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Lady Alison Cherrell, geborene Heathfield, die Tochter des ersten Earl of Campden und die Gemahlin des Königlichen Rates Lionel Cherrell, Michaels jungen Onkels, war eine entzückende Engländerin, unter Menschen aufgewachsen, die man für die Seele der Gesellschaft hielt. Diese Gesellschaft, die eine Fülle von Geist, Energie, Geschmack und Geld besaß, entstammte Generationen von Politikern und Rechtsgelehrten, deren Blut durch Verbindungen mit Aristokraten blau gefärbt war, hatte aber nichts mit dem Snooks-Klub und den langweiligen Zufluchtsstätten der durch Geburt und Privilegien Begünstigten zu tun. Die Gesellschaft war reizend und lustig, frisch und frei und nach Michaels Meinung ›snobistisch und altmodisch in ästhetischer und intellektueller Hinsicht, aber einsehen werden sie's nie. Sie halten sich für die Krone der Schöpfung, für aufgeweckt, gesund, modern, vornehm und intelligent. Sie können sich einfach nicht vorstellen, daß es noch ihresgleichen gibt. Aber sie haben zu wenig Phantasie. Ihre wirklich schöpferischen Taten kann man an den fünf Fingern abzählen. Man muß sich nur ihre Bücher ansehen: immer schreiben sie über irgend etwas – über Philosophie, Spiritualismus, Poesie, Fischerei, oder über sich selbst. Sogar ihre Sonette versiegen, ehe sie fünfundzwanzig Jahre alt sind. Alles kennen sie, nur die Menschen außerhalb ihrer Gesellschaftsschicht nicht. Ja, arbeiten – das tun sie schon – sind Hans Dampf in allen Gassen; das müssen sie ja sein, denn niemand hat so viel Verstand, Energie und Geschmack wie sie. Aber sie drehen sich fortwährend in ihrem eigenen verwünschten Kreis herum. Der ist ihre Welt – und die könnte noch schlechter sein. Sie haben auf ihr eigenes Goldenes Zeitalter ein Patent genommen; aber seit dem Krieg zeigt sich schon ein wenig Fliegenschiß darauf.‹
Alison Cherrell, Gesellschaftsdame durch und durch, so energisch-seelenvoll, so freundlich, ungezwungen und gemütlich, wohnte in fast unmittelbarer Nähe von Fleur, in einem Hause, das so hübsch gebaut war wie nur irgend eines in London. Mit vierzig Jahren besaß sie drei Kinder und war von ansehnlicher Schönheit, die ganz leise Spuren ihrer geistigen und körperlichen Tätigkeit aufwies. Da sie sich leicht begeisterte, hatte sie Michael gern, trotz seiner seltsamen Art zu kritisieren, so daß sein Eheabenteuer ihr Interesse von Anfang an erregt hatte. Fleur besaß feinen Geschmack und eine rasche, natürliche Auffassungsgabe – es lohnte sich wohl, diese neue Verwandtschaft zu kultivieren. Aber obgleich Fleur aufnahms- und anpassungsfähig war, so paßte sie sich merkwürdigerweise durchaus nicht an; sie erregte noch immer die Neugier Lady Alisons, die an den engen Kreis auserwählter Geister gewöhnt war und nun einen gewissen Reiz im Kontakt mit Leuchten der Neuen Zeit fand, die sich auf Fleurs Kupferfußboden trafen. Dort stieß sie auf eine Respektlosigkeit, die, obwohl nicht allzu ernst genommen, sie doch stark aufmunterte. Auf jenem Boden kam sie sich fast altmodisch vor. Das gerade, stachelte ihren Ehrgeiz an.
Nach Fleurs telephonischer Anfrage wegen Gurdon Minho hatte sie den Schriftsteller angerufen. Sie kannte ihn, wenngleich nicht sehr gut. Niemand schien ihn gut zu kennen – er war liebenswürdig, höflich, schweigsam, ziemlich zurückhaltend und langweilig. Sein Lächeln, das manchmal ironisch, manchmal freundlich war, konnte einen aus der Fassung bringen. Seine Bücher waren bald beißend spöttisch, bald sentimental. Auf jeden Fall war es beinahe Mode, ihn abzukanzeln, obgleich er noch immer zu existieren schien!
