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Michael saß noch immer über den Fahnen von ›Falsches Spiel‹. Außer der ›Hölle‹ hatte er keine Adresse, wo er sie hätte hinschicken können. Der Orient war weit und Wilfrid hatte kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Dachte Fleur jetzt noch an Wilfrid? Er hatte den Eindruck, daß sie es nicht mehr tat. Und Wilfrid? Der würde sie wohl auch schon vergessen. Sogar die Leidenschaft forderte ein wenig Nahrung.
»Ein Mr. Forsyte wünscht Sie zu sprechen, Sir.«
Eine Erscheinung im Reiche der Bücher!
»Ah! Führen Sie ihn herein.«
Soames trat mit mißtrauischer Miene ein. »Das ist also dein Bureau?« sagte er. »Ich habe dich im Vorübergehen aufgesucht, um dir zu sagen, daß ich das Bild des jungen Greene gekauft habe. Könnt ihr es irgendwo aufhängen?«
»Das will ich meinen!« erwiderte Michael. »Es ist doch verteufelt gut, Sir, nicht wahr?«
»Na ja«, murmelte Soames, »für unsere Zeit freilich. Er wird sich noch einen Namen machen.«
»Er ist ein großer Bewunderer des weißen Affen, den Sie uns geschenkt haben.«
»Ah! Ich habe begonnen, mich in die chinesische Kunst zu vertiefen. Wenn ich fortfahre zu kaufen – –« Soames hielt inne.
»Sie wirkt tatsächlich wie ein Gegengift, nicht wahr, Sir? Dieses ›Irdische Paradies‹! Und die Gänse – es scheint ihnen gar nichts auszumachen, daß man ihre Federn zählt, nicht wahr?«
Soames gab keine Antwort; offenbar überlegte er: ›Wie in aller Welt haben mir diese Bilder nur entgehen können, als sie zuerst auf den Markt kamen‹! Dann fragte er, indem er den Regenschirm hob, als wolle er damit auf den Buchhandel deuten: »Wie bewährt sich der junge Butterfield?«
»Ja, das wollte ich Ihnen gerade sagen, Sir. Er kam gestern herauf und erzählte mir, daß er vor zwei Tagen Elderson gesehen habe. Er besuchte ihn, um ihm ein Exemplar der Luxusausgabe von dem Buche meines Vaters zu verkaufen. Elderson sagte nichts und kaufte zwei.«
»Teufel noch einmal!«
»Butterfield hatte den Eindruck, daß sein Besuch ihm Angst eingejagt habe. Elderson weiß natürlich, daß ich in dieser Firma und Ihr Schwiegersohn bin.«
Soames runzelte die Stirn. »Ich bin nicht so sicher«, sagte er, »ob diese Dinge aufzurühren – –! Na, auf jeden Fall gehe ich jetzt hin.«
»Erwähnen Sie das Buch, Sir, und beobachten Sie, wie Elderson es aufnimmt. Möchten Sie nicht selber eines? Sie stehen auf der Liste. E, F – Butterfield wird wahrscheinlich heute noch zu Ihnen kommen. Das erspart Ihnen eine Absage. Hier ist es – hübsch ausgestattet. Ein Pfund und einen Shilling.«
»Duett!« las Soames. »Wovon handelt es denn? Musik?«
»Das nicht gerade. So eine kleine Rauferei zwischen den Geistern Gladstones und Disraelis.«
»Ich bin kein Bücherwurm«, sagte Soames. Er zog eine Banknote hervor.
»Warum kostet es nicht ein Pfund? Hier ist der Shilling.«
»Besten Dank, Sir. Ich bin überzeugt, mein Vater wird sich furchtbar geschmeichelt fühlen, daß Sie ein Exemplar gekauft haben.«
»So!« sagte Soames mit schwachem Lächeln. »Kommt es auch vor, daß du hier etwas arbeitest?«
»Na ja, wir versuchen einen zweifelhaften Gewinn herauszuschlagen.«
»Wieviel Gehalt hast du denn?«
»Ungefähr fünfhundert im Jahr.«
»Das ist alles?«
»Ja, aber ich glaube, daß ich nicht mehr wert bin als drei.«
»Hm! Ich hatte geglaubt, daß du deinen Sozialismus schon überwunden hättest!«
»Ich glaube schon, Sir. Er hat sich nicht recht mit meiner Stellung vertragen.«
»Das meine ich auch«, sagte Soames. »Fleur scheint sich wohlzufühlen.«
»Ja, es geht ihr glänzend. Sie schwört auf Coué, wissen Sie?«
Soames machte große Augen. »Das hat sie wahrscheinlich von ihrer Mutter«, sagte er, »aber ich weiß es nicht bestimmt. Auf Wiedersehn!« Er wandte sich um. Sein Rücken war so akkurat und vertrauenerweckend! Er verschwand durch die Tür, und mit ihm schien der Sinn für Exaktheit zu verschwinden.
