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6.
Michael ›kriegt eins aufs Dach›

Nach seiner Anfrage in der Green Street war Michael unschlüssig die Piccadilly hinuntergegangen, und einem jener Impulse folgend, die die Menschen zwingen, immer wieder dorthin zu gehen, wo sie Aufregungen erwarten, ging er weiter in die Cork Street. Einen Augenblick lang stand er am Eingang zu Wilfrids Sackgasse.

›Nein‹, dachte er schließlich, ›zehn zu eins, daß er nicht zu Hause ist; und wenn er zu Hause ist, zwanzig zu eins, daß ich nichts anderes davon habe, als irgend etwas Unangenehmes!‹

Er ging langsam zur Bond Street weiter, als eine kleine behende Dame, die aus der Seitengasse kam und im Gehen las, von hinten in ihn hineinrannte.

»Warum passen Sie nicht auf, wo Sie gehen! Oh! Sie sind es? Sind Sie nicht der junge Mann, der Fleur Forsyte geheiratet hat? Ich bin ihre Kusine June. Ich glaube, ich habe sie gerade gesehn.« Und sie machte eine Bewegung mit der Hand, die den Katalog hielt, wie wenn ein Vogel mit dem Flügel schlägt. »Dort, gegenüber meiner Galerie. Sie trat in ein Haus, sonst hätte ich sie angeredet – ich hätte sie gern wieder einmal getroffen.«

In ein Haus! Michael suchte nach seinem Zigarettenetui. Es fest umklammernd, blickte er auf. Ohne sich zu genieren, forschten die blauen Augen der kleinen Dame von allen Seiten in seinem Gesicht.

»Seid ihr glücklich miteinander?« fragte sie.

Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Es war ihm, als stünde plötzlich alles auf dem Kopf!

»Bitte?« stieß er hervor.

»Hoffentlich seid ihr glücklich. Sie hätte meinen kleinen Bruder heiraten sollen – aber ich hoffe, daß ihr glücklich seid. Sie ist ein anmutiges Geschöpf.«

Inmitten eines dumpfen Gefühls betäubender Schläge verblüffte es ihn, daß sie gar nicht zu wissen schien, wie sehr sie ihn traf. Er hörte seine Zähne knirschen und sagte dumpf: »Ihr kleiner Bruder, wer war denn das?«

»Was? Jon – haben Sie denn Jon nicht gekannt? Er war natürlich zu jung und sie auch. Aber sie waren beide bis über die Ohren ineinander verliebt – die Familienfehde hat dem ein Ende gemacht. Na, das ist ja alles vorüber. Ich war auf eurer Hochzeit. Ich hoffe, daß Sie glücklich sind. Haben Sie die Ausstellung von Claud Brains in meiner Galerie gesehn? Er ist ein Genie. Ich wollte hier gerade eine Bombe essen, wollen Sie mitgehn? Sie sollten seine Bilder kennenlernen.«

Sie war an der Tür einer Konditorei stehengeblieben. Michael legte die Hand auf die Brust.

»Danke«, sagte er, »ich habe gerade eine Bombe bekommen – eigentlich zwei. Entschuldigen Sie mich!«

Die kleine Dame ergriff seine andere Hand.

»Na, leben Sie wohl, junger Mann! Freut mich, Sie getroffen zu haben. Sie sind gerade kein Adonis, aber Ihr Gesicht gefällt mir. Grüßen Sie das Kind von mir. Sie sollten sich Claud Brains ansehn. Er ist wirklich ein Genie.«

Michael stand steif wie ein Stock vor der Tür, sah, wie sie sich umwandte und eintrat; er hatte einen verworrenen Eindruck, wie von etwas Hastendem und einer Störung der Besucher in dem Laden. Dann ging er weiter, mit der kalten Zigarette im Mund, halb betäubt wie ein Boxer, den ein Schlag zur Seite geschleudert hat und ein zweiter wieder geradeaus.

