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13.
Auf glühenden Kohlen

Michael war zur Versammlung des Arbeiterkandidaten gegangen, zum Teil, weil es ihn interessierte, zum Teil auch aus kameradschaftlichem Gefühl für den alten Forsyte, dem gegenüber er immer die Empfindung hatte, als ob er ihn beraubt hätte. Sein Schwiegervater hatte sich, was Fleur anbetraf, ihm gegenüber so anständig benommen, daß er ihm gerne Fleur allein überließ, wenn es ihm möglich war.

Vor einer Wählerschaft, in der viele Gelegenheitsarbeiter und wenig gewerkschaftlich Organisierte vertreten waren, würden die Intellektuellen der Partei gern die Gelegenheit ergreifen, frei von der Leber weg zu reden. Da Gefühl tief im Kurs stand und Parteiergreifen eine bloße Herablassung bedeutete, so konnte man handfeste ökonomische Aussprachen erwarten, die so diskreditierte Faktoren wie die menschliche Natur außer Betracht ließen. Michael war daran gewöhnt, die Leute herabgesetzt zu sehen, die eine Änderung der Verhältnisse mißbilligten, weil die menschliche Natur beständig sei; und er war es gewöhnt, Leute verachtet zu sehen, die Mitleid fühlten; er wußte, daß man rein wirtschaftlich denken sollte. Aber auf jeden Fall war diese Art von Reden dem Kanzelpauken in den Parks vorzuziehen, die ein häßliches und verborgenes Klassengefühl in ihm selbst hervorriefen.

Die Versammlung war schon in vollem Gange, als er eintrat; der Kandidat war gerade dabei, die schwache Seite des Kapitalismus mitleidslos bloßzulegen, der nach seiner Meinung den Krieg verursacht hatte. Damit nicht ein neuer Krieg entstünde, müsse an seine Stelle ein System treten, das die Gewähr dafür bieten würde, daß kein Volk etwas übermäßig begehre. Das Individuum, sagte der Kandidat, sei in jeder Hinsicht der Nation überlegen, von der es ein Teil sei, und das Problem wäre nun, ökonomische Bedingungen zu sichern, die es dem Individuum ermöglichten, seine angeborene Überlegenheit frei zu entfalten. Nur auf diese Art, sagte er, würden die Massenbewegungen und Erregungen in der Welt aufhören, die deren Wohlfahrt immer wieder gefährdeten. Er sprach gut. Michael hörte zu und schnurrte beinahe laut wie eine Katze, bis er darauf kam, daß er an sich selbst, Wilfrid und Fleur dachte. Würde seine angeborene Überlegenheit sich so frei entfalten, daß er Fleur nicht übermäßig begehrte? Und wünschte er das überhaupt? Nein. Aber auf diese Art schien er die menschliche Natur in die Argumente des Redners einzubeziehen. Verlangte denn nicht jeder mehr, als ihm zukam? Und war das nicht natürlich? Und wenn dem so war, würde dann nicht immer ein gemeinsames übermäßiges Verlangen bestehen, gemeinsame ursprüngliche Wünsche, wie zum Beispiel der Wunsch, den eigenen Kopf über Wasser zu halten? Die Argumente des Kandidaten schienen plötzlich mit weniger Begeisterung vorgebracht zu werden und an Schärfe einzubüßen und es war, als hätte sich einer in einem Lehnstuhl nach einem armseligen Lunch selbst eine Rede gehalten. Er betrachtete aufmerksam das schlaue, trockene und argwöhnische Gesicht des Redners. ›Ohne Saft und Kraft!‹ dachte er. Und als ›der Kerl‹ sich niedersetzte, stand Michael auf und verließ den Saal.

Diese Geschichte mit Wilfrid hatte ihn entsetzlich hergenommen. So sehr er auch versuchte, es sich aus dem Kopf zu schlagen, so sehr er sich auch bemühte, lachend darüber hinwegzukommen, so untergrub es doch weiter sein Gefühl der Sicherheit und des Glücks. Seine Frau und sein bester Freund! Wohl hundertmal im Tag versicherte er sich selbst, daß er Fleur volles Vertrauen schenke; nur war Wilfrid um so vieles anziehender als er, und Fleur gebührte das Beste von allem. Dazu kam, daß Wilfrid die Hölle durchlebte, und das war kein angenehmer Gedanke! Wie der Sache ein Ende machen, ihm, ihr und sich selber den Seelenfrieden wiedergeben? Er hatte nichts weiter darüber gehört, und fragen war ganz einfach ausgeschlossen. Er durfte nicht einmal seine Unruhe verraten! Die ganze Sache lag eben im Dunkeln, und soweit er's überblicken konnte, würde es wohl dabei bleiben müssen. Da blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen, so lieb zu ihr zu sein, als er nur konnte, und sich über ihn nicht zu erbittern. Tod und Teufel!