Michael nahm die Korrekturbogen wieder auf und las zwei Gedichte. So bitter wie Chinin! Diese Unruhe darin – diese Sehnsucht zwischen den Zeilen! Da war nichts Chinesisches! Schließlich hatte doch die frühere Generation wie der alte Forsyte und, in andrer Art wieder, sein Vater, festen Boden unter den Füßen. ›Was ist denn schuld?‹ dachte Michael. ›Was machen wir denn verkehrt? Wir sind doch rasch von Begriff und geschickt, selbstsicher und unzufrieden. Wenn uns nur irgend etwas begeisterte oder in Harnisch brächte! Wir haben die Religion über Bord geworfen, Tradition, Eigentum, Mitleid. Und was ist uns statt dessen geblieben? Schönheit? Quatsch! Man braucht nur an Walter Nazing und das Café C'rillon zu denken! Und doch – irgendein Ideal müssen wir doch haben! Eine bessere Welt? Schaut nicht danach aus. Leben im Jenseits? Sollte ich nun einmal mich in den Spiritismus vertiefen, wie der alte Forsyte sich ausdrücken würde? Aber halb in dieser Welt und halb in jener – verdammt komisch, wenn die Geister noch ruheloser wären als wir!‹
Wohin – wohin führte dann das ganze Leben?
›Zum Kuckuck!‹ dachte Michael und stand auf. ›Ich werde versuchen, einen Waschzettel zu diktieren!‹
»Miss Perren, wollen Sie bitte hereinkommen. Über den neuen Band von Desert – für die Fachzeitungen: ›Danby & Winter werden in nächster Zeit veröffentlichen: Falsches Spiel von dem Autor der Kleine Münze, dem hervorragendsten Erfolg der letzten Saison.‹ Ich möchte wissen, Miss Perren, wie viele Verleger vergangenes Jahr diesen Anspruch erhoben haben und für wie viele Bücher? ›Diese Gedichte zeigen den jungen Autor in einem ebenso brillanten Geist und einer noch größeren technischen Vollkommenheit als in seinem ersten Band.‹ Wie finden Sie das?«
»Brillanter Geist, Mr. Mont? Glauben Sie wirklich?«
»Nein. Aber was soll ich sonst sagen? Pein und Pessimismus?«
»Nein, gewiß nicht! Aber vielleicht: ›Die ganze brillante Ausdrucksweise, die Originalität und Vielfältigkeit der Stimmung.‹«
»Bravo! Aber das wird mehr kosten. Sagen Sie: ›Die ganze brillante Originalität‹, damit werden wir den Nagel auf den Kopf treffen. Wir sind so versessen auf Originalität, aber wir finden keine – das Outrierte, jawohl, aber keine Originalität.«
»Aber Mr. Desert hat doch ganz bestimmt – –«
»Ja, manchmal, aber sonst kaum einer. Um originell zu sein, muß man ein ganzer Kerl sein.«
»Gewiß, Mr. Mont. Der junge Bicket wartet unten, er will Sie sprechen.«
»Aha!« sagte Michael und nahm eine Zigarette. »Lassen Sie mir Zeit, mich fester zu umgürten, Miss Perren, und führen Sie ihn dann herauf.«
›Na, der Zweck heiligt die Mittel‹, dachte er. ‹Nun gibt's kein Zurück!‹
Bicket trat mit einer gewissen Gefaßtheit in das Zimmer, wo er das letzte Mal unter so peinlichen Verhältnissen geweilt hatte. Michael stand rauchend mit dem Rücken zum Kamin, Bicket vor einem Stapel moderner Romane mit der Aufschrift ›Dieser große neue Roman‹. Michael nickte.
»Hallo, Bicket!«
Bicket nickte. »Hoffentlich geht es Ihnen gut, Sir?«
»Danke, ausgezeichnet!« Dann herrschte Schweigen.