Fleur besuchte Wilfrid – in diesem Augenblick in seinem Zimmer oben – vielleicht in seinen Armen! Er stöhnte. Ein wohlgenährter junger Mann in einem neuen Hut fuhr zurück. Unmöglich! Das würde er unmöglich aushalten! Er würde das Feld räumen müssen! Er hatte Fleur für ehrlich gehalten! Ein Doppelleben! Und in der vorletzten Nacht hatte sie ihm noch zugelächelt. O Gott! Er stürzte quer hinüber in den Greenpark. Warum war er nicht stehengeblieben und hatte sich überfahren lassen? Und der kleine Bruder jener Verrückten – Jon – Familienfehde? Er selbst – ein ›Ersatz‹, dann überhaupt ohne Liebe genommen – ein Lückenbüßer! Er erinnerte sich jetzt, wie sie eines Abends in Mapledurham gesagt hatte: ›Kommen Sie wieder, wenn ich weiß, daß mir mein Wunsch nicht erfüllt wird.‹ Das also war der Wunsch, der ihr nicht erfüllt worden war! Ein Lückenbüßer! ›Lustig!‹ dachte er. ›Oh, wie lustig!‹ Dann war es ja kein Wunder! Was konnte ihr dranliegen? Ein Mann oder der andere! Arme kleine Fleur! Sie hatte ihm nie etwas gesagt, nie auch nur ein Wort! War das anständig von ihr oder war es Treulosigkeit? ›Nein‹, dachte er, ›wenn sie es mir gesagt hätte, hätte es auch keinen Unterschied gemacht – ich hätte sie um jeden Preis genommen. Es war anständig von ihr, es mir nicht zu sagen.‹ Aber wie war es denn gekommen, daß er es von niemandem erfahren hatte? Familienfehde! Die Forsytes! Außer dem alten Forsyte sah er niemals einen von ihnen, und der alte Forsyte war stumm wie ein Fisch. Na, da hatte er ja ›eins aufs Dach‹ bekommen! Und wieder stöhnte er in dem Dämmerlicht des Parks. Buckingham Palace kam in Sicht, finster, gigantisch und trübselig. Da ihm endlich seine Zigarette einfiel, blieb er stehen, um ein Streichholz anzuzünden, und mit dem ersten leisen Gefühl des Behagens sog er den Rauch tief in die Lungen.

»Haben Sie nicht eine Zigarette für mich übrig, Mister?«

Eine schattenhafte Gestalt mit einem anständigen, traurigen Gesicht stand neben der so überwältigend üppigen Statue von Australien.

»Gewiß«, sagte Michael. »Nehmen Sie nur alles.« Er leerte das Etui in die Hand des Mannes. »Nehmen Sie auch das Etui – Sie werden dreißig Shilling dafür bekommen. Viel Glück!« Er eilte weiter. Ein schwaches: »Sie, Mister!« verfolgte ihn vergeblich. Mitleid war Blödsinn! Gefühl war Quatsch! Sollte er nach Hause gehen und warten, bis Fleur – fertig war und heimkam? Keine Spur! Er wandte sich nach Chelsea und rannte so schnell dahin, als es ihm nur möglich war. Erleuchtete Läden, der düstere große Eaton Square, Chester Square, Sloane Square, die King's Road – weiter, immer weiter! Es war schlimmer als der Schützengraben – weit schlimmer – diese aufgepeitschte, marternde, sexuelle Eifersucht! Ja, und er hätte sich noch elender gefühlt, wenn er diesen zweiten Schlag nicht erhalten hätte. Es war weniger schmerzlich, daß Fleur jenen Vetter geliebt hatte oder vielleicht noch liebte, und auch Wilfrid vielleicht nichts für sie bedeutete. Armes kleines Geschöpf! ›Nun, wie soll das Spiel jetzt weitergehen?‹ dachte er. Das Spiel des Lebens – in schlechtem Wetter, in Bedrängnis? Was war es denn eigentlich? Und im Krieg – was hatte so ein Soldat denn getan? Er hatte es irgendwie fertiggebracht, sich nicht so verteufelt wichtig vorzukommen, er war in einen Zustand von Ergebung und Fatalismus hineingeraten, in eine sentimentale Stimmung: Was lag an dem Einzelnen, wenn nur England weiterlebte! Das Spiel des Lebens? War das denn anders? Die Phrase ›Arg hergenommen, aber nicht besiegt‹ mochte sentimental sein, aber – immer wieder sich erheben, wenn man niedergeschlagen war! Die Gesamtheit war groß, der einzelne klein! Mußten Leidenschaft und Eifersucht das faire Spiel wirklich vernichten, wie Nazing und Sibley und Linda Frewe es behaupteten? War es mit dem Begriff ›Gentleman‹ vorbei? War das wirklich so? Konnte man sich noch in guter Form halten oder würde man schließlich herunterkommen und dem Gegner einen Tritt in den Bauch geben?