Sie rief ihn an: Ob er morgen zum Dinner zu ihrem jungen Neffen, Michael Mont, kommen wolle, um dort die jüngere Generation zu treffen? Seine Antwort kam mit ziemlich hoher Stimme: »Herzlich gern! In voller Gala oder Smoking?«
»Das ist wirklich reizend von Ihnen! Man wird sich so freuen. Volle Gala, glaub ich. Es ist ihr zweiter Hochzeitstag.« Als sie das Hörrohr zurückhängte, dachte sie: ›Wahrscheinlich schreibt er ein Buch über die Leute!‹
Da sie sich ihrer Verantwortung bewußt war, ging sie früh hin.
Ihr Gatte hatte eine große Versammlung in der Advokatenkammer, so daß sie allein kam und das Gefühl hatte, ein Abenteuer zu erleben. Das war sehr angenehm nach einem Tag, den sie in unschlüssiger Erregung über das Ergebnis im Snooks-Klub verbracht hatte. Sie wurde nur von Ting-a-ling empfangen, der mit dem Rücken zum Feuer lag, sie anstarrte und weiter keine Notiz von ihr nahm. Sie ließ sich auf dem graugrünen Sofa nieder und sagte: »Na, du komischer kleiner Kauz, kennst du mich nach so langer Zeit noch immer nicht?«
Ting-a-lings glänzende schwarze Augen schienen zu sagen: ›Ich weiß, daß du immer wiederkehrst; die meisten Dinge kehren immer wieder. Es gibt nichts Neues in der Welt.‹
Lady Alison verfiel in Sinnen: Die neue Generation! Wünschte sie denn, daß ihre eigenen Töchter dazugehörten? Sie würde gern einmal mit Mr. Minho darüber sprechen – vor dem Krieg hatte sie einmal dort in Beechgroves ein sehr nettes Gespräch mit ihm geführt. Das war vor neun Jahren gewesen. So verging die Zeit, und alles änderte sich. Eine neue Generation! Und worin lag denn der Unterschied? »Ich glaube, wir besaßen mehr Tradition«, sagte sie leise zu sich.
Ein schwaches Geräusch ließ sie von ihren Füßen aufblicken, die sie gedankenvoll angestarrt hatte. Ting-a-ling bewegte seinen Schwanz auf der Matte hin und her, als applaudiere er. Fleurs Stimme sagte hinter ihr: »Ich komme schrecklich spät, liebste Alison. Es war wirklich reizend von dir, mir Mr. Minho zu verschaffen. Hoffentlich vertragen sie sich alle. Auf jeden Fall wird er zwischen uns beiden sitzen: ich setze ihn an die Spitze der Tafel und Michael an das Ende zwischen Pauline Upshire und Amabel Nazing, Sibley zu deiner Linken, Aubrey zu meiner Rechten, neben ihn Nesta Gorse und Walter Nazing, ihnen gegenüber Linda Frewe und Charles Upshire. Zwölf. Du kennst sie alle. Oh, und bitte, nimm es Nesta und den Nazings nicht übel, wenn sie zwischen den Gängen rauchen. Amabel läßt sich davon nicht abhalten. Sie kommt aus Virginien – es ist die Reaktion. Ich hoffe nur, daß sie wenigstens etwas wie Kleider anhat, wenn Michael auch sagt, daß gerade das ein Fehler von ihr wäre. Da Mr. Minho heute kommt, bin ich ein wenig nervös. Hast du Nestas Parodie im ›Bouquet‹ gelesen? Oh, das ist doch schrecklich lustig – ganz klar auf L. S. D. gemünzt! Ting, lieber Ting, wirst du denn hierbleiben, wenn alle die Leute kommen? Na, dann leg dich hier hinauf, sonst wird man auf dich treten. Sieht er nicht ganz chinesisch aus? Er verleiht diesem Zimmer gewissermaßen die letzte Vollendung.«
Ting-a-ling lag mit der Schnauze auf den Vorderpfoten mitten auf einem grau-grünen Kissen.
