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Am ersten Februar 1924 saß Jon Forsyte nach einer überstandenen Influenza im Vestibül eines Hotels in Camden, einem Ort in Süd-Carolina. Sein lichtes Haar begann sich langsam zu sträuben; er las eben einen Bericht über einen Fall von Lynchjustiz.
Jemand hinter ihm sagte: »Wollen Sie heute bei unserm Ausflug zu den alten Grabhügeln mithalten?«
Er blickte auf und sah einen jungen Mann, den er vor kurzem kennengelernt hatte; er hieß Francis Wilmot und kam aus einem noch weiter südlicher gelegenen Teil des Landes.
»Mit Vergnügen. Wer ist noch dabei?«
»Oh, nur Mr. und Mrs. Pulmore Hurrison, der englische Romanschriftsteller Gurdon Minho, die Blair-Mädchen und ihre Freundinnen, meine Schwester Anne und ich. Wenn Sie Bewegung machen wollen, könnten Sie reiten.«
»Sehr gut. Es sind heute neue Pferde von Columbia angekommen.«
»Oh, das ist fein! Meine Schwester und ich wollen auch reiten und einige von den Blair-Mädchen ebenfalls. Die Hurrisons können die übrigen in ihrem Wagen verstauen.«
»Verstauen ist eine gute Bezeichnung«, meinte Jon. »Sehn Sie nur, das ist ein arger Fall von Lynchjustiz.«
Der junge Mann, mit dem er sprach, lehnte im Fenster. Jon bewunderte ihn, er hatte ein elfenbeinfarbenes Gesicht, dunkles Haar und dunkle Augen, eine schmale Nase und feine Lippen; seine Gestalt war geschmeidig und seine Haltung ungezwungen.
»Ihr Engländer seid immer gleich aus dem Häuschen, wenn ihr von Lynchjustiz hört. Dort, wo Sie herkommen, in Southern Pines, gibt es kein Negerproblem, in Nord-Carolina spielt es nur eine geringe Rolle.«
»Stimmt, und ich maße mir auch nicht an, darüber zu urteilen. Aber ich kann nicht einsehn, warum man Neger nicht ebenso einem Verhör unterziehen soll wie Weiße. Es mag ja Fälle geben, wo man auf der Stelle schießen muß, doch ich begreife nicht, wie man der Mobjustiz das Wort reden kann. Hat man einmal einen Mann festgenommen, dann soll er auch regelrecht verhört werden.«
»Gerade in diesen Fällen können wir keine Verzögerung riskieren.«
»Wenn man aber jemanden nicht verhört hat, wie kann man dann behaupten, daß er schuldig ist?«
»Nun, wir haben lieber hie und da einen unschuldigen Schwarzen weniger, als daß wir unsere Frauen gefährden lassen.«
»Ich hätte gedacht, daß es nichts Ärgeres geben kann, als einen Menschen wegen eines Verbrechens zu töten, das er nicht begangen hat.«
»Für Europa mag das stimmen, aber hier trifft es nicht zu. Wir haben noch etwas primitive Verhältnisse.«
»Wie denkt man im Norden über Lynchjustiz?«
»Man schlägt etwas Lärm, doch man hat kein Recht dazu. Wenn wir unsere Neger haben, so hat man dort Indianer, und man geht äußerst rücksichtslos gegen sie vor.«
Jon Forsyte lehnte sich mit nachdenklichem Stirnrunzeln in seinen Schaukelstuhl zurück.
»Ich glaube, dieses Land ist noch immer zu groß«, erklärte Francis Wilmot, »ein Verbrecher hat alle Möglichkeiten zu entwischen. Und so nehmen wir, wenn wir von der Gerechtigkeit einer Sache überzeugt sind, das Gesetz selbst in die Hand.«
»Nun, andere Länder, andere Sitten. Was für Grabhügel sind das, die wir besuchen sollen?«
»Sie stammen von Indianern und sind angeblich Jahrtausende alt. Sie kennen meine Schwester noch nicht? Sie ist gestern abend angekommen.«
»Nein. Wann brechen wir auf?«
»Mittags. Zu Pferd braucht man ungefähr eine Stunde durch die Wälder.«
Um zwölf Uhr trat Jon im Reitanzug vor das Hotel, wo die fünf Pferde standen; zwei von den Blair-Mädchen hatten sich entschlossen zu reiten. Er ritt zwischen ihnen, Francis Wilmot mit seiner Schwester voran.
Die Blair-Mädchen waren jung und hübsch, hatten frische Farben, runde Gesichter und guten Teint: der Typus der hübschen Amerikanerin, an den er sich während der zweieinhalb Jahre seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten gewöhnt hatte. Zuerst waren sie überaus still, dann überaus geräuschvoll. Sie ritten im Herrensitz und das ausgezeichnet. Jon erfuhr, daß sowohl sie als auch die Veranstalter des Picknicks, Mr. und Mrs. Pulmore Hurrison, in Long Island wohnten. Sie stellten eine Menge Fragen über England, auf die Jon, der dieses Land mit neunzehn Jahren verlassen hatte, eine Menge Antworten erfand. Über den Kopf seines Pferdes hinweg begann er sehnsüchtig nach Francis Wilmot und seiner Schwester Ausschau zu halten; in kurzem Galopp ritten die beiden vor ihnen in tiefem Schweigen, das aus der Ferne überaus friedlich wirkte. Ihr Weg führte durch Nadelwald, zwischen spärlichen, dünnen Bäumen, über ziemlich sandigen Boden; die Sonne schien hell und warm, die Luft war noch frisch. Jon ritt einen tänzelnden Falben und fühlte sich so, wie man sich am ersten Tag der wiedererlangten Gesundheit fühlt.
