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10.
Überläßt jedoch nichts dem Zufall

Michael kannte die City nicht. Und im Geist der alten Kartenzeichner: ›Wo Unerforschtes liegt, zeichne Schrecken ein‹, suchte er seinen Weg durch die Umgebung der Poultry zu dem Allerheiligsten, den Bureaus von Cuthcott, Kingson & Forsyte. Er war in nachdenklicher Stimmung, denn er hatte mit Sibley Swan im Café C'rillon zusammen geluncht. Er hatte alle Gäste gekannt, sieben Burschen, noch moderner als der alte Sib; nur ein Russe war ihm fremd, und der war so modern, daß er kein Französisch verstand und niemand mit ihm sprechen konnte. Michael war Zeuge, wie sie alles in Grund und Boden kritisierten, wobei der Russe jedesmal wie ein Kind, dem übel wird, die Augen schloß, sooft der Name eines Lebenden erwähnt wurde …›Nur weiter!‹ dachte er, nachdem schon einige seiner Lieblinge abgeschlachtet worden waren. ›Haut und stecht nur weiter drauf los! Berühmtheit harrt eurer am Ende des Wegs!‹ Aber er hatte seine Lästerung zurückgehalten bis zum Augenblick der Trennung. »Sib«, sagte er, sich erhebend, »alle diese Burschen hier sind Leichen. Sollte man sie bei diesem heißen Wetter herumlaufen lassen?«

»Was meinst du?« stieß Sibley Swan hervor unter fast peinlichem Schweigen der Burschen.

»Ich meine, da sie alle noch leben, so können sie doch nichts wert sein!« Er wich einem Stück Schokolade aus, das den Russen traf, und suchte das Weite.

Draußen dachte er nach: ›Im Grunde genommen ganz brave Burschen! Gar nicht so verdammt großartig, wie sie sich selber vorkommen. Es war durchaus menschlich, daß der Russe eins auf die Nase bekam. Uff, wie heiß es ist!‹

An diesem ersten Tag des Wettkampfs zwischen Eton und Harrow hatte sich alle Hitze, die der kühle Sommer bisher schuldig geblieben war, gesammelt und glühte auf Michael oben auf dem Autobus herab, glühte auf die Strohhüte und die blassen, schwitzenden Gesichter, auf das Verdeck zahlloser anderer Autobusse, auf Geschäftsleute, Polizisten, Ladenbesitzer in ihren Türen, auf Verkäufer von Zeitungen, Schuhbändern, herumhüpfendem Spielzeug, auf endlose Reihen von Wagen und Taxametern, auf Inschriften und Drähte, auf das ganze Tohuwabohu des größten Sammelsuriums in der Welt, das von einem unsichtbaren Instinkt fast haarscharf in Ordnung gebracht wurde. Michael starrte zweifelnd darauf hin. War es möglich, daß das Ganze funktionieren konnte, da doch jeder sein eigenes Ziel verfolgte und von seinen eigenen Interessen absorbiert war? Ein Ameisenhaufen konnte nicht geschäftiger sein oder anscheinend verwirrter. Lebendige Drähte kreuzten sich, kreuzten sich wieder und wieder, unentwirrbar ineinander verwickelt, würde man glauben; und dennoch schien das Leben und die Ordnung, die das Leben brauchte, über allem zu schweben! ›Kein geringes Wunder‹, dachte er, ›das moderne Großstadtleben!‹ Und plötzlich schien es aufzuhören, als hätte ein Über-Sibley-Swan es schonungslos zerstört – Michael starrte in eine Sackgasse hinein. Zu beiden Seiten standen Häuser, erst kürzlich gelbbraun gestrichen, und eines genau wie das andere; am Ende stand ein glattes, gelbbraunes Haus, das den andern noch ähnlicher sah, und davor graues, scheinbar unbenutztes Pflaster, weder von Pferden noch von Benzin verunreinigt; keine Autos, Wagen, Katzen, Polizisten, Straßenhändler, Fliegen oder Bienen. Kein Zeichen menschlichen Lebens, ausgenommen die Namen von Rechtsanwälten zu beiden Seiten jeder offenen Tür.

›Cuthcott, Kingson & Forsyte, Notare. Erster Stock.‹

›Rule Britannia!‹ dachte Michael, als er die breiten Steintreppen emporstieg.

In dem Zimmer, in das man ihn hineinführte, sah er einen alten pausbackigen Menschen mit einem runden, angegrauten Bart, schwarzem Lüsterrock und einer bauchigen Leinenweste um seine bauchige Mitte; der Mann erhob sich von seinem Drehstuhl.