»Nun«, sagte Michael schließlich, »Sie kommen wahrscheinlich wegen des kleinen Vorschusses an Ihre Frau. Das ist vollkommen in Ordnung; die Sache eilt gar nicht.«
Während er das sagte, wurde er gewahr, daß der arme Teufel ganz verstört war. Seine Augen blickten so sonderbar, jene großen Krebsaugen, die wie gestielt zu sein schienen. Er fuhr hastig fort: »Ich bin überzeugt davon, daß Australien das beste ist. Sie haben vollkommen recht, Bicket, und je früher Sie hinübergehen, desto besser. Ihre Frau sieht nicht sehr kräftig aus.«
Bicket schluckte. »Sir«, sagte er, »Sie waren immer ein Gentleman mir gegenüber und es fällt mir schwer, die Sache zur Sprache zu bringen.«
»Dann lassen Sie's doch.«
Bicket stieg das Blut in die Wangen – merkwürdig in diesem blassen, abgehärmten Gesicht. »Es ist etwas anderes«, erklärte er. »Ich muß Sie bitten, mir die Wahrheit zu sagen.« Plötzlich zog er aus seiner Tasche ein zerknittertes Papier, in dem Michael einen Buchumschlag erkannte. »Das da hab ich im Vorbeigehn von einem Buch unten auf dem Ladentisch abgenommen. Da! Ist das meine Frau?« Er hielt es hin.
Michael erblickte bestürzt den Umschlag von Storberts Roman. Man konnte die heilige Notlüge gebrauchen, zu der man sich schon entschlossen hatte, aber es war doch etwas ganz anderes, das da abzuleugnen.
Bicket ließ ihm wenig Zeit.
»Aus Ihrem Gesicht seh ich schon, daß es wahr ist. Was soll das heißen? Ich will die Wahrheit wissen – ich muß sie wissen! Ich werd noch närrisch über das alles. Wenn das ihr Gesicht ist, dann ist sie auch das Frauenzimmer in der Galerie – Aubrey Greene; genau derselbe Name. Was soll das heißen?« Sein Gesicht war fast beängstigend, sein Ton ordinär geworden. »Was hat sie da nur getrieben? Ich weich nicht früher von der Stelle, bevor Sie mir nicht reinen Wein eingeschenkt haben.«
Michael klappte die Hacken zusammen und sagte ruhig: »Sachte, Bicket.«
»Sachte! Sie würden sachte vorgehn, wenn Ihre Frau –! So viel Geld! Sie haben es ihr nicht vorgeschossen, niemals haben Sie es ihr gegeben! Erzählen Sie mir nichts!«
Michael hatte sich schon entschlossen. Keine Lügen!
»Ich habe ihr zehn Pfund geliehen, um die Summe abzurunden – das ist alles, das übrige hat sie verdient – ehrlich; und Sie sollten stolz auf sie sein.«
Bicket riß den Mund auf. »Stolz? Und wie hat sie es verdient? Stolz? Herrgott noch einmal!«
Michael sagte kalt: »Als Modell. Ich selber hab ihr eine Einführung an meinen Freund Mr. Greene gegeben, an demselben Tag, an dem Sie mit mir zum Lunch gingen. Sie haben wahrscheinlich schon von Modellen gehört?«
Bicket zerriß den Umschlag und ließ die Fetzen zu Boden fallen. »Modelle!« sagte er. »Maler – jawohl, ich hab davon gehört – Schweine!«
»Nicht mehr Schwein als Sie, Bicket. Ich muß Sie bitten, meinen Freund nicht zu beleidigen. Nehmen Sie sich zusammen, Mensch, da, rauchen Sie eine Zigarette!«
Bicket stieß das angebotene Etui zur Seite.
»Ich – ich – häng so an ihr«, sagte er leidenschaftlich, »und jetzt hat sie mir das angetan.« Etwas wie ein Schluchzen kam aus seiner Brust.
»So, Sie hängen so an ihr«, entgegnete Michael; seine Stimme klang wie ein Peitschenhieb. »Und dafür, daß sie sich für Sie aufgeopfert hat, lassen Sie sie jetzt im Stich – ist das in Ordnung? Glauben Sie vielleicht, daß es ihr Spaß gemacht hat?«
Bicket bedeckte plötzlich sein Gesicht. »Wie soll ich das wissen?« murmelte er hinter seinen Händen hervor.
Eine Welle von Mitleid durchflutete Michael. Mitleid! Sentimentalität! Er sagte trocken: »Wenn Sie damit fertig sind, Bicket, möchten Sie sich nicht ein wenig erinnern, was Sie für Ihre Frau getan haben?«
Bicket nahm die Hände vom Gesicht und starrte wild drein. »Sie haben ihr doch das nicht erzählt?«
»Nein, aber ich tu's ganz bestimmt, wenn Sie sich nicht zusammennehmen.«
»Was liegt mir jetzt daran – wo sie so daliegt und alle Männer in der Welt sie angaffen können! Sechzig Pfund! Ehrlich! Und Sie bilden sich ein, daß ich das glaub?« Seine Stimme klang verzweifelt.