Die Blair-Mädchen wollten wissen, was er von dem englischen Romanschriftsteller hielt – sie waren schrecklich neugierig, einmal einen wirklichen Intellektuellen kennenzulernen. Jon hatte nur eines seiner Bücher gelesen und konnte sich von den darin vorkommenden Gestalten bloß an eine Katze erinnern. Die Mädchen kannten keines seiner Bücher, hatten jedoch gehört, daß die Katzen, die er beschrieb, wirklich ausgezeichnet waren.
Francis Wilmot hielt sein Pferd an und zeigte auf einen großen Hügel, der augenscheinlich von Menschenhand geformt war. Alle machten halt, sahen den Hügel zwei Minuten lang schweigend an, meinten, daß er ›sehr interessant‹ sei, und ritten weiter. In einer Mulde packten die Insassen zweier Wagen die mitgebrachten Vorräte aus. Jon führte die Pferde weg, um sie neben denen von Wilmot und seiner Schwester anzubinden.
»Meine Schwester«, stellte Francis Wilmot vor.
»Mr. Forsyte«, sagte die Schwester.
Sie blickten einander an. Sie war schlank, aber ausgesprochen kräftig und trug einen langen dunkelbraunen Mantel, Reithosen und Stiefel; unter einem weichen braunen Filzhut kam das dunkle, kurzgeschnittene Haar zum Vorschein. Ihr Gesicht war blaß, ziemlich sonngebräunt und hatte einen Ausdruck von beherrschter Energie – die Stirn war breit und klar, die Nase gerade und ein wenig keck vorspringend, die Lippen nicht gefärbt, der Mund eher groß, aber schön geformt. Was jedoch Jon vor allem an ihr auffiel, waren ihre Augen, die ganz so aussahen, wie er sich die einer Wassernymphe dachte. Sie waren ein wenig schräg gestellt, von brauner Farbe, ruhigem Blick und hatten etwas überaus Fesselndes; er vermochte nicht zu sagen, ob sie nicht ein ganz klein wenig schielte, wenn es aber der Fall war, so schien es sie nur noch anziehender zu machen. Er war befangen. Beide schwiegen.
Francis Wilmot bemerkte: »Ich glaube, ich hab Hunger.« Und so gingen sie miteinander zu den ausgepackten Vorräten.
Plötzlich wandte sich Jon an Francis' Schwester: »Sie sind erst angekommen, Miss Wilmot?«
»Ja, Mr. Forsyte.«
»Von wo?«
»Von Naseby. Es liegt zwischen Charleston und Savannah.«
»Oh, Charleston! Das hat mir sehr gefallen.«
»Anne gefällt Savannah besser«, bemerkte Francis Wilmot.
Anne nickte. Sie war anscheinend nicht gesprächig, doch ihre Stimme hatte bei den wenigen Worten, die sie sprach, angenehm geklungen.
»Es ist recht einsam dort, wo wir leben«, sagte Francis. »Fast nur Neger. Anne hat noch nie mit einem Engländer gesprochen.«
Anne lächelte. Auch Jon lächelte. Keiner von beiden verfolgte das Thema weiter. Sie waren bei den Vorräten angelangt, die derart ausgebreitet lagen, daß man sie nur durch einen Höchstaufwand an Muskelkraft und durch allerhand verdauungsfördernde Bewegungen erreichen konnte. Mrs. Pulmore Hurrison, eine Dame von etwa vierzig Jahren und energischem Aussehen, saß mit ausgestreckten Beinen auf der Erde; der englische Romancier Gurdon Minho neben ihr hatte seine Beine in einer reservierteren Lage untergebracht; und daneben saßen eine Menge junger Mädchen da, alle mit hübschen, ausgiebig zur Schau gestellten Beinen; etwas abseits war Mr. Pulmore Hurrison mit gespitztem Mund bemüht, eine große Flasche zu entkorken. Jon und die Wilmots setzten sich zu den andern. Das Picknick hatte begonnen.
Jon bemerkte bald, daß man allgemein von Gurdon Minho erwartete, er würde mehr sagen als: ›Ja‹, ›Wirklich!‹, ›Ah!‹, ›Aha!‹. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. Zuerst war der berühmte Schriftsteller eifrigst bemüht, jedem zuzuhören, dann aber verfiel er in eine Art Starrkrampf. Jon empfand ein patriotisches Bedauern, denn er selbst war womöglich noch schweigsamer. Er bemerkte, daß die drei Blair-Mädchen und ihre beiden Freundinnen eine Art Verschwörung anzettelten, um die schweigsamen Engländer, sobald sie ihnen allein überlassen sein würden, aufzuziehen. Francis Wilmots wortkarge Schwester war ihm ein Trost; er fühlte, daß sie weder berechtigt noch geneigt sein würde, sich dieser Verschwörung anzuschließen. In seiner Verlegenheit nahm er dazu Zuflucht, die Speisen herumzureichen, und er war froh, als der Teil des Vergnügungsprogramms, der darin bestand, in unbequemer Haltung zu essen, vorüber war. Picknicks waren wie der Weihnachtstag, es war schöner, sie vor oder hinter sich zu haben, als sie eben zu genießen. Nachdem die übliche Trennung der Geschlechter nach dem Essen durchgeführt und eine angemessene Zeit verstrichen war, wurden die Körbe wieder gepackt, und man begab sich zu den Autos und Pferden. Die beiden Wagen fuhren zu einem zweiten Grabhügel, der einige Kilometer weiter liegen sollte. Francis Wilmot und zwei der Blair-Mädchen wollten zurückreiten und beim Polo zusehn. Jon fragte Anne Wilmot, was sie zu tun wünsche. Sie entschied sich für den zweiten Grabhügel.
