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Achtzehntes Kapitel

Der Idealhund

Hilary saß lange in der Sonne, beobachtete das helle, schimmernde Gewässer und die vielen Entlein, die um die Büsche kreisten, und mit ihren runden, hellen Augen nach Würmern spähten. Zwischen der Bank, auf der er saß, und dem spitzen Eisengitter kamen fortwährend Leute vorüber – Männer, Frauen, Kinder aller Art. Dann und wann hielt ein Entlein wohl inne, um einen verständnisvollen Blick auf jene Geschöpfe da oben zu werfen, als vergliche es deren Beschaffenheit und Gewandung mit seiner eigenen. »Wenn ich eure Erziehung gehabt hätte,« schien es zu sagen, »hätte ich mehr Nutzen daraus gezogen als ihr. Nie im Leben möchte ich eine so unangenehme Entengesellschaft sehen, wie ihr alle miteinander seid.« Und mit einer schnellen, aber energischen Bewegung seiner Flügel wandte es sich um, und eilte seinen Gefährten nach.

Für Hilary jedoch boten die munteren Entlein wenig Zerstreuung. Die sich allmählich entwickelnde Situation mußte zum Dilemma werden für einen Menschen, der mit dem Denken besser vertraut war als mit Taten, mit dem Aufbau von Begriffen besser als mit dem Gestalten von Begebenheiten. Er betrachtete die ganze Angelegenheit mit sonderbar erstaunten, fast spöttischen Augen. Stephen hatte ihn tief gereizt. Der Bruder hatte eine so merkwürdige Art, die Dinge herabzuzerren! Freilich, einem gewöhnlichen Beobachter mochte die Angelegenheit ziemlich lächerlich erscheinen. Was wohl ein Mensch mit Alltagsverstand, wie Purcey, davon halten mochte? Weshalb nicht, wie Stephen geraten hatte, die Sache einfach aufgeben? Aber einem hilflosen Mädchen seinen Schutz entziehen, in dem Augenblick, da er sich selbst gefährdet sah, das erschien ihm unwürdig. Ja, mußte sie denn ohne Schutz sein? Gab es nicht, wie Stephens Worte gelautet hatten, ›hunderterlei Dinge‹ bei ihr, von denen er nichts wußte? Ob sie andere Hilfsquellen hatte? Irgend eine Geschichte? Aber auch hier ließ sein Zartgefühl ihn innehalten: man spioniert nicht dem Privatleben andrer nach!

Die Sache war überdies durch die häuslichen Zustände in der Familie Hughs aussichtslos wirr. Kein gewissenhafter Mensch durfte diese Seite der Angelegenheit außer acht lassen – und welche Fehler Hilary auch haben mochte, Mangel an Gewissenhaftigkeit konnte man ihm nicht vorwerfen.

Inmitten dieser Betrachtungen kehrten seine Gedanken immer wieder zu Bianca zurück. Sie war sein Weib. Was immer er ihr gegenüber jetzt auch empfand, welcher Art auch ihre Beziehungen sein mochten, in eine falsche Situation durfte er sie nicht bringen. Es lag ihm auch nichts ferner als das; sowohl sie wie alle andern wünschte er vor Ärger und Aufregung zu bewahren. Er hatte Stephen gesagt, daß er nur ein rein beschützerhaftes Interesse an dem Mädchen nähme. Aber seit jener Nacht, da er sich im Mondlicht hinausgelehnt und die Frachtwagen nach dem Covent Garden-Markt hatte fahren hören, seit jener Nacht hatte eine sonderbare Empfindung sich seiner bemächtigt; es war die Erregung eines Menschen, der in leichtem Fieber liegt und dem Geräusch ferner Musik lauscht; es lag etwas Sinnliches aber nichts Quälendes darin.

Wer ihn so still dasitzen sah, den Kopf in die Hand gestützt, vermutete sicherlich, daß er sich eingehend mit irgend einem tiefen, schwierigen Problem beschäftigte, mit irgend einem großen Gedanken, der der Menschheit zugute kommen sollte. Denn Hilary hatte etwas an sich, daß jeden zwang, ihn sofort mit den höheren Menschheitsaufgaben in Verbindung zu bringen.

Die Sonne begann das langgestreckte, helle Gewässer zu verlassen.

Ein Fräulein und zwei Kinder kamen und setzten sich neben ihn. Und da geschah es, daß Miranda unter seinem Sitz das fand, wonach sie all ihr Lebtag gesucht hatte. Es besaß keinen Geruch, rührte sich nicht, war blaßgrau von Farbe, wie sie selbst. Kein Härchen fiel von ihm ab; sein Schwanz glich ihrem eigenen, es nahm sich keine Keckheiten heraus, war still, hatte keine Passionen, wollte sie zu nichts verleiten. Miranda stand ein paar Zoll von seinem Kopf entfernt, näher als sie jemals aus freiem Willen bei einem Hunde gestanden hatte, und zog seine Geruchlosigkeit mit einem langen, entzückten Schnüffeln ein, während in ihr Stirnfell ein paar Fältchen kamen; und aus den aufwärts gewandten Augen sprach ihre ganze bernsteinfarbene, kleine Seele. »Wie wenig gleichst du,« schien sie zu sagen, »all den anderen Hunden meiner Bekanntschaft! Es wäre mir eine Wonne, mit dir zu leben. Ob ich je wieder einen Hund wie dich finde?« – »Aus neuesten sterilisiertem Stoff – siehe das weiße Etikett unten: 4 s. 3 d.!« – – – Plötzlich fuhr ihre schlanke, graurosa Zunge heraus und leckte dem Gefährten die Nase. Das Tierchen rückte ein wenig ab und blieb dann stehen. Miranda sah, daß es auf Rädern war. Sie legte sich dicht an seine Seite; denn sie wußte, daß es der Idealhund war.

Hilary beobachtete, wie die kleine, bernsteinfarbene Dame wachsam, zärtlich dalag neben diesem Idealhund, der ihr nichts anhaben konnte. Sie keuchte leise, und ihre Zunge kam zwischen den Lippen hervor.

Da sah er auf der anderen Seite ein neues Idyll. Eine dürre, weiße Wachtelhündin kam dahergelaufen; sie kauerte sich im Grase nieder, und drei andere Hunde, die ihr gefolgt waren, saßen da und betrachteten sie. Sie war ein armes, schmutziges, kleines Ding, das seit Tagen kein Heim mehr gesehen zu haben schien. Die Zunge hing ihr heraus; sie keuchte jammervoll und hatte kein Halsband. Ab und zu wandte sie den Blick, aber obgleich er müde und verzweifelt war, lag doch ein Glühen darin. »Bei all dem Durst und Hunger und Totmüdesein ist dies doch das wahre Leben!« schien er zu sagen. Die drei Hunde, die auch keuchten und aufpaßten, bis es ihr gefallen würde, wieder von neuem zu laufen, schienen mit ihren feuchten, zärtlichen Augen zu wiederholen: »Dies ist das wahre Leben!« ...

Einige Leute, die in der Nähe saßen, schienen durch das Schauspiel gestört und rückten weiter.

Und plötzlich sprang die dürre, weiße Wachtelhündin auf, schlüpfte wie ein verfolgtes, kleines Gespenst zwischen den Bäumen hindurch, und die drei Hunde hinter ihr her.


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