»Aoh!« sagte er, »Mr. Michael Mont, wenn ich nicht irre. Ich habe Sie erwartet. Es wird nicht lange dauern, wenn Mr. Forsyte einmal da ist. Er ist gerade nur um die Ecke gegangen. Mrs. Michael befindet sich doch hoffentlich wohl?«

»Danke, so wohl wie – –«

»Jaa, man macht sich Sorgen. Nehmen Sie Platz. Möchten Sie den Entwurf lesen?«

Nachdem man es ihm so zur Pflicht gemacht hatte, nahm Michael ein paar Bogen Papier aus einer fetten Hand und setzte sich gegenüber nieder. Mit einem Auge den alten Herrn betrachtend, las er mit dem andern ganz langsam.

»Es scheint etwas zu bedeuten«, sagte er schließlich.

Er sah, wie sich in dem Bart eine Höhle auftat, als schnappte ein Frosch nach einer Fliege, und beeilte sich, seinen Irrtum zu korrigieren.

»Kalkulieren, was dann geschieht, wenn irgend etwas anderes nicht geschieht, muß ungefähr so wie das Geschäft eines Buchmachers sein.«

Er spürte sofort, daß er wieder daneben geschossen hatte. Er vernahm ein verdrießliches Gemurmel:

»Wir verschwenden nicht unsere Zeit hier. Entschuldigen Sie, ich hab zu arbeiten.«

Michael saß ganz zerknirscht da und sah zu, wie der Mann eine lange Seite von Eintragungen abstrich. Er war wie einer jener alten Hunde, die vor den Türen liegen, sich die Flöhe suchen und jedermann vom Gebäude fernhalten. Nach weniger als fünf Minuten vollkommenen Schweigens kam Soames herein.

»Da bist du also«, sagte er.

»Jawohl, Sir; ich hab es für das beste gehalten, zur angegebenen Zeit zu kommen. Was für ein angenehmes, kühles Zimmer!«

»Hast du das gelesen?« fragte Soames und zeigte auf den Entwurf.

Michael nickte.

»Hast du es auch verstanden?«

»Bis zu einem gewissen Grad, glaub ich.«

»Die Zinsen von diesen fünfzigtausend«, sagte Soames, »gehören Fleur, bis ihr Erstgeborenes, falls es ein Sohn ist, das Alter von einundzwanzig Jahren erreicht; dann wird das Kapital sein alleiniges Eigentum. Falls es ein Mädchen ist, behält Fleur lebenslänglich das halbe Einkommen; der Rest der Zinsen wird dem Mädchen ausgezahlt, sobald es das Alter von einundzwanzig Jahren erreicht oder heiratet; in letzterem Falle geht das Kapital dieser Hälfte an das Kind über oder die ehelich geborenen Kinder zu gleichen Teilen, wenn sie volljährig werden oder heiraten. Die andere Hälfte des Kapitals fällt Fleurs Vermögen zu, und sie kann testamentarisch darüber verfügen. Andernfalls vererbt es sich nach der Vorschrift der Gesetze.«

»Sie machen es einem prachtvoll klar«, sagte Michael.

»Einen Augenblick!« sagte Soames. »Falls Fleur keine Kinder haben sollte – –«

Michael zuckte zusammen.

»Alles ist möglich«, sagte Soames ernsthaft, »und nach meiner Erfahrung treten immer die Zufälle ein, für die man nicht vorgesorgt hat. In einem solchen Fall gehören ihr die Zinsen des ganzen Kapitals lebenslänglich, und das Kapital kann sie vor ihrem Tod vermachen, wem sie will. Versäumt sie das, so fällt es den nächsten Anverwandten zu. Es sind Vorkehrungen getroffen gegen ein vorzeitiges Abheben des Geldes und dergleichen.«

»Sollte sie jetzt nicht ein neues Testament machen?« fragte Michael, dem der Schweiß auf die Stirn trat.

»Nur wenn sie will. Das gegenwärtige Testament enthält alles.«

»Habe ich irgend etwas dabei zu tun?«

»Nein. Ich wollte nur, daß du den Inhalt kennen lernst, ehe ich unterzeichne, weiter nichts. Geben Sie mir die Urkunde, Gradman, und rufen Sie Wickson herein, bitte.«

Michael sah, wie der Alte aus einer Lade ein schönes Stück Pergament hervorzog, das mit Kupferdruck und Siegeln bedeckt war, wie er es zärtlich betrachtete und dann vor Soames hinlegte. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sagte Soames mit leiser Stimme: »Diese Versammlung am Dienstag – man kann nicht wissen! Aber was immer auch geschieht, so wird dies wohl doch nicht angefochten werden, soweit ich sehen kann.«

»Sie sind sehr nobel, Sir.«

Soames nickte und prüfte eine Feder.