Sie stiegen zu Pferd und ritten schweigend einen Waldweg entlang. Endlich sagte Jon: »Haben Sie Picknicks gern?«
»Ganz und gar nicht.«
»Ich auch nicht. Aber Reiten?«
»Riesig gern, lieber als sonst etwas in der Welt.«
»Lieber als Tanzen?«
»Gewiß. Reiten und Schwimmen.«
»Ah, ich dachte –« Er schwieg.
»Was dachten Sie?«
»Ich dachte mir, daß Sie eine gute Schwimmerin sein müßten.«
»Warum?«
Verlegen sagte Jon: »Wegen Ihrer Augen –«
»Wieso? Habe ich Fischaugen?«
Jon lachte. »Das gerade nicht. Sie sind so wie die Augen einer Wassernymphe.«
»Ich weiß eigentlich nicht, ob das ein Kompliment ist.«
»Natürlich ist es das.«
»Ich habe geglaubt, Nymphen wären keine ehrbaren Leute.«
»Oh! Wassernymphen – sehr! Scheu sind sie natürlich.«
»Gibt es viele in England?«
»Nein. Tatsächlich hab ich bisher noch nie eine gesehn.«
»Wieso wissen Sie es dann?«
»Ich glaube, ich habe ein richtiges Gefühl dafür.«
»Sie haben gewiß die alten Sprachen studiert. In England studiert doch alles klassische Sprachen, nicht wahr?«
»Gar keine Idee.«
»Und wie gefällt Ihnen Amerika, Mr. Forsyte?«
»Sehr gut. Nur hab ich manchmal Heimweh.«
»Ich würde schrecklich gern reisen.«
»Sind Sie nie gereist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe immer zu Hause und führe die Wirtschaft. Aber ich glaube, wir werden unser altes Heim verkaufen müssen – Baumwolle rentiert sich nicht mehr.«
»Ich züchte Pfirsiche in der Nähe von Southern Pines, dort oben in Nord-Carolina; die rentieren sich jetzt.«
»Leben Sie dort allein?«
»Nein, mit meiner Mutter.«
»Ist sie eine Engländerin?«
»Ja.«
»Lebt Ihr Vater?«
»Er ist vor vier Jahren gestorben.«
»Francis und ich sind schon seit zehn Jahren verwaist.«
»Ich wünschte, Sie beide würden einmal für eine Zeit zu uns kommen; meine Mutter würde sich gewiß riesig freuen.«
»Sieht sie Ihnen ähnlich?«
Jon lachte. »Nein, sie ist schön.«
Sie sah ihn mit ernsten Augen an, nur ihre Lippen lächelten ein wenig.
»Ich würde schrecklich gern kommen, aber Francis und ich können niemals zu gleicher Zeit vom Hause weg.«
»Aber jetzt sind Sie doch beide hier«, wandte Jon ein.
»Wir fahren morgen wieder zurück. Ich wollte so gerne Camden sehn.« Ihre Augen nahmen die ruhige Betrachtung von Jons Gesicht wieder auf. »Wollen Sie nicht mitkommen und unser Heim kennenlernen? Es ist ein altes Haus. Francis würde es Freude machen, wenn Sie kommen wollten.«
»Wissen Sie immer, was Ihrem Bruder Freude macht?«
»Gewiß.«
»Das muß nett sein. Aber möchten Sie wirklich, daß ich komme?«
»Ja, wirklich!«
»Ich käme furchtbar gern; ich hasse Hotels. Ich meine – wissen Sie –« Doch da er selbst nicht wußte, was er eigentlich meinte, war er nicht so ganz überzeugt, daß sie es wußte.
Sie gab ihrem Pferde die Sporen, und das tänzelnde Tier ging in kurzen Galopp über.
Sie ritten durch die Alleen des endlosen Nadelwaldes und die Sonne schien ihnen ins Gesicht; von Fichtennadeln, Harz und Kräutern stieg ein warmer Duft auf, der Waldboden war weich und sandig, die Pferde in guter Stimmung. Jon fühlte sich glücklich. Dieses Mädchen hatte seltsame, bestrickende Augen; und sie ritt sogar noch besser als die Blair-Mädchen.
»Die Engländer reiten alle gut, nicht wahr?« fragte sie.
