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Siebentes Kapitel.


Ein Tag verfloß nach dem andern und endlich vergoß Agnes die ersten Thränen, aber dann auch stromweis, daß ihre Augen ganz schwach und verschleiert wurden. Wilhelm wohnte seit dem Begräbnißtage wieder auf der Pusta, kam aber täglich herüber geritten, um nach Agnes zu sehen, deren Zustand ihn beängstigte. Solchen tiefen verwüstenden Schmerz hatte er bisher nicht für möglich gehalten, da ihm all solcher Jammer immer nur von Verzweiflung und Wehklagen begleitet entgegen getreten war.

Verzweifelt war Agnes nicht. Sie hoffte fest, bald zu sterben, um jenseits zu sein, und an einer Wiedervereinigung mit ihrem Vater zweifelte sie keinen Augenblick. Dieser feste Glaube, ein Erbtheil der tiefen Religiosität ihres Vaters, erhielt die Kraft ihres Geistes, der außerdem bei seiner furchtbar lebhaften Bewegtheit einer Störung nicht entgangen wäre. Die Menschen bedauern gewöhnlich mehr ein Mädchen, die einen Liebhaber, einen Gatten, der ein theures, ihm kürzlich angetrautes Weib verliert, als eine Mutter, die ihr Kind, ein Kind, das seine Mutter oder seinen Vater verliert; und doch ist jede Liebe, die zur Hälfte Leidenschaft ist, nicht so seelendurchdringend und herzerfüllend. Die Leidenschaft verbleicht, aber die Liebe bleibt, und eine große Liebe ohne Leidenschaft ist immer nach Verlauf von Jahren noch unendlich viel größer, als die größte leidenschaftliche Liebe.

Agnes hatte seit ihrem Verluste Niemand gesehen als Wilhelm und Elisabeth. Mit Ersterem aber sprach sie mehr und offener, als mit der Freundin. Obgleich Beide natürlich ihren Schmerz vollkommen begriffen, so begriff doch eigentlich Keines von Beiden seine Wirkung in ihrer Seele; Wilhelms Umgang aber sagte ihr mehr zu, weil er sie weniger störte. Elisabeth war eine durchaus kräftige, gesunde Natur, Hingeben, Versinken, Schwärmen im Schmerz wie in der Freude war ihrer frischen Innerlichkeit etwas durchaus Unverständliches – und da sie Agnes wie sich selber liebte, meinte sie fortwährend, sie erheben und herausreißen zu müssen, wie sie es selbst gethan haben würde und auch öfter gethan hatte. Sie redete ihr nicht zu, aber sie wollte sie zerstreuen, Agnes sollte mit ihr spazieren gehen, nachdem erst einige Tage verflossen, sollte sie Herr ihres Schmerzes werden. Da Agnes nun auf Erden nichts mehr liebte als ihren Schmerz, so verletzte sie dies Streben fortwährend. Wilhelm hingegen ließ die Verwaiste vollkommen gewähren. Wie er sich selbst und jeder seiner Regungen nachgab, dieselbe Freiheit gestattete er auch seinen Kranken, und das war Agnes im ganzen Sinne des Wortes. Sie genoß beinahe nichts, kein Schlaf kam in ihre Augen und sie wurde so bleich und mager, daß sie mit dem Schmerzenszug um die Augen in wenig Tagen um Jahre gealtert erschien.

Mit Wilhelm sprach sie fortwährend von ihrem Vater; er hörte ihr aufmerksam zu, wie er überhaupt zu den Menschen gehörte, die lieber hören als selbst sprechen. Jeden Nachmittag kam er und dann saß er bis zur Dämmerung bei ihr und ließ sich erzählen, und war immer derselbe milde, freundliche und theilnehmende Zuhörer. Kein Zug der Ungeduld, kein Wort des Tadels war bei ihm zu gewahren. Agnes bewunderte seine Geduld, wenn er fort war, ohne zu bedenken, daß es die Geduld eines Arztes bei einer bemitleidenswerthen Kranken war.

 

So waren vier Wochen verflossen, als Wilhelm eines Tages bei Agnes ungewöhnlich spät erschien. Aufgeregt kam sie ihm entgegen und fragte hastig: »Warum haben Sie so lange auf sich warten lassen?«

»Ach, mein gnädiges Fräulein, das ist mir sehr leid – aber – ich habe einen Brief erhalten, der mich augenblicklich nach Pesth ruft.«

»Sie gehen?« fragte Agnes und war so erschrocken, daß sie sich selbst nicht begriff. Ueber all ihrem Schmerz hatte sie gar nicht bemerkt, wie sehr ihr krankes Herz sich an Wilhelm angeschlossen.

»Ich muß wohl. Ehe ich hieher ging, bewarb ich mich in Pesth um eine Stelle bei dem dortigen Hospital. Ich dachte nicht entfernt daran, daß man sie mir geben werde, weiß Gott, wie es geschehen – jetzt schreiben sie mir, ich solle augenblicklich eintreten.«

Agnes sagte nichts, sie trat ans Fenster, aber Wilhelm, der hinter ihr stand, sah bald am convulsivischen Zittern ihres ganzen Körpers, daß sie heftig weinte.