»Ich fürchte, ich hab Ihren alten Beamten gekränkt«, sagte Michael; »er gefällt mir furchtbar gut, aber zufällig hab ich ihn mit einem Buchmacher verglichen.«

Soames lächelte. »Gradman«, sagte er, »ist ein Mann vom alten Schlag. Heutzutage gibt es nicht mehr viele.«

Michael wunderte sich im stillen, ob man auch vom alten Schlag sein könne unter sechzig, als der ›Mann vom alten Schlag‹ zurückkam mit einem blassen Mann in dunklen Kleidern.

Mit der Nase seitwärts deutend, sagte Soames sofort: »Das ist eine nachhochzeitliche Schenkung an meine Tochter. Ich deponiere dieses Dokument hiermit als Schenkungsurkunde.«

Er unterschrieb und stand auf.

Der blasse Mensch und Gradman unterschrieben ebenfalls, worauf der erstere das Zimmer verließ. Als ob alle erschöpft gewesen wären, trat ein Schweigen ein.

»Brauchen Sie mich noch?« fragte Michael.

»Jawohl. Du sollst noch Zeuge sein, wie ich es bei der Bank zusammen mit dem Ehevertrag deponiere. Ich werde nicht zurückkommen, Gradman.«

»Leben Sie wohl, Mr. Gradman.«

Michael hörte den alten Herrn etwas in seinen Bart murmeln, wobei dieser beinahe in die Lade hineinkroch, in die er den Entwurf zurücklegte. Dann folgte er Soames hinaus.

»Hier hatte ich früher mein Bureau«, sagte Soames, als sie durch Poultry gingen, »und mein Vater vor mir.«

»Etwas anregender vielleicht«, sagte Michael.

»Die Vermögensverwalter treffen uns in der Bank; erinnerst du dich ihrer noch?«

»Vettern von Fleur, nicht wahr, Sir?«

»Entfernte Verwandte, die ältesten Söhne des jungen Roger und der des jungen Nicholas. Ich habe die Jüngsten ausgesucht. Der ganz junge Roger ist im Krieg verwundet worden – er arbeitet gar nichts. Der ganz junge Nicholas ist Jurist«

Michael spitzte die Ohren. »Wie wird denn die nächste Generation genannt werden? Der ganz ganz junge Roger wäre schon fast eine Beleidigung, nicht wahr?«

»Es wird keinen geben«, sagte Soames, »wenn die Steuern so fortdauern. Er kann es sich nicht leisten; er ist ein solider Junge. Wie werdet ihr euren Sohn nennen, wenn es einer wird?«

»Wir denken Christopher, wegen des Erbauers der St. Paulskathedrale und wegen Columbus. Fleur will, daß er gesetzt wird, und ich wünsche ihn mir unternehmungslustig.«

»Hm! Und wenn es ein Mädchen wird?«

»Oh, wenn es ein Mädchen wird – Anne.«

»Ja«, sagte Soames, »das ist sehr hübsch. Da sind sie schon!«

Sie waren in der Bank angekommen, und Michael sah im Eingang zwei Forsytes zwischen dreißig und vierzig Jahren stehen, deren Gesichter mit dem vorstehenden Kinn er sich dunkel erinnerte. Ein Mann mit glänzenden Knöpfen vorn am Rock führte sie in ein Zimmer, wo ein Mann ohne Knöpfe eine japanische Lackkassette hervorholte. Einer der beiden Forsytes öffnete sie mit einem Schlüssel. Soames murmelte eine Beschwörung und hinterlegte den Akt. Nachdem er und der Forsyte mit dem stärker hervortretenden Kinn ein paar Bemerkungen mit dem Direktor über die Frage der Bankrate gewechselt hatten, gingen sie alle in die Vorhalle zurück und schieden mit den Worten: »Also adieu!«

In dem Lärm und Gedränge der Straße sagte Soames: »Nun ist er versorgt, soweit ich sehen kann. Wann erwartet ihr das Ereignis eigentlich?«

»Es soll gerade noch vierzehn Tage dauern.«

»Hältst du etwas von diesem – diesem Dämmerschlaf?«

»Das möcht ich gern«, sagte Michael, der fühlte, wie ihm wieder der Schweiß auf die Stirn trat. »Fleur ist wundervoll gefaßt; sie praktiziert Coué abends und in der Früh.«

»Ach, das!« sagte Soames, ohne zu erwähnen, daß er es selber tat, um nicht den Zustand seiner Nerven zu verraten. »Wenn du nach Hause gehst, begleite ich dich.«

»Bravo!« sagte Michael.