»Die meisten, vorausgesetzt, daß sie überhaupt reiten. Aber man reitet heutzutage nicht viel bei uns.«
»Ich möchte schrecklich gern England kennenlernen. Unsere Leute sind im Jahr 1700 von dort eingewandert – aus Worcestershire. Wo liegt das?«
»Es ist im Westen Mittelenglands«, erwiderte Jon, »aber so grundverschieden von Amerika, daß Sie es sich kaum vorstellen können. Es wächst viel Obst dort – eine sehr liebliche Gegend: Häuser mit weißem Fachwerk, Weiden, Obstgärten, Wälder, grünbewachsene Hügel. Ich bin einmal in den Ferien mit einem Schulkameraden dort gewandert.«
»Das klingt reizend. Unsere Ahnen waren römisch-katholisch. Sie hatten einen Besitz, der Naseby hieß, und darum nennen wir unsern hier Naseby. Aber meine Großmutter war eine französische Kreolin aus Louisiana. Ist es wahr, daß die Engländer glauben, die Kreolen hätten Negerblut?«
»Wir sind sehr unwissend«, antwortete Jon. » Ich weiß, daß die Kreolen aus den alten französischen und spanischen Familien stammen. Sie und Ihr Bruder sehn so aus, als ob Sie französisches Blut hätten.«
»Francis sieht so aus. Glauben Sie nicht, daß wir an dem Grabhügel schon vorbei sind? Wir sind schon gute sechs Kilometer geritten und ich glaubte, es wären nur drei.«
»Liegt Ihnen viel daran? Der andere Grabhügel ist ziemlich überschätzt worden.«
Ihre Lippen lächelten; sie schien niemals wirklich zu lachen.
»Was für Indianer gibt es in der Gegend?« fragte Jon.
»Ich weiß es nicht bestimmt; wenn es welche gibt, müssen es Seminolen sein. Aber Francis sagt, daß diese Grabhügel von Indianern herrühren, die lange vor den jetzigen Stämmen lebten. Warum sind Sie nach Amerika gekommen, Mr. Forsyte?«
Jon biß sich auf die Lippen. Den wirklichen Grund anzugeben – Familienzwist, eine gescheiterte Liebesgeschichte – war nicht gut möglich.
»Ich war zuerst in British-Columbia, aber dort ging es mir nicht sehr, gut. Dann hörte ich von der Pfirsichzucht in Nord-Carolina.«
»Aber warum sind Sie aus England weggegangen?«
»Eigentlich nur, weil ich die Welt kennenlernen wollte.«
»Ja«, sagte sie. Es klang ruhig und verständnisvoll, und Jon war umso dankbarer dafür, als er wußte, daß sie ihn nicht verstanden hatte. Das Bild seiner ersten Liebe verfolgte ihn jetzt nur selten – hatte ihn seit mehr als einem Jahr nicht mehr verfolgt. Er war so sehr mit seinen Pfirsichen beschäftigt gewesen. Und dann hatte auch Holly geschrieben, Fleur habe einen Jungen. Plötzlich sagte er: »Ich glaube, wir sollten umkehren. Sehn Sie doch die Sonne an!« Die Sonne stand wirklich schon tief hinter den Bäumen.
»Himmel! – natürlich!«
Jon wendete sein Pferd. »Wir wollen im Galopp reiten«, schlug er vor. »In einer halben Stunde wird sie untergehn und der Mond geht erst spät auf.«
Sie galoppierten den Waldweg zurück. Die Sonne sank noch schneller, als sie gedacht hatten, die Luft wurde kalt, das Licht fahl. Plötzlich hielt Jon sein Pferd an. »Es tut mir furchtbar leid; ich glaube, wir sind nicht auf dem Weg, auf dem wir vom Picknick gekommen sind. Mir scheint, wir sind zu weit nach rechts abgebogen. Diese Waldwege sind alle gleich, und die Pferde sind erst gestern von Columbia angelangt; sie kennen sich hier ebenso wenig aus wie wir.«
Das Mädchen lachte. »Wir werden uns verirren.«
»Hm! Das ist kein Spaß in diesen Wäldern. Nehmen sie denn gar kein Ende?«
»Ich glaube nicht, in dieser Gegend. Es wird ein richtiges Abenteuer.«
»Ja, aber Sie werden sich erkälten. Die Nächte hier sind ordentlich kalt.«
»Und Sie haben erst Influenza gehabt!«
»Oh, das macht nichts. Hier ist ein Weg, der nach links führt. Sollen wir geradeaus reiten, oder diesen Weg einschlagen?«
»Diesen Weg.«
Sie ritten in kurzem Galopp weiter. Es war jetzt schon zu finster, um in gestrecktem Galopp reiten zu können, und bald würde es auch zum kurzen Galopp zu finster sein. Und der Weg schien kein Ende zu nehmen.
»Das ist eine schöne Geschichte!« bemerkte Jon; »es tut mir wirklich leid.« Sie ritt neben ihm; er blickte zu ihr hinüber und sah sie lächeln.
»Aber das ist doch ein Riesenspaß!«
Er war froh, daß sie es so aufnahm, aber er konnte nichts Spaßhaftes daran finden.