›Ich weiß nicht‹, dachte er, ›ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich sie sehe – ich weiß es ganz einfach nicht.‹ Stahlblau umgaben ihn die hereinbrechende Nacht, die kahlen Platanen, der breite Strom und die frostige Luft! Er wandte sich heimwärts. Zitternd öffnete er die Haustür und zitternd trat er in den Salon …

Als Fleur hinaufgegangen war und ihn mit Ting-a-ling alleingelassen hatte, wußte er nicht, ob er ihr glaubte oder nicht. Wenn sie diese andere Sache die ganze Zeit vor ihm geheimgehalten hatte, konnte sie alles vor ihm geheimhalten! Hatte sie seine Worte verstanden: ›Du mußt tun, was du für richtig hältst, das ist nur fair‹? Er hatte diese Worte fast mechanisch gesprochen, aber sie waren vernünftig. Wenn sie ihn niemals geliebt hatte, nicht einmal ein wenig, so hatte er ja kein Recht gehabt, irgend etwas zu erwarten; die ganze Zeit über war er in der Lage eines Menschen gewesen, dem sie Almosen gab. Nichts konnte einen zwingen, weiter Almosen zu geben. Und niemand konnte ihn zwingen, sie weiter anzunehmen – nur – nur das Verlangen danach, das Verlangen, das Verlangen!

»Du kleiner Teufel! Du glückliche kleine Kröte! Gib mir etwas von deiner Selbstzufriedenheit – du chinesisches Atom!« Ting-a-ling blickte mit seinen Augen wie Schuhknöpfe zu ihm auf. ›Wenn du einmal eine so lange Zivilisation hinter dir hast wie ich‹, schien er zu sagen. ›Inzwischen kannst du mir die Brust krauen.‹

Und während Michael das gelbe Fell kraute, dachte er: ›Nimm dich zusammen! Ein Forscher am Südpol kann auch nicht beim ersten Schneesturm singen: Ich möcht nach Haus! Ich möcht nach Haus! – er muß einfach durchhalten. Also los!‹ Er setzte Ting-a-ling zu Boden und ging in sein Arbeitszimmer. Dort lagen Manuskripte, von denen die Lektoren von Danby & Winter schon erklärt hatten: ›Kein Geld darin, aber ein ehrliches Stück Arbeit, das Aufmerksamkeit verdient.‹ Es war Michaels Geschäft, ihnen diese Aufmerksamkeit zu widmen, und Danbys Sache war es dann, die Angelegenheit mit den Worten zu erledigen: ›Schreiben Sie ihm (oder ihr) einen höflichen Brief. Sagen Sie, das Werk habe uns sehr interessiert, leider sei es uns jetzt unmöglich – hoffen, das Vergnügen zu haben, die nächste Arbeit prüfen zu dürfen, undsoweiter. So!‹ Er drehte seine Leselampe auf und zog ein schon begonnenes Manuskript hervor.

›Kein Zurück, kein Zurück! Erobern oder sterben,
  denn es gibt kein Zurück!
Kein Zurück, kein Zurück! Erobern oder sterben,
  denn es gibt kein Zurück!‹