»Mr. Gurdon Minho!«
Der berühmte Romancier sah blaß und gefaßt aus. Während er die beiden ihm entgegengestreckten Hände schüttelte, starrte er Ting-a-ling an und sagte: »Wie hübsch! Sei gegrüßt, mein Kleiner!«
Ting-a-ling rührte sich nicht. ›Sie halten mich also für einen, ganz gewöhnlichen englischen Hund, mein Herr?‹ schien sein Schweigen zu sagen.
»Mr. und Mrs. Walter Nazing, Miss Linda Frewe.«
Amabel Nazing trat zuerst ein, unverhüllter Alabaster vom blonden Haar abwärts bis zu den sechs Zoll schimmernden Rückens über der Taille, verhüllter Alabaster von vier Zoll unter dem Knie bis zu den schimmernden Spitzen ihrer Schuhe. Der hervorragende Romancier wandte unwillkürlich seinen Blick von Ting-a-ling ab.
Walter Nazing, der seiner Frau folgte, die er um ein gut Stück überragte, ließ nur einen winzigen weißen Kragenrand aus Schwaden von Schwarz hervorscheinen, und sein Gesicht, das vor hundert Jahren gemeißelt schien, ähnelte leicht dem Shelleys. Auch seine literarischen Produktionen ähnelten manchmal, wie behauptet wurde, der Poesie jenes Barden und manchmal der Prosa von Marcel Proust. ›Au weh!‹ wie Michael sagte.
Über Linda Frewe, die Fleur sofort mit Gurdon Minho bekannt machte, waren noch nie zwei Leute in ihrem Salon einig gewesen. Die Meinungen über ihre Werke ›Nichtigkeiten‹ und ›Der wütende Don‹ waren vollkommen geteilt. Diese Bücher, die nach der Ansicht einiger genial, nach andern Faseleien waren, erregten immer eine interessante Debatte, ob ein klein wenig Verrücktheit den Wert der Kunst vermehre oder vermindere. Sie selber legte wenig Wert auf Kritik – sie schuf.
» Der Mr. Minho? Wie interessant! Ich habe noch nie etwas von Ihnen gelesen.«
»Wie, du kennst nicht Mr. Minhos Katzen? Aber sie sind doch wundervoll. Mr. Minho, ich möchte so gern, daß Mrs. Walter Nazing Ihre Bekanntschaft macht. Amabel – Mr. Gurdon Minho.«
»Oh, Mr. Minho, wie wunderbar nett! Ich wünschte mir schon als Baby Ihre Bekanntschaft, zu machen.«
Fleur hörte den Romancier ruhig erwidern: »Ich wollte, es wäre noch früher gewesen«, und ging von Zweifeln befangen zu Nesta Gorse, um sie und Sibley Swan zu begrüßen, die hereinkamen, als ob sie zusammenlebten: sie stritten gerade über L. S. D. Nesta trat für ihn ein, weil er so laut seinen eigenen Ruhm verkündete, während Sibley dabei blieb, daß die Erneuerungsbewegung dem Witz ein Ende gemacht hätte; dieser Bursche aber lebte!
Michael folgte mit den Upshires und Aubrey Greene, den er in der Halle getroffen hatte. Die Gesellschaft war vollzählig.
Fleur schwärmte für Vollkommenheit und empfand an diesem Abend etwas wie Alpdrücken. War es ein Erfolg? Es war so offenbar, daß Minho von allen Anwesenden am wenigsten brillierte; sogar Alison verstand sich besser zu unterhalten. Und doch hatte er einen so feinen Schädel. Wenn er nur nicht etwa früh nach Hause ging! Sie konnte darauf wetten, daß jemand sagen würde: ›Eine Antiquität!‹ oder ›fad und kahlköpfig!‹, ehe sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Er war rührend nett, als ob ihm daran läge, daß man ihn gern habe oder wenigstens nicht zu sehr verachte. Und es mußte natürlich mehr in ihm stecken, als seine Worte jetzt verrieten. Nach der Krabbenomelette schien er sich tatsächlich mit Alison über die Jugend zu unterhalten. Fleur hörte mit einem Ohr zu.