»Ich war wirklich ein Esel. Ihr Bruder wird sich ordentlich über mich ärgern.«
»Er weiß, daß ich mit Ihnen bin.«
»Wenn wir nur einen Kompaß hätten! Wenn das so weitergeht, können wir die ganze Nacht hier zubringen. Da ist wieder eine Abzweigung! Jetzt wird es aber wirklich finster.«
Und fast noch während er sprach, brach die Dunkelheit völlig herein; er konnte Anne kaum noch auf fünf Schritte Entfernung sehn. Er kam dicht an ihre Seite, und sie berührte seinen Ärmel.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie, »das verdirbt alles.«
Er nahm beide Zügel in die Linke und drückte ihre Hand. »Sie halten sich großartig, Miss Wilmot.«
»Oh, nennen Sie mich doch Anne, Familiennamen klingen so frostig, wenn man sich verirrt hat.«
»Herzlich gerne, wenn ich darf. Ich heiße Jon. Aber ich schreibe mich ohne h, es ist eine Abkürzung von Jolyon.«
»Jolyon – Jon, der Name gefällt mir.«
»Anne ist seit jeher mein Lieblingsname. Sollen wir hier warten, bis der Mond aufgeht, oder sollen wir weiterreiten?«
»Um wieviel Uhr geht der Mond auf?«
»Gegen zehn, glaub ich, nach der gestrigen Nacht zu schließen. Und es wird beinahe Vollmond sein. Aber jetzt ist es kaum sechs.«
»Reiten wir weiter und überlassen wir es den Pferden, wohin.«
»Gut! Aber wenn sie sich nach irgendeiner Richtung wenden, dann wird es höchstwahrscheinlich gegen Columbia sein, und das muß viele Kilometer weit weg liegen.«
Sie ritten den schmalen Weg im Schritt weiter. Jetzt war es vollkommen finster. Jon fragte: »Ist Ihnen kalt? Im Gehen würde Ihnen wärmer sein. Ich werde voranreiten; bleiben Sie so dicht hinter mir, daß Sie mich nicht aus den Augen verlieren.«
Er ritt voran, stieg jedoch bald ab, da ihn selbst fror; in dem schier endlosen Wald war tiefe Stille und Finsternis.
»Jetzt ist mir kalt«, sagte Annes Stimme. »Ich werde auch absitzen.«
Sie führten ihre Pferde am Zügel und waren ungefähr eine halbe Stunde langsam und beinahe tastend gegangen, als Jon bemerkte: »Sehn Sie nur! Da ist so etwas wie eine Lichtung! Und was ist das Schwarze links?«
»Ein Grabhügel.«
»Welcher es wohl sein mag? Der, den wir gesehen haben, oder der andere, oder keiner von beiden?«
»Ich denke, wir sollten hierbleiben, bis der Mond aufgeht, dann werden wir vielleicht erkennen, welcher es ist, und den Weg finden.«
»Sie haben recht. Wahrscheinlich gibt es hier Sümpfe. Ich werde die Pferde an einer geschützten Stelle anbinden und wir wollen versuchen, einen Schlupfwinkel zu finden. Es ist wirklich kalt.«
Er band die Pferde an einer geschützten Stelle an. Als er sich umwandte, stand sie neben ihm.
»Es ist gruselig hier«, sagte sie.
»Wir werden ein behagliches Plätzchen suchen und uns hinsetzen.«
Er hängte sich in sie ein, und sie gingen um den Hügel herum.
»Hier«, rief Jon plötzlich, »hier ist gegraben worden. Die Stelle wird geschützt sein.« Er befühlte den Boden – er war genug trocken. »Hier können wir niederkauern und plaudern.«
Sie setzten sich nebeneinander mit dem Rücken gegen die Wand der Höhlung, zündeten ihre Zigaretten an und lauschten in das Schweigen, Ein Schnauben oder leises Stampfen der Pferde dann und wann war das einzige Geräusch. Die Bäume waren zu spärlich, der Wind zu schwach, als daß er in den Zweigen hätte tönen können, und nur die beiden und ihre Pferde schienen in der Stille zu leben. Verstreute Sterne am tiefdunklen Himmel und das noch tiefere Dunkel der Fichten war alles, was sie sehen konnten. Und dann die glühenden Enden ihrer Zigaretten und hie und da ihre schwach beleuchteten Gesichter.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie mir das je verzeihen werden«, sagte Jon düster.
»Aber warum denn? Es gefällt mir riesig gut.«
»Es ist sehr lieb von Ihnen, das zu sagen; aber es muß Ihnen schrecklich kalt sein. Hier – nehmen Sie meinen Rock.«
Er war im Begriff, ihn auszuziehen, als sie erklärte: »Wenn Sie das tun, lauf ich in den Wald und dann werd ich mich wirklich verirren.«
Jon zog den Rock wieder an. »Es hätte auch eines dieser Blair-Mädchen sein können«, sagte er.
»Wäre Ihnen das lieber gewesen?«
»Ihrethalben natürlich ja. Was mich betrifft, ganz und gar nicht.«
Sie wandten sich einander zu, so daß die Enden ihrer Zigaretten sich beinahe berührten. Er konnte gerade nur ihre Augen sehn, und er empfand ein deutliches Verlangen, seinen Arm um sie zu legen. Es schien nur natürlich und der Situation angemessen, doch selbstverständlich tat man so etwas nicht.
»Nehmen Sie ein Stückchen Schokolade«, sagte sie.
Jon aß ganz wenig davon; die Schokolade sollte für sie aufgehoben werden.