Er fand Fleur, die mit Ting-a-ling in der Ecke des Sofas lag.

»Dein Vater ist hier, Liebling. Er hat die Zukunft ein bißchen geschmiert mit weiteren Fünfzigtausend. Ich glaube, er möchte es dir gern selbst erzählen.«

Fleur bewegte sich unruhig hin und her.

»Später. Wenn es weiter so heiß sein wird, Michael, wird es unerträglich.«

»Aber es wird schon besser werden, Kätzchen. In drei Tagen gibt's ein Gewitter.«

Er packte Ting-a-ling bei der Schnauze und wendete seinen Kopf nach oben. »Du wirst bald die zweite Geige spielen, mein Lieber.«

»Er weiß, daß etwas bevorsteht.«

»Er ist ein kluger kleiner Köter, nicht wahr, Alterchen?«

Ting-a-ling schnüffelte.

»Michael!«

»Ja, mein Liebling?«

»Es ist mir jetzt alles so gleichgültig – ein komischer Zustand.«

»Das macht die Hitze.«

»Nein, ich glaube, weil es zu lang dauert. Alles ist vorbereitet, und das Warten kommt einem so dumm vor. Ob ein Mensch mehr in der Welt ist oder einer weniger, was liegt daran!«

»Nicht, Fleur! Es liegt schrecklich viel daran!«

»Eine tanzende Mücke mehr oder eine Ameise mehr, die herumrennt!«

Bekümmert sagte Michael wieder: »Nicht, Fleur! Das ist nur eine Stimmung.«

»Ist Wilfrids Buch schon erschienen?«

»Morgen kommt es heraus.«

»Es tut mir leid, daß ich dir so schlimme Stunden bereitet habe. Ich hab ihn nur nicht verlieren wollen.«

Michael ergriff ihre Hand.

»Und ich auch nicht, wahrhaftig nicht!« sagte er.

»Er hat wohl niemals geschrieben?«

»Nein.«

»Na, jetzt dürfte er es schon überwunden haben. Nichts dauert ewig.«

Michael legte ihre Hand an seine Wange.

»Nur ich, fürchte ich«, sagte er.

Die Hand berührte seine Lippen.

»Grüße den Vater und sage ihm, daß ich zum Tee hinunterkommen werde. Oh, mir ist so heiß!«

Michael zögerte einen Augenblick und ging dann hinaus. Die verfluchte Hitze, die sie in eine solche Stimmung brachte!

Er fand Soames vor dem weißen Affen stehen.

»Ich würde den da herunternehmen, wenn ich du wäre«, murmelte er, »bis es vorüber ist.«

»Warum, Sir?« fragte Michael erstaunt.

Soames runzelte die Stirn. »Diese Augen!«

Michael ging zu dem Bild hin. Ja! Es hatte Augen, die einen verfolgten, dieses Tier!

»Aber es ist doch ein so ausgezeichnetes Werk, Sir.«

Soames nickte. »Künstlerisch, ja. Aber in einer solchen Zeit kann man nicht genug vorsichtig sein mit den Sachen, die sie täglich sieht.«

»Ich glaube, Sie haben recht. Also nehmen wir ihn herunter.«

»Ich werde ihn halten«, sagte Soames und ergriff den untern Rand des Bildes.

»Haben Sie ihn fest? Gut so. Los!«

»Du kannst erklären, daß ich ein fachmännisches Urteil über diese Periode einholen wollte«, sagte Soames, als das Bild auf dem Boden stand.

»Daran wird niemand zweifeln, Sir – die Gegenwart!«

Soames starrte ihn an. »Was? Oh! Du meinst – –? Ah! Hm! Laß sie nicht wissen, daß er im Haus ist.«

»Nein, ich werd ihn einsperren.« Michael hob das Bild hoch. »Möchten Sie mir nicht die Tür öffnen, Sir?«

»Ich werde zum Tee zurückkommen«, erklärte Soames. »Dann sieht es so aus, als hätte ich ihn mitgenommen. Später kannst du ihn ja wieder aufhängen.«

»Ja, das arme Tier!« sagte Michael und trug den Affen ins Exil.


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