Dieser Refrain des schwarzen Dieners aus der alten Operette ›Polly‹ war alles, woran er denken konnte. Zum Kuckuck! Er mußte das Zeug lesen! Und er beendete irgendwie das Kapitel. Er erinnerte sich jetzt. Die Geschichte handelte ausschließlich von einem Mann, der, als er noch ein Knabe war, einen so unauslöschlichen Eindruck von einem Stubenmädchen empfangen hatte, das in einem Zimmer gegenüber die Kleider wechselte, daß sein ganzes Eheleben ein unaufhörlicher Kampf war, seine Frau nicht mit ihrem Stubenmädchen zu betrügen. Man hatte gerade seinen Komplex entdeckt und der würde jetzt weganalysiert werden. Der übrige Teil des Buches würde wahrscheinlich zeigen, wie dies gemacht wurde. Gewissenhaft wurden alle körperlichen Einzelheiten der Affäre erörtert, die wegzulassen man jetzt wieder so schüchtern und viktorianisch war. Eine ehrliche Arbeit und eine Zeitvergeudung, sie weiter zu lesen! Der alte Danby war von Freud schon zu Tode gelangweilt und diesmal hatte Michael nichts dagegen, daß der alte Danby recht behielt. Er legte das Manuskript in die Lade zurück. Sieben Uhr! Sollte er Fleur sagen, was man ihm über ihren Vetter erzählt hatte? Warum? Daran war nichts mehr zu ändern! Wenn sie nur über Wilfrid die Wahrheit sagte! Er trat zum Fenster – Sterne am Himmel und auf der Erde dunkle Striche von Höfen und Hintergärten. ›Kein Zurück, kein Zurück! Erobern oder sterben, denn es gibt kein Zurück!‹

Eine Stimme sagte: »Wann wird dein Vater in der Stadt sein?«

Der alte Forsyte! O Gott! O Gott!

»Ich glaube morgen, Sir. Kommen Sie herein! Sie kennen meine Bude wohl gar nicht.«

»Nein«, sagte Soames. »Gemütlich! Karikaturen. Du sammelst sie? Armseliges Zeug!«

»Aber nicht modern, Sir – eine wiederbelebte Kunst.«

»Seine Nachbarn lächerlich machen, dafür hab ich nie etwas übrig gehabt. Solche Leute gedeihen nur, wenn die Welt auf dem Kopf steht und die Menschen es aufgegeben haben, geradeaus zu sehen.«

»Donnerwetter!« sagte Michael. »Das ist gut. Wollen Sie nicht Platz nehmen, Sir?«

Soames setzte sich und schlug in seiner gewohnten Art ein Bein über das andere. Schlank, grau, verschlossen – ein versiegeltes Buch, fein säuberlich gebunden. Was der wohl für einen Komplex hatte? Was immer es auch sein mochte, er hatte sich ihn nie weganalysieren lassen. Man konnte sich diese Operation nicht einmal vorstellen.

»Ich werde meinen Goya nicht wegnehmen«, sagte er ganz unerwartet, »er soll Fleur gehören. Wenn ich nur bestimmt wüßte, daß ihr ein wenig an die Zukunft dächtet, würde ich mehr für euch festlegen. Nach meiner Meinung werden die Erbschaftssteuern in einigen Jahren unerschwinglich sein.«

Michael runzelte die Stirn. »Sir, ich möchte, daß Sie ein für alle Mal zur Kenntnis nehmen, daß das, was Sie für Fleur tun, Fleur zugute kommen wird. Ich kann leben wie Epikur, wann immer ich will, von Brot – und an Festtagen ein Stückchen Käse dazu.«

Soames blickte schlau empor. »Das weiß ich«, sagte er, »ich hab es immer gewußt.«

Michael verbeugte sich.

»Diese Bodenentwertung muß deinen Vater schwer treffen.«

»Na ja, er spricht davon, daß er Geschäfte machen will, vielleicht mit Seife oder Autos, aber ich würde mich nicht wundem, wenn er wieder eine Hypothek aufnehmen und weiterwursteln würde.«

»Ein Titel ohne Land«, sagte Soames, »ist unnatürlich. Er sollte lieber warten, bis ich gestorben bin, das heißt, wenn ich irgend etwas Nennenswertes hinterlasse. Aber jetzt gib acht! Ich habe darüber nachgedacht, ob ihr zwei glücklich seid, weil ihr doch keine Kinder habt.«

Michael zögerte. »Ich glaube nicht«, sagte er langsam, »daß wir jemals einen Streit oder dergleichen gehabt haben. Ich hatte sie – ich habe sie schrecklich gern, aber Sie wissen ja besser als ich, daß ich nur die Scherben aufgelesen habe.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Heute – Miss June Forsyte.«

»Dieses Frauenzimmer!« sagte Soames. »Sie muß in alles ihre Nase hineinstecken. Eine Jugendliebe – schon monatelang vor eurer Heirat vorbei.«

»Aber tief, Sir!« sagte Michael sanft.