»Das ist ein richtiges Abenteuer. Es ist wirklich ganz finster. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich mich gefürchtet – es sieht so aus, als ob es hier spuken könnte.«
»Die Geister der alten Indianer«, murmelte Jon. »Nur glaub ich nicht an Geister.«
»Wenn Sie eine schwarze Kinderfrau gehabt hätten, würden Sie daran glauben.«
»Haben Sie denn eine gehabt?«
»Freilich – mit einer Stimme so weich wie Samt. Wir haben einen alten Schwarzen, der als Kind noch ein Sklave war. Er ist der beste von allen Negern weit und breit – jetzt ist er beinahe achtzig und hat ganz weißes Wollhaar.«
»Ihr Vater kann doch nicht den Bürgerkrieg mitgemacht haben?«
»Nein, aber meine beiden Großväter und mein Urgroßvater.«
»Und wie alt sind Sie, Anne?«
»Neunzehn.«
»Ich bin dreiundzwanzig.«
»Erzählen Sie mir doch von Ihrem Heim in England.«
»Ich habe jetzt keines.« Er erzählte ihr die Geschichte seiner Jugend in redigierter Ausgabe und hatte dabei den Eindruck, daß sie herrlich zuzuhören verstand. Dann bat er sie, ihm ihre Geschichte zu erzählen, und während sie sprach, fragte er sich, ob ihre Stimme ihm gefiel. Sie sprach etwas gedehnt und undeutlich, doch die Stimme klang weich und ausdrucksvoll. Als sie mit ihrer einfachen Erzählung zu Ende war – sie war ja kaum von zu Hause fort gewesen –, trat wieder Schweigen ein, bis Jon sagte: »Es ist erst halb acht. Ich will nachsehn, ob den Pferden nichts fehlt. Vielleicht können Sie dann ein wenig schlafen.«
Er ging um den Hügel herum, bis er zu den Pferden kam, bei denen er kurz verweilte, während er ihnen zusprach und ihre Nüstern streichelte. Ein warmes Beschützergefühl erwachte in ihm. Das war ein liebes Kind und tapfer obendrein, ein Gesicht, das man nicht so bald vergessen konnte und hinter dem sich viel verbarg. Plötzlich hörte er ihre Stimme, leise, als schäme sie sich, nach ihm zu rufen: »Jon, ach Jon!« Er tastete sich in der Dunkelheit zurück. Sie streckte die Hände nach ihm aus.
»Es ist wirklich gespenstisch! Dieses sonderbare Rascheln! Mir läuft es ganz kalt über den Rücken.«
»Es ist etwas windig geworden. Wir wollen uns Rücken an Rücken hinsetzen, das wird Sie vor Kälte schützen. Oder ich setze mich lieber mit dem Rücken gegen die Wand; wenn Sie sich an mich anlehnen, können Sie vielleicht schlafen. Es dauert nur noch zwei Stunden – dann können wir im Mondlicht weiterreiten.«
Sie setzten sich hin, wie er es vorgeschlagen hatte; mit dem Rücken lehnte sie sich gegen ihn, ihr Kopf lag an seiner Schulter.
»Ist es gut so?«
»O ja! So ist es gar nicht mehr gruselig. Aber bin ich Ihnen nicht zu schwer?«
»Nicht im geringsten«, erwiderte Jon.
Sie rauchten und sprachen noch ein wenig. Die Sterne leuchteten jetzt heller, und ihre Augen gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit. Dankbar empfanden sie einer des andern Wärme. Jon freute sich an dem Duft ihres Haares, das seinem Gesicht ganz nahe war und wie frisches Heu roch. Beide schwiegen lang, und das warme Beschützergefühl in ihm wuchs immer mehr. Gern hätte er seinen Arm um sie geschlungen und sie dichter an sich gezogen. Aber natürlich tat er es nicht. Denn er durfte für sie nichts anderes sein als eine ganz unpersönliche Wärmequelle, an die sie sich lehnen konnte. Zum allerersten Mal, seit er England verlassen hatte, fühlte er das Verlangen, ein Wesen zu umarmen, so sehr hatte ihn jene alte Geschichte abgeschreckt Der Wind erhob sich, raunte in den Bäumen und verstummte wieder; die Stille war jetzt noch tiefer als zuvor. Er war vollkommen wach und es schien ihm merkwürdig, daß sie schlafen konnte, denn sie schlief bestimmt – sie saß so unbeweglich. Die Sterne blinkten, und er sah zu ihnen auf. Seine Glieder begannen zu schmerzen und zu zucken; und plötzlich merkte er, daß sie ebenso wach war wie er selbst. Langsam wandte sie ihm den Kopf zu, bis er ihre ernsten, bestrickenden Augen sehen konnte.
»Ich bin Ihnen zu schwer«, sagte sie und richtete sich auf. Aber er zog sie wieder an sich.
»Wirklich nicht; wenn es Ihnen nur warm und behaglich ist.«
Ihr Kopf schmiegte sich wieder an ihn und die Nachtwache begann von neuem. Sie sprachen jetzt ein wenig über unwichtige Dinge und er dachte: ›Wie seltsam! Man kann den Leuten monatelang bekannt sein und sie doch nicht halb so gut kennen, als wir einander jetzt kennen werden!‹
Wieder schwiegen sie lange still; aber jetzt hatte er den Arm um sie gelegt, es war für beide bequemer so. Und in Jon regte sich ein Gefühl, daß es besser wäre, wenn der Mond nicht aufginge. Ob sie das auch empfand? Er hätte es gern gewußt. Jedenfalls nahm der Mond auf solche Wünsche keine Rücksicht, denn plötzlich merkte Jon, daß er da war, sich dort irgendwo hinter den Bäumen verbarg. Ein sonderbarer, ruhiger Schimmer breitete sich aus, kroch den Waldboden entlang, schlich sich zwischen die Baumstämme.