Er erschrak nicht – auch kam kein Zug des Mitleids auf sein Antlitz, nein, im Gegentheile, seine Augen leuchteten stolz und freudig – gerührt war er nicht im Mindesten.

Nach einer langen Pause, in der sich nichts änderte, sagte er endlich: »Wenn Sie mich vermissen sollten« –

Agnes wandte sich rasch zu ihm, ihre Augen leuchteten, sie weinte nicht mehr, aber ihr Antlitz war noch in Thränen gebadet und ihre Stimme zitterte noch im Nachklange der heftigen Empfindung.

»Sie vermissen? Sie reden zum ersten Male wie ein gewöhnlicher, ein Alltagsmensch. Sie sind mein einziger Trost gewesen – aber ich habe das bis jetzt selbst nicht überlegt! Doch – auch das muß noch geschehen! Leben Sie also wohl und sein Sie glücklich!« Dann aber fügte sie mit von Neuem ausbrechenden Thränen hinzu, indem sie ihm die Hand entgegen streckte: »Gott lohne Ihnen, was Sie für ihn und mich gethan! Gott lohne Ihnen!«

Wilhelm hielt ihre Hand fest. Sein Gesicht wurde so bleich, daß Agnes es durch ihre strömenden Thränen gewahrte und erschrocken den Athem anhielt.

»Agnes« – und Wilhelms sonst so stolze Lippen zitterten, und seine Augen bohrten sich beinahe drohend in die ihren, als er fortfuhr: »Agnes – lassen Sie mir Ihre Hand, wenn ich Ihr einziger Trost bin! Geben Sie mir Ihre Hand – folgen Sie mir nach Pesth!«

Agnes schlug die Augen nieder, aber sie entzog ihm ihre Hand nicht. – Wie er so die bleiche, gebeugte Gestalt in Trauerkleidern ansah, kam ihm sein Werben um das kranke Herz selbst frevelhaft vor – aber er kehrte nicht um.

Mehrere Secunden verflossen so, dann sagte Agnes: »Setzen wir uns.« Und als sie Beide Platz genommen, legte sie sich weit zurück und sprach leise, aber deutlich: »Sie hätten noch ein wenig warten sollen, Rose – Sie hätten nur dabei gewonnen!«

»Also – Sie wollen nicht?«

Agnes sah ihn mit einem wehmüthigen Lächeln an.

»Das ist wieder so eine Frage wie vorhin, als Sie fragten, ob ich Sie vermissen werde! Sie sind mir der liebste Mensch auf Erden, ja noch mehr, Sie sind der einzige Mensch, den ich liebe, so wie Sie der Einzige sind, der mich liebt!«

Wilhelm unterbrach sie nicht, in lautloser Spannung hing sein Auge an ihren Lippen.

»Wenn ich nach Verfluß der Trauerzeit noch lebe, will ich gern die Ihre sein, aber« –

»Agnes, liebe Agnes, kürzen Sie diese Trauerzeit ab – um meinet – um Ihretwillen, da Sie ganz verlassen und schutzlos sind.«

»Das bin ich nicht. Elisabeth ist bei mir und Elisabeth ist wie ein Mann, und jetzt, wenn sie so etwas von mir hört, werden wir auch besser mit einander auskommen! Sie wird zufrieden mit mir sein.«

Das war eine sonderbare Verlobung, Keines von Beiden hatte heute Morgen noch daran gedacht.

Wilhelm war seit der Krankheit des Herrn von Stein entschlossen, um dessen Tochter zu werben, denn sie besaß die Eigenschaften, auf welche er seit Ludmillens Täuschung allein noch Werth legte bei einer Frau – doch nicht so schnell hatte er gehofft, zum Ziele zu gelangen, und erst Agnes' Trauer bei der Kunde seines Weggangs hatte in ihm den Gedanken geweckt, vor seiner Abreise ihr Jawort zu gewinnen. Er liebte Agnes, aber so wie ein Mann seines Characters ein Mädchen liebt, nachdem ein anderes seine ersten und darum besten Empfindungen verhöhnt und verrathen. Er liebte Ludmillen nicht mehr, aber er hatte sie doch auch nicht vergessen.

Agnes hingegen dachte eben nur an ihn. Es kam ihr vor, als segne ihr Vater diesen Bund. Die Erinnerung an Albert war durch den Glauben an sein leichtsinniges Spiel in ihr zurückgedrängt, sie war verbleicht. Vor einer Stunde hatte sie freilich geglaubt, sie liebe auf Erden nur noch diejenigen, welche in der Erde ruhten, aber auch sie war an ihrem Erschrecken bei Wilhelms Abschiedsworten gewahr geworden, was er ihr war. Ihr Herz gehörte ihm, aber freilich war es krank, und wer kann auf die Stimme eines kummerkranken Herzens hören! Doch – nicht unheilbar war es krank, das fühlte sie schon jetzt, denn sie konnte noch lieben.



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