»Tief – wie kann man das in dem Alter wissen? Tief?« Soames hielt inne. »Du bist ein guter Junge – ich hab es immer gewußt. Sei geduldig. Hoffe auf die Zukunft!«.

»Das werde ich, Sir«, sagte Michael, sehr still in seinem Sessel, »wenn es mir möglich ist.«

»Sie bedeutet mir alles«, murmelte Soames kurz.

»Und mir auch – was die Sache nicht leichter macht.«

Die Linie zwischen Soames' Brauen vertiefte sich.

»Vielleicht nicht. Aber halt aus! Sei so zartfühlend wie du kannst, aber halt aus! Sie ist jung. Sie wird umherflattern; aber es ist nicht von Bedeutung.«

›Weiß er von der andern Sache?‹ dachte Michael.

»Ich habe meine eigenen Sorgen«, fuhr Soames fort, »aber sie sind nichts dagegen, was ich fühlen würde, wenn mit ihr irgend etwas schief ginge.«

Michael fühlte eine Spur von Sympathie, die er sonst für diese graue, verschlossene Gestalt nicht empfand. »Ich werde mein möglichstes versuchen«, sagte er ruhig, »aber natürlich besitze ich nicht die Weisheit Salomos.«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Soames, »das weiß ich nicht. Auf jeden Fall, ein Kind – na ja, ein Kind würde – eine – Art von Versich – –« Er hielt inne, das Wort war nicht ganz – –!

Michael wurde sehr kühl. »Was das betrifft, so kann ich gar nichts sagen.«

Soames erhob sich. »Nein«, meinte er nachdenklich, »eigentlich nicht Es ist Zeit zum Umkleiden.«

Umkleiden – dinieren – und nach dem Dinner schlafen – schlafen, träumen! Und was für Träume würden kommen?

Wie Michael in sein Ankleidezimmer ging, begegnete er Coaker, der ein langes Gesicht machte.

»Was ist los, Coaker?«

»Dem kleinen Hund, Sir, ist im Salon übel geworden.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ja, Sir; es scheint, daß man ihn dort alleingelassen hat. Er macht sich bemerkbar, Sir. Ich sag ja immer: Er kommt sich sehr wichtig vor, der kleine Hund …«

Während des Dinners tischte Soames Erzählungen auf, ähnlich denen von James in seiner Blütezeit, als hätte er Gewissensbisse, daß er ihnen einen guten Rat und zwei Bilder im Wert von vielen tausend Pfund gegeben hatte. Er sprach von den Franzosen, vom Fallen der Mark, denn Steigen der Konsols – von der Starrköpfigkeit des Kunsthändlers Dumetrius wegen einer Himmelsansicht von Constable, die Soames haben und die Dumetrius los sein wollte, die jedoch der Kerl justament nicht hergab, um einen Preis herauszuschlagen, den Soames nicht zahlen wollte. Er sprach von Unannehmlichkeiten, die er den Vereinigten Staaten infolge ihres großartigen Alkoholverbots prophezeite. Die Leute waren Dickschädel. Sie begeisterten sich für eine Sache und rannten dann mit dem Kopf gegen die Wand. Er selber hatte niemals so viel getrunken, daß es der Rede wert gewesen wäre, aber er wollte das Bewußtsein haben, daß er trinken könne, wann es ihm beliebte. Die Amerikaner jedoch freuten sich an dem Bewußtsein, daß er nicht trinken könne, wann es ihm beliebte, und das war Tyrannei. Sie nahmen sich zu viel heraus. Es würde ihn gar nicht wundern, wenn jetzt ein jeder Mensch drüben ein Säufer würde. Was den Völkerbund betraf, so hatte ihn gerade an jenem Morgen einer in den Himmel gehoben. Der Hahn würde nicht kämpfen – man würde Geld ausgeben und Sachen arrangieren, die sich auch von selbst arrangiert hätten, aber irgend etwas Wichtiges, wie zum Beispiel mit dem Bolschewismus oder den Giftgasen ein Ende machen, das würden sie nie zustande bringen, das sollten sie einem andern einzureden versuchen! Es war fast ein Rekord für einen gewöhnlich so schweigsamen Menschen und von großem Nutzen für zwei junge Leute, die nur darauf bedacht waren, daß er weiterreden sollte, so daß sie an andere Dinge denken konnten. Das Benehmen Ting-a-lings war das einzige andere Thema, das der Rede wert war. Fleur meinte, der kupferne Fußboden sei schuld, Soames, daß er etwas auf dem Platz aufgestöbert habe – Hunde stöberten immer irgend etwas auf. Michael vermutete, daß es einfach chinesisch wäre, ein Protest dagegen, daß niemand da war, der von seiner Selbstherrlichkeit Notiz genommen hätte. In China lebten vierhundert Millionen Menschen, die einander auf ihre Selbstherrlichkeit hin beobachteten. Was täte ein Chinese, der plötzlich allein in der Wüste Gobi säße? Es würde ihm bestimmt übel werden.