»Der Mond!« sagte er. Sie rührte sich nicht, und sein Herz begann stürmisch zu klopfen. Sie wünschte also ebensowenig wie er, daß der Mond aufging. Und allmählich wandelte sich der zögernde Schimmer in Licht, das zwischen die Baumstämme drang und sie beide umfloß, bis ihre Gestalten sichtbar wurden. Aber noch immer saßen sie regungslos, als fürchteten sie, den Zauber zu brechen. Der Mond nahm zu an Glanz und kalter Schönheit und erhob sich über die Bäume; die Welt erwachte wieder zum Leben. Jon überlegte: ›Ob ich sie küssen dürfte?‹ Doch gleich wies er den Gedanken von sich. Konnte sie es denn wünschen? Aber als hätte sie seinen Gedanken erraten, wandte sie plötzlich den Kopf und blickte in seine Augen. Da sagte er: »Sie sind mir anvertraut!«
Ein leichter Seufzer war ihre Antwort und sie erhob sich. Sie streckten ihre Glieder und blickten in den weiß leuchtenden, geheimnisvollen Wald.
»Sehn Sie nur, Anne! Es ist wirklich der Grabhügel. Hier ist der Pfad in die Mulde, wo wir das Picknick hatten. Jetzt können wir den Weg ganz leicht finden.«
»Ja«, erwiderte sie mit einer Betonung, die er sich nicht zu erklären vermochte. Sie gingen zu den Pferden, machten sie los und saßen auf. Gemeinschaftlich würden sie den Weg jetzt finden. Sie brachen auf und ritten Seite an Seite.
Jon sagte: »Das war etwas, woran ich denken werde.«
»Ja, auch ich werde mich immer daran erinnern.«
Sie sprachen nichts mehr, außer wenn sie sich über den Weg berieten: aber darüber waren sie sich bald im klaren und in kurzem Galopp ging es weiter. Auf dem Poloplatz, dicht beim Hotel, kamen sie aus dem Wald.
»Gehn Sie hinein und beruhigen Sie Ihren Bruder. Ich werde die Pferde versorgen und dann nachkommen.«
Als er ins Vestibül kam, traf er Francis Wilmot allein an; er war noch im Reitanzug und machte ein merkwürdiges Gesicht, nicht gerade feindselig, aber auch keineswegs freundlich.
»Anne ist hinaufgegangen«, sagte er. »Sie scheinen nicht gerade viel Orientierungssinn zu haben. Ich war wirklich in Sorge.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, antwortete Jon beschämt. »Ich hatte nicht daran gedacht, daß die Pferde hier noch fremd sind.«
»Nun ja!« erwiderte Francis Wilmot mit einem Achselzucken. Jon blickte den jungen Mann fest an.
»Ich hoffe, Sie glauben nicht, daß ich den Weg mit Absicht verloren habe. Sie sehen wenigstens so drein, als ob Sie's täten.«
Wieder zuckte Francis Wilmot die Achseln.
»Entschuldigen Sie«, sagte Jon, »aber Sie scheinen zu vergessen, daß Ihre Schwester eine Dame ist und daß man sich einer Dame gegenüber nicht wie ein Schuft benimmt.«
Francis Wilmot gab keine Antwort; er trat ans Fenster und blickte hinaus. Jon war ernstlich böse. Er setzte sich auf die Lehne eines Liegestuhls, er war plötzlich sehr müde. Mit niedergeschlagenen Augen und finsterem Gesicht saß er da. Der Teufel sollte den Kerl holen! Hatte er Anne beflegelt? Wenn ja – –! Eine Stimme hinter ihm sagte: »Ich hab es nicht so gemeint. Es tut mir wirklich leid. Es war nur der Schrecken. Reichen Sie mir die Hand!
Jon streckte ihm mit schneller Bewegung die Rechte entgegen, sie schüttelten sich die Hände und sahen einander fest in die Augen.
»Sie müssen ganz kaputt sein«, bemerkte Francis Wilmot. »Kommen Sie auf mein Zimmer; ich hab was zum Trinken. Ich hab auch Anne einen Schluck gegeben.«
Sie gingen hinauf. Jon saß auf dem einzigen vorhandenen Stuhl, Francis Wilmot auf dem Bett.
»Anne sagt mir, daß sie Sie gebeten hat, morgen mit uns zu kommen. Ich hoffe bestimmt, daß Sie es tun werden.«
»Ich komme riesig gern.«
»Das ist fein!«
Sie tranken, sprachen ein wenig und rauchten.
»Gute Nacht!« sagte Jon plötzlich. »Wenn ich jetzt nicht gehe, schlaf ich noch hier ein.«
Wieder schüttelten sie einander die Hände und Jon schwankte in sein Zimmer. Er schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen reisten sie alle drei durch Columbia und Charleston in den Heimatsort der Wilmots. Der Besitz war an der Biegung eines rötlichen Flusses gelegen, umgeben von Baumwollfeldern und Sümpfen, aus denen immergrüne, melancholisch aussehende Eichen emporragten; Girlanden von Floridamoos rankten sich von Ast zu Ast. Die alten Sklavenquartiere, die nur mehr als Hundeställe benützt wurden, waren noch erhalten. Zu beiden Seiten des zweistöckigen Hauses, das einen Anstrich dringend nötig hatte, führten hölzerne Treppen zu einer geräumigen, mit Glyzinien überwucherten Veranda hinauf. Die Zimmer mündeten ineinander, und an den Wänden hingen alte Porträts verstorbener Wilmots und de Frevilles. Die Schwarzen gingen ihrer Arbeit nach und sprachen in ihrer sanften, gedehnten Weise.
