befaß dich mal mit mir,« schien es zu sagen; »ich verdien' es wohl; ich gehör' zu dir und allem, was um dich ist. Wir sind beide elegant und schlank, wir beide lieben Wärme und Kätzchen; wir beide mögen es nicht, daß uns jemand an den Pelz kommt. Du hast lange Zeit gebraucht, mich auszusuchen, weil du etwas Tadelloses haben wolltest. Sieh dir die Frau da drüben an! Heut morgen habe ich auf ihrem Schoß gesessen, während sie deine Vorhänge nähte. Sie hat hier nichts zu suchen; sie ist nicht, was sie zu sein scheint; sie kann beißen und kratzen, das weiß ich. Ihr Schoß ist hart; Wasser tropft aus ihren Augen nieder. Sie hat mir den ganzen Rücken naß gemacht. Nimm dich in acht, sonst macht sie dir auch deinen naß.«
In Cecilia war viel von dem Angorakätzchen – Schmiegsamkeit und Freude an hübschen Dingen, Anhänglichkeit an ihr Heim mit seiner seinen künstlerischen Ausstattung, Liebe zu ihrem Gefährten und ihrer Kleinen, zu Thymian, und eine Scheu vor Belästigung. Und all das erweckte ein Verlangen in ihr, diese Frau so rasch wie möglich aus dem Zimmer zu entfernen, diese Frau mit der dürftigen Gestalt und den sonderbaren Augen, in denen trotz aller geduldigen Ergebung etwas herb Entschlossenes lag. Diese Frau, die eine Atmosphäre von häßlichem Kummer, von Bedrohung und Verleumdung mit sich brachte. Umsomehr trug sie Verlangen danach, als der Näherin in ihrer hilflosen Haltung anzusehen war, daß auch sie gern ein behagliches Dasein gehabt hätte. Bei Dingen wie diesen zu verweilen, hieß, sich älter fühlen als achtunddreißig.
Cecilia hatte keine Tasche, da die Mode sie in den Damenkleidern seit längerem beseitigt hatte; aus ihrem kleinen Pompadour aber zog sie die beiden wichtigsten Attribute einer Dame. Und während sie ihre Nase, die, wie sie fürchtete, unangenehm gerötet war, sacht in dem einen barg, suchte sie in dem anderen. Und wieder blickte sie ungewiß auf Mrs. Hughs. Ihr Herz sagte: »Gib der armen Frau ein Goldstück; vielleicht tröstet es sie!« Aber ihr Verstand meinte: »Ich habe ihr viereinhalb Shilling zu bezahlen; nach all dem, was sie von ihrem Mann und jenem Mädchen und Hilary erzählt hat, ist es vielleicht nicht ratsam, ihr mehr zu geben.« Sie hielt ihr fünf Shilling hin, und dabei sagte sie hastig: »Ich will gelegentlich meiner Schwester mitteilen, was Sie erzählt haben; Sie können Ihrem Mann das sagen!«
Kaum hatte sie es jedoch ausgesprochen, als sie aus einem leisen, aber durchaus nicht fröhlichen und sofort wieder verlöschenden Lächeln sah, daß Mrs. Hughs ihr nicht glaubte; sie schloß daraus, daß die Näherin von Hilarys sonderbarem Interesse für das kleine Modell überzeugt war.
Hastig sagte sie:
»Sie können jetzt gehen, Mrs. Hughs.«
Mrs. Hughs verließ schweigend und geräuschlos das Zimmer.
Cecilia kehrte zu ihren umherflatternden Gedanken zurück. Da lagen sie still in einem Sonnenstrahl, der vom niedrigen Fenster her sich über sie breitete und ihre Wichtigkeit etwas verblassen ließ. Cecilia hatte plötzlich die Empfindung, daß es gar nicht sehr in Betracht käme, ob sie und Stephen im Interesse der Wissenschaft zusahen, wie der Mann aus dem Ballon fiel, oder ob sie im Interesse der Kunst Herrn v. Kraaffe seine polnischen Lieder singen hörte; fast änderte sie auch ihre Meinung zugunsten der Büchsenmilch. Nachdem sie bedächtig ihre Mitteilung an das Geschäft von Rose und Thorn zerrissen hatte, schloß sie den Schreibtisch und verließ das Zimmer.
Während sie die Treppe hinabstieg, deren altes Eichengeländer jedem Kenner eine rechte Freude sein mußte, sagte sie sich, wie töricht es wäre, sich durch ein unklares, häßliches Gerede, das im Grunde sie ja nicht unmittelbar anging, in ihrer morgendlichen Beschäftigung stören zu lassen. Und Stephens Ankleidezimmer betretend, blieb sie stehen und betrachtete seine Stiefel.
In jedem einzelnen steckte ein hölzerner Leisten, so zu sagen seine hölzerne Seele; keiner der Stiefel zeigte Falten oder Risse. Sobald sie abgetragen waren, nahm man ihnen die hölzerne Seele heraus und gab ihren Körper irgendwelchen Armen, indes die hölzernen Seelen sofort auf andre lederne Körper übergingen. Und im Zusammenhang mit dieser Beobachtung brachte einer ihrer umherflatternden Gedanken sie darauf, wenn möglich einen Vortragszyklus über die Seelenwanderung anzuhören.