Er ging den Themse-Kai in Chelsea hinunter, darüber wölbte sich ein dunkler, weiter Himmel, mit Sternen besät. Der Widerschein der Uferlampen glänzte wie ölige Strahlen auf dem breiten, dunklen Strom. Das Unbegrenzte von all dem wirkte erleichternd auf ihn. Zum Henker mit diesen schwarzen Gedanken! Was für ein wunderliches, lustiges, bittersüßes Durcheinander in dieser Welt! Ein unendlich faszinierendes Spiel des Zufalls, ganz gleich, wie die Karten im Augenblick fielen. Im Schützengraben hatte er gedacht: ›Wenn ich von hier herauskomme, dann kann mir nichts mehr geschehen.‹ Wie selten erinnerte er sich jetzt daran, was er damals gedacht hatte! Man sagte, daß sich der menschliche Körper alle sieben Jahre erneuere. Noch drei Jahre und sein Körper würde nicht mehr der Körper sein, der im Schützengraben gelegen, sondern ganz und gar ein Friedenskörper mit einem verblichenen Komplex. Wenn Fleur ihm nur offen sagen wollte, was sie fühlte und was sie mit Wilfrid vorhatte, denn irgend etwas mußte sie doch vorhaben! Und Wilfrids Gedichte! Würde seine verdammte Leidenschaft, wie Bart annahm, sich in Poesie ergießen? Und wer sollte dann die Verse drucken? Eine verfluchte Geschichte! Aber die Nacht war schön, und wichtig war, ein anständiger Kerl zu sein! Danach blieb nicht mehr viel übrig – nur das Lachen – die komische Seite des Lebens! Seinen Humor behalten, auf jeden Fall! Und während er unter den halbnackten Platanen, deren Äste wie Federn waren, im Dunkeln dahinschlenderte, bemühte er sich, den Humor in seiner Situation zu entdecken. Er konnte keinen finden. In der Liebe schien es absolut keinen Humor zu geben. Möglich, daß er eines Tages nicht mehr verliebt sein würde, aber gewiß erst dann, wenn Fleur ihn nicht mehr wie auf glühenden Kohlen hielte. Tat sie das mit Absicht? Bestimmt nicht! Fleur konnte ganz einfach nicht wie jene Frauen sein, die ihren Gatten hungern ließen und ihn nur fütterten, wenn sie Kleider, Pelze und Schmuck brauchten. Empörend!

Westminster kam in Sicht. Erst halb elf. Wenn er nun einen Wagen nähme und zu Wilfrid führe, um mit ihm zu einem Schluß zu kommen? Das wäre dasselbe, als wenn er die Zeiger einer Uhr rückwärts stellen wollte. Was hätte es für einen Sinn zu sagen: ›Du liebst Fleur – bitte, mach ein Ende!‹ Oder wenn Wilfrid dasselbe zu ihm sagte. ›Schließlich war ich doch der erste bei Fleur‹, dachte er. Das war vielleicht Zufall, aber doch Tatsache. Ah! Und lag nicht gerade darin die Gefahr? Er war ihr nichts Neues mehr! Und sie hatten beide unzählige Male übereingestimmt, daß das Neue das Salz des Lebens sei, die Essenz alles Interessanten und Dramatischen. Und dieses Neue war jetzt Wilfrid! Mein Gott, mein Gott! Daß er sie als Mann besaß, bedeutete noch lange nicht, daß er auch ihr Herz besäße! Er ging vom Themse-Ufer weg in der Richtung seines Hauses – ein schöner Teil von London, schöner Platz; alles war so schön, wenn nur diese verwünschte Sache nicht gewesen wäre. Etwas, das weich war wie ein großes Blatt, stieß zweimal an sein Ohr. Er wandte sich erstaunt um; es war niemand in der Nähe und auch kein Baum. In der Dunkelheit sah er ein rundes Ding sich drehen, er griff danach, und es wich aus. Was, ein Kinderballon? Er trug ihn zwischen beiden Händen unter eine Laterne – grün, kam ihm vor. Seltsam! Er blickte in die Höhe. Zwei Fenster waren erleuchtet, eines davon Fleurs. War das die Seifenblase seines eigenen Glücks, die da forttrieb? Krankhaft! Idiotisch! Ein Windstoß – das Spielzeug eines Kindes, weggerissen und hierher getrieben! Er hielt den Ballon vorsichtig fest. Er wollte ihn mit hineinnehmen und ihn ihr zeigen. Er schloß die Haustür auf. Die Halle war finster, Fleur war schon hinaufgegangen. Er stieg die Treppe empor, den Ballon an seinem Finger hin und her schwingend. Fleur stand vor einem Spiegel.

»Du liebe Zeit, was hast du da?« fragte sie.

Das Blut strömte rasch zu Michaels Herz zurück. Merkwürdig, wie er sich gefürchtet hatte, daß der Ballon etwas mit ihr zu tun haben könnte!

»Ich weiß es nicht, Liebstes; er fiel mir auf den Kopf, muß vom Himmel gekommen sein.« Und er ließ den Ballon auf der Hand tanzen.

Der Ballon flog in die Höhe, dann zu Boden, hüpfte zweimal, drehte sich und kam zur Ruhe.

»Du bist doch wirklich ein Baby, Michael! Wahrscheinlich hast du ihn gekauft.«

Michael kam nahe zu ihr heran und stand ganz ruhig.

»Wahrhaftig, es ist ein Unglück, verliebt zu sein!«

»Glaubst du wirklich?«

»Il y a toujours un qui baise, et l'autre qui ne tend pas la joue.«

»Aber ich tu es doch!«

»Fleur!«

Fleur lächelte. »Küß nur drauf los!«

Er umarmte sie und dachte: ›Sie hält mich fest; sie macht mit mir, was sie will; ich weiß nichts von ihr!‹

Man hörte ein leises Schnauben – es war Ting-a-ling, der den Ballon roch.


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