Jon war während der dreieinhalb Jahre seit seiner Ankunft in der Neuen Welt noch nie so glücklich gewesen wie jetzt. Des Morgens schlenderte er mit den Hunden in der Sonne, oder er versuchte zu dichten, denn die beiden jungen Wilmots hatten zu tun. Nach dem Mittagessen ritt er entweder mit beiden oder mit Anne allein aus. Des Abends saßen sie vor dem Kamin, in dem bei Sonnenuntergang ein Holzfeuer angezündet wurde, und sie lehrte ihn auf der Ukulele spielen, oder Francis unterhielt sich mit ihm über die Baumwollpflanzungen; mit ihm stand Jon seit jenem Augenblick der Feindseligkeit auf bestem Fuß.
Anne und er sprachen wenig miteinander; sie schienen wieder in Schweigen zu verfallen wie damals, als sie im Finstern unter dem alten indianischen Grabhügel saßen. Doch er beobachtete sie verstohlen und immer wieder suchte er, diesen ernsten, bestrickenden Blick in ihren dunklen Augen zu erhaschen. Immer mehr und mehr erschien sie ihm anders als alle Mädchen, die er bisher kennen gelernt hatte, klüger, schweigsamer und von festerem Charakter. So vergingen die Tage im warmen Sonnenschein und die Abende vor dem Kamin mit den duftenden Holzscheiten. Sein Urlaub ging dem Ende zu. Er konnte jetzt auf der Ukulele spielen, und sie sangen dazu geistliche Lieder der Neger, Lieder aus der Operette ›Rose Marie‹ und aus andern unsterblichen Werken. Der letzte Tag kam heran und Jon fühlte sich unglücklich. Zeitig am nächsten Morgen sollte er nach Southern Pines zu seinen Pfirsichen zurückkehren! An diesem Nachmittag, als sie zum letzten Mal miteinander ausritten, war das Schweigen zwischen ihnen beinahe unnatürlich; sie vermied es sogar, ihn anzusehn. Verzweiflung im Herzen, ging Jon auf sein Zimmer, um sich umzukleiden. Er war sich bereits klar darüber, daß er sie mit sich nehmen wollte, und er glaubte zu wissen, daß sie nicht den Wunsch hatte, mit ihm zu gehn. Wie sehr würde er den Blick dieser Augen vermissen, die sich so oft auf ihn hefteten! Er dürstete danach, Anne zu küssen. In trüber Stimmung ging er hinunter und setzte sich in den Liegestuhl beim Kamin; er spielte mit den Ohren eines Wachtelhundes und sah, wie es im Zimmer langsam dunkelte. Vielleicht würde sie nicht einmal mehr kommen, um das letzte Mal mit ihm zu singen. Vielleicht gab es nichts mehr als ein letztes gemeinsames Abendessen zu dritt, nicht einmal mehr eine Gelegenheit, um ihr zu sagen, daß er sie liebe, und von ihr zu hören, daß sie ihn nicht liebe. Und verzagt dachte er: ›Es ist meine Schuld – ich war ein Narr, daß ich schwieg; ich habe alle Gelegenheiten versäumt.‹ Im Zimmer wurde es so dunkel, daß nur noch das Feuer im Kamin es erhellte, und der Hund war eingeschlafen. Auch Jon schloß die Augen. Ihm war, als fiele ihm so das Warten leichter – das Warten auf das Schlimmste. Als er die Augen wieder öffnete, stand sie vor ihm, die beiden Instrumente in der Hand.
»Wollen Sie spielen, Jon?«
»Ja«, erwiderte Jon, »spielen wir. Es ist das letzte Mal.« Und er nahm die Ukulele.
Sie setzte sich auf den Teppich vor dem Kamin und stimmte ihr Instrument. Jon ließ sich neben dem Hund auf den Boden gleiten und stimmte das seine. Der Hund erhob sich und lief hinaus.
»Was sollen wir singen?«
»Ich mag nicht singen, Anne. Singen Sie, ich werde Sie begleiten.«
Sie sah ihn gar nicht an! Sie wollte ihn nicht ansehn! Es war alles aus! Was für ein Narr war er gewesen!
Anne begann zu singen. Es war eine schlichte Melodie – der Ruf in den Bergen aus ›Rose Marie‹. Jon griff in die Saiten und das Lied drang ihm ans Herz. Sie sang es zu Ende. Dann sang sie es zum zweiten Mal, und ihr Blick glitt zu ihm hinüber. Herrgott! Jetzt sah sie ihn wirklich an! Sie durfte nicht sehen, daß er es bemerkt hatte! Er war zu schön – dieser lange, tiefe Blick über die Ukulele hinweg. Ihre Ukulele und die seine trennten sie voneinander. Er ließ das dumme Ding fallen, und plötzlich schob er sich am Boden zu Anne hin und legte den Arm um sie. Wortlos ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken, genau so wie damals beim Grabhügel. Er neigte seine Wange zu ihrem Haar. Es roch nach Heu so wie damals. Und so wie damals im Mondlicht wandte sie ihm auch jetzt ihr Gesicht zu. Doch diesmal küßte Jon ihre Lippen.