Wie sie so auf jene glänzende Reihe von Stiefeln blickte, fühlte Cecilia sich vereinsamt und unbefriedigt. Stephen war vom Gericht in Anspruch genommen, Thymian von ihrer Kunst. Beide hatten ihre bestimmte Beschäftigung. Sie allein mußte, wie es schien, hübsch still zu Hause sitzen, das Menu bestimmen, Briefe beantworten, Einkäufe und Besuche machen und ein Dutzend Dinge tun, die doch nicht verhindern konnten, daß ihre Gedanken immer wieder zu der Erzählung jener Frau zurückkehrten. Sie dachte nicht oft über ihre Lebensführung nach, die derjenigen vieler Hunderte von Frauen in London glich, und die sie angeblich nicht ertragen konnte, indes sie sie doch recht gut ertrug. Im allgemeinen hielt sie mit praktischem Verstand ihren prüfenden Blick wohlwollend auf jedes der kleinen Geschehnisse gerichtet, und es freute sie, Ordnung zu schaffen in dem chinesischen Wirrwarr ihrer zerflatterten Gedanken, indem sie bei jedem kleinen Erlebnis mit einem gewissen vorsichtigen Behagen verweilte. Stephen zog sie dabei mit sich, soweit er das zuließ. Seit dem letzten Jahr etwa, da Thymian erwachsen war, empfand sie merklich den Verlust eines Lebenszweckes und einen Gewinn an freier Zeit. Sie wußte nicht recht, sollte sie froh oder traurig darüber sein. Es gab ihr Muße, sich mit mehr Dingen, mehr Menschen und vor allem mehr mit Stephen zu beschäftigen, aber es ließ eine kleine Lücke in ihrem Herzen zurück, ein Gefühl des Wundseins. Was würde Thymian denken, wenn sie die Geschichte von ihrem Onkel hörte? Der Gedanke gab zu einer ganzen Reihe von Zweifeln Anlaß, die ihr in letzter Zeit schon wiederholt gekommen waren. Würde ihre kleine Tochter einmal so werden wie sie selbst? Und wenn nicht, was war der Grund? Stephen scherzte gern über die kurzen Röcke seiner Tochter, über ihr Hockey, über ihre Freundschaft mit jungen Männern. Und er scherzte über die Art, in der sich Thymian sein Spötteln über ihre Kunst oder ihr Interesse für die ›unteren Volksschichten‹ verbat. Für Cecilia hatte sein Scherzen etwas Aufreizendes. Denn sie gewahrte, mehr vermöge ihres weiblichen Instinkts als durch überlegtes Beobachten, daß sich eine merkwürdige Veränderung in den Beziehungen der Jugend vollzog. Nicht mehr in derselben Weise wie zu ihrer Zeit fühlten sich die jungen Männer zu den Mädchen hingezogen. Es lag eine freundliche Nüchternheit in ihrer Art, miteinander zu verkehren, fast etwas wie gleichgültige Höflichkeit. Und Cecilia sagte sich mit Besorgnis, wieweit das wohl gehen sollte. Sie konnte da offenbar nicht mehr folgen. Wenn diese jungen Menschen gar so ernsthaft werden wollten, wenn einem jungen Mann gewissermaßen nichts mehr an der Farbe von Thymians Augen oder Haar oder Kleid gelegen war, was war dann noch von Wichtigkeit, was blieb dann noch, woran einem etwas gelegen sein konnte!
Nicht etwa, daß sie ihre Tochter bald zu verheiraten wünschte! Daran zu denken war Zeit, wenn sie Mitte der Zwanzig sein würde. Aber ihre eignen Erfahrungen waren so ganz andre gewesen. Sie hatte soviel Stunden ihrer Jugend damit verbracht, über die Männer nachzudenken, hatte soviele verstohlene Männerblicke auf sich gerichtet gesehen. Und jetzt schien bei den jungen Männern und Mädchen gar nichts mehr übrig geblieben zu sein, was des Nachdenkens über den anderen oder verstohlenen Hinblickens wert war. Aber Cecilia war nicht philosophisch veranlagt, und sie hatte Stephens Scherzen keine tiefere Bedeutung beigelegt.
Sie glaubte nur, wenn es so fortginge, drohe die Rasse zu erlöschen; in Wahrheit aber war nur ihr besonderer Typ im Verschwinden, was für sie freilich dasselbe bedeutete. Und während sie ihren Blick auf Stephens Stiefelreihe richtete, dachte sie: »Wie soll ich's verhindern, daß das, was ich gehört, Bianca zu Ohren kommt? Ich weiß, wie sie es aufnehmen würde. Wie soll ich es verhindern, daß Thymian es erfährt? Ich bin nicht gewiß, welche Wirkung es auf sie haben würde. Ich muß mit Stephen reden; er hängt so an Hilary.«
Und indem sie sich von Stephens Stiefeln fortwandte, sann sie weiter: »Natürlich ist das alles Unsinn. Hilary ist viel – viel zu empfindlich, zu ästhetisch veranlagt, als daß er hier etwas anderes als bloße Teilnahme empfinden könnte; aber bei seiner Güte könnte er leicht in eine schiefe Position kommen und – das ist alles so häßlicher Blödsinn. Bi kann so unangenehm sein; und besonders jetzt, wo sie nicht – gut mit ihm steht!« Und plötzlich tauchte in ihr der Gedanke an Purcey auf – an Purcey, der, wie Mrs. Tallents Smallpeace erklärt hatte, kaum wußte, daß es so etwas wie ein soziales Problem gab. Sich diesen Mann vorzustellen, hatte für sie in diesem Augenblick etwas Beruhigendes, als ob man sich gegen Zugluft in ein Tuch hüllt. Sie ging in ihr Zimmer und schloß ihren Garderobenschrank auf.
»Diese gräßliche Frau!« dachte sie, »ich möchte das enzianfarbene Kleid so gern fertig haben, aber jetzt kann ich es ihr einfach nicht zum Ändern geben.«