›Kein Zurück, kein Zurück! Erobern oder sterben, denn es gibt kein Zurück!‹

Als Fleur sie alleingelassen hatte, empfanden beide, daß sie nicht so bald wieder ihre gegenseitige Gesellschaft ertragen könnten, und Soames sagte: »Ich muß mir noch ein paar Ziffern zusammenstellen; ich gehe auf mein Zimmer.«

Michael erhob sich. »Wollen Sie nicht meine Bude benützen, Sir?«

»Nein«, sagte Soames, »ich muß mich konzentrieren. Sag Fleur gute Nacht von mir.«

Michael blieb noch rauchend vor den spanischen Früchten aus Porzellan sitzen. Die konnte der weiße Affe nicht verzehren und die Schalen wegwerfen! Würden in Zukunft die Früchte seines Lebens aus Porzellan sein? In demselben Haus wie Fleur leben, entfremdet? Mit Fleur weiterleben wie jetzt und sich als Fremder fühlen, sogar als unwillkommener Fremder? Sollte er das Feld räumen und zu den Piloten gehen oder zum ›Kinderrettungskorps‹? Welcher der drei Wege war am wenigsten trostlos? Die Asche seiner Zigarre wurde lang, fiel unbeachtet nieder und wurde wieder lang; die glänzenden, leuchtenden Porzellanfrüchte schienen ihn zu verspotten. Coaker steckte den Kopf zur Tür herein und zog ihn wieder zurück. (Der gnädige Herr war verstimmt – ein sehr guter Herr!) Entscheidung harrte seiner, irgendwo, irgendwann – Fleurs, nicht seine eigene. Er fühlte sich zu elend und unglücklich, um zu wissen, was er eigentlich tun wollte; aber Fleur würde wissen, was sie anging. Sie wußte genau Bescheid über Wilfrid, ihren Cousin, um ihre eigenen Handlungen und Gefühle, und deshalb konnte nur sie eine Entscheidung treffen. Ja, eine Entscheidung würde fallen, und was lag daran in einer Welt, die Mitleid für Blödsinn erklärte und in der nur die Philosophie der Chinesen von Nutzen war?

Aber sich zusammennehmen, daß einem nicht im Salon übel werde, und versuchen, seinen Mann zu stellen, selbst wenn niemand bemerkte, daß man doch auch etwas gelte! …

 

Er hatte geschlummert, und in seinem Schlafzimmer war es fast ganz dunkel. Etwas Weißes an seinem Bett! Eine duftende leichte Wärme dicht vor ihm; eine leise Stimme sagte: »Ich bin es nur. Laß mich zu dir ins Bett kommen, Michael.« Wie ein Kind – wie ein Kind! Michael streckte die Arme aus. Das Weiße, Warme schmiegte sich hinein. Locken bedeckten seinen Mund und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Ich wär doch nicht gekommen, nicht wahr – wenn irgend etwas vorgefallen wäre?« Michaels Herz schlug verwirrt und ungestüm gegen ihres.


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