»Jugend fühlt …Hauptstrom des Lebens …findet nicht, was sie braucht. Vergangenheit und Zukunft von einem Heiligenschein umstrahlt sehen …Stimmt! …Das gegenwärtige Leben ist nichts wert …Nein … Der einzige Trost für uns – wir werden eines Tages veraltet sein wie Congreve, Sterne, Defoe …wir werden eine Möglichkeit haben? …Warum? Was treibt sie denn weg von dem Hauptstrom? Oh! Wahrscheinlich Übersättigung …Zeitungen …Photographien. Sie sehen nicht das Leben selbst, nur Berichte …Wiedergaben des Lebens; alles erscheint ihnen schäbig, unsauber und spekulativ …Die Jugend sagt: ›Weg damit, wir wollen die Vergangenheit oder die Zukunft!‹«
Er nahm einige gesalzene Mandeln und Fleur sah, wie seine Augen über die Schultern Amabel Nazings hinglitten. Dort unten war die Konversation das reine Ballspiel – jeder empfing den Ball, um ihn gleich wieder weiterzugeben. Er flog von Kopf zu Kopf. Und nach jedem Angriff streckte jemand die Hand aus, nahm eine Zigarette und blies eine blaue Wolke über den Speisetisch, auf dem keine Decke lag. Fleur erfreute sich an dem Glanz ihres spanischen Zimmers, an dem mit Fliesen belegten Fußboden, den farbenprächtigen Früchten aus Porzellan, dem gepreßten Leder, den Kupfergegenständen und Soames' Goya über dem maurischen Diwan. Wenn der Ball zu ihr kam, gab sie ihn prompt weiter, aber sie ergriff nie die Initiative. Ihre Gabe war, alles gleichzeitig zu bemerken, Mrs. Michael Mont präsentierte die brillanten Nichtigkeiten Linda Frewes, die Anregungen und Nadelstiche von Nesta Gorse, die wie Mondlicht nie ganz zu fassenden Andeutungen von Aubrey Greene, die aufwühlenden Schlagworte von Sibley Swan, Amabel Nazings kleine, kühle amerikanische Kühnheiten, die sonderbaren kurzen Anekdoten von Charles Upshire, Walter Nazings aufreizende Widersprüche, die kritischen verwickelten Bemerkungen von Pauline Upshire, Michaels lustig-unbekümmerte Schleudern und Pfeile, sogar Alisons kluge Lebendigkeit und Gurdon Minhos Schweigen – das alles präsentierte sie gleichzeitig, setzte es ins beste Licht und hielt Auge und Ohr auf den Ball der Unterhaltung gerichtet, damit er ja nicht zu Boden falle und liegenbleibe. Ein brillanter Abend, aber – war es ein Erfolg?
Auf dem graugrünen Sofa saß sie, nachdem der letzte Gast gegangen war und Michael Alison nach Haus begleitete, und dachte an Minhos ›Jugend, die nicht findet, was sie braucht‹. Nein! Die Dinge paßten nicht zusammen. »Passen nicht zusammen, nicht wahr, Ting?« Aber Ting-a-ling war müde, nur die Spitze eines seiner Ohren zitterte. Fleur lehnte sich seufzend zurück. Ting-a-ling rollte sich auf, legte seine Vorderpfoten auf ihr Bein und blickte ihr ins Gesicht ›Schau mich an‹, schien er zu sagen, ›mir geht es gut. Ich bekomme, was ich will, und ich will, was ich bekomme. Jetzt will ich schlafen gehn.‹
»Aber ich will nicht!« sagte Fleur, ohne sich zu rühren.
›Nimm mich nur auf den Arm!‹ sagte Ting-a-ling.
»Na ja«, sagte Fleur, »ein netter Mensch, aber nicht der richtige, Ting.«
Ting-a-ling legte sich auf ihren bloßen Armen zurecht.
›Alles ganz schön und gut‹, schien er zu sagen. ›Aber es gibt zu viel Sentimentalität und ähnliches außerhalb von China. Komm doch!‹