»So!« sagte Michael. »Sie glauben es nicht, weil Sie ganz einfach ein Dummkopf sind, so borniert wie so ein Schwein, von dem Sie gesprochen haben. Eine junge Frau kann Modell stehen und dabei vollkommen rechtschaffen bleiben, wie ich auch überzeugt bin, daß sie es ist. Sie brauchen sie ja nur anzuschaun und zu hören, wie sie davon spricht. Sie hat es getan, weil sie es nicht ertragen hat, Sie diese Ballons verkaufen zu sehen. Sie hat es getan, damit Sie aus der Gosse herauskommen und Sie beide eine neue Chance haben. Und jetzt haben Sie die Chance und führen sich so auf. Zum Teufel, Bicket, nehmen Sie sich doch zusammen! Glauben Sie, wenn ich ihr sage, was Sie getan haben, daß sie darüber weinen und jammern wird? Keine Spur! Es war verdammt menschlich von Ihnen und es war verdammt menschlich von ihr; das vergessen Sie ja nicht!«
Bicket schluckte wieder heftig. »Sie haben gut reden«, sagte er verdrossen, »wo es Ihnen nicht passiert ist.«
Diese Worte betrübten Michael. Nein! Es war nicht ihm passiert! Und alle seine Zweifel an Fleur aus der Zeit Wilfrids peinigten ihn aufs neue.
»Hören Sie, Bicket«, sagte er, »zweifeln Sie an der Liebe Ihrer Frau? Darauf kommt es nämlich an. Ich habe sie nur zweimal gesehn, aber meiner Meinung nach ist das nicht möglich. Wenn Ihre Frau Sie nicht gern hätte, warum sollte sie dann nach Australien gehen wollen, wo sie doch hier so leicht Geld verdienen könnte und sich unterhalten, so viel sie will? Für meinen Freund Greene steh ich ein. Er ist verflucht anständig und ich weiß, daß er sich wie ein Gentleman benommen hat.«
Aber während er mit dem Blick Bickets Gesicht durchforschte, fragte er sich doch, ob auch alle die andern wirklich so verflucht anständig gewesen wären.
»Hören Sie doch, Bicket! Wir alle müssen mit gewissen Dingen fertig werden und dabei zeigt sich erst, was wir sind. Sie müssen ihr ganz einfach glauben, anders geht's nicht!«
»Sich so für alle Welt zum Angaffen hinzulegen!« Die Worte schienen nur mühsam aus seiner dürren Kehle zu kommen. »Gestern hat so ein gottverfluchter City-Magnat das Bild gekauft, ich war dabei.«
Michael konnte bei dieser Bezeichnung des alten Forsyte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Tatsache ist«, sagte er, »daß mein eigener Schwiegervater es als Geschenk für uns gekauft hat, es wird in unserm Hause hängen. Und daß Sie's nur wissen, Bicket, es ist ein starkes Stück.«
»Jawohl!« schrie Bicket, »es ist wirklich ein starkes Stück! Geld! Mit Geld hat man sie gekauft Das Geld kauft alles. Damit kauft man uns das Herz aus dem Leibe.«
Und Michael dachte: ›Ich komme nicht um einen Schritt weiter! Was hilft da die ganze Emanzipation? Der hat nie was von den Alten gehört! Und wenn schon, dann würde er sich darunter einen Haufen liederlicher Ausländer vorstellen. Ich muß das Feld räumen.‹ Und plötzlich sah er Tränen aus den Krebsaugen quellen und über die abgezehrten Wangen rollen.
Hastig und sehr beunruhigt sagte er: »Wenn Sie erst einmal dort draußen sind, werden Sie überhaupt nicht mehr dran denken. Zum Kuckuck, Bicket, seien Sie doch ein Mann! Sie hat es gut gemeint. Wenn ich Sie wäre, Bicket, würd ich mir nie etwas merken lassen, daß ich es wüßte. Das würde sie bestimmt tun, wenn ich ihr erzählte, wie Sie die Bücher stibitzt haben.«
Bicket ballte die Fäuste – das sah seltsam aus bei seinem tränenüberströmten Gesicht. Dann drehte er sich um, ohne ein weiteres Wort, und schlurfte hinaus.
›Na‹, dachte Michael, ›Ratschläge geben ist ganz bestimmt nicht meine starke Seite. Armer Teufel!‹