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Sechstes Kapitel.


Einige Tage später kam ein erhitzter Bote auf wildem Rosse auf der Pusta angesprengt. Es war Mischka. Er hielt ein Blättchen mit der Aufschrift: »An Herrn Doctor Rose« in der Hand. Es war von Elisabeth geschrieben und enthielt nur in wenigen Worten die Bitte an den jungen Arzt, doch sogleich herüber zu kommen, da Herr von Stein gefährlich erkrankt, allem Anscheine nach an einem Schlaganfall.

Wilhelm nahm sein kleines Medicamentenkästchen, mit dem er sich auf des jungen Horvath Rath in Pesth versorgt, und nachdem er es auf Mischka's Sattel befestigt, sprengte er auf einem Pferde seines Freundes selbst mit ihm nach dem Castell – noch keine Viertelstunde war seit der Ankunft des Boten verflossen.

Eine ungewöhnliche Theilnahme beseelte den jungen, sonst so kalten Arzt, er wünschte sich ein Magier zu sein und retten zu können um jeden Preis. Herrn von Steins milder, harmonischer Character hatte ihm trotz der kurzen Bekanntschaft eine große Verehrung eingeflößt, und dann Agnes – was sollte aus ihr werden? Ganz allein, ganz verlassen im wildfremden Lande!

Als er ankam, hatte Herr von Stein die Besinnung wohl wiedergefunden, aber die Sprache noch nicht, überdem war die rechte Seite ganz gelähmt. Die Seele Wilhelms erfaßte eine tiefe Trauer, denn er erkannte den Zustand des Kranken für hoffnungslos. Noch eine Wiederholung des Anfalls und Herr v. Stein war nicht mehr – daß diese Wiederholung nicht lange ausbleiben werde, mußte er nur zu sehr fürchten. Er ging nicht nach der Pusta zurück, Tag und Nacht brachte er mit Agnes am Bette des Kranken zu, während Elisabeth ab- und zuging und Erfrischungen und Mittel draußen bereitete.

Herr von Stein schlief wenig, sein Auge wich nicht von der Tochter, die gewöhnlich auf einem Tabouret vor dem Bette kniete, und das Gesicht auf die gesunde Hand des Vaters gelegt, Stunde um Stunde lautlos dahin rinnen ließ, während ihr Herz vor wilder Angst zu brechen drohte.

Wenn von einem Troste in dieser Lage die Rede sein konnte, so war Wilhelm wirklich ihr einziger Trost.

Seine klare Ruhe, seine sichere, männliche Haltung und vor Allem seine treue Ausdauer an ihrer Seite war Alles, was ihr der Himmel bei solchem Leid gewähren konnte. Gleich am ersten Tage hatte sie ihn gefragt: »Kann mein Vater hergestellt werden?« Worauf er den Kopf geschüttelt und gesagt: »Hergestellt nicht!«

»Aber doch noch eine Weile – ein paar Jahre – ein paar Monate – ein paar Wochen leben?« fragte sie nun mit einer Stimme, der man die steigende Angst anhörte.

»Ein paar Wochen sicher – ein paar Monate wahrscheinlich – ein paar Jahre – vielleicht; ich bin nur ein Mensch, und Gott wird, wenn auch kein Wunder, doch eine wunderbare Kur vielleicht begünstigen!«

Das war genug, um das arme Mädchen beinahe zu vernichten. Und doch, so unermeßlich groß ihre Sorge und Angst um den Vater war, seine Sorge um sie war dennoch größer! Wie oft sah Wilhelm des Kranken angstvolle Blicke verzweifelnd auf das Kind gerichtet, das er allein und schutzlos im fremden Land zurücklassen sollte; wie oft begegneten sich dann die Augen der beiden Männer, und Wilhelm verstand nur zu gut die beredten Blicke des Vaters, die ihn aufriefen zum Schutze seines Kleinodes, wenn er nicht mehr sein werde, und Wilhelm legte dann wohl ernst betheuernd die Hand auf die Brust als Gelöbniß, daß er dem Fräulein der treueste Freund sein werde nach seinen Kräften.

So selbstlos haben wohl selten zwei Menschen neben einander um einander gelitten, wie Agnes und ihr Vater! Was war ihm der Tod ohne sie? Was ihr das Leben ohne ihn?

Es giebt kein nagenderes, die Gesundheit zerstörenderes Unglück als die Sorge am Bette eines geliebten Kranken. Es ist ein Elend, das Körper und Geist zugleich zerstört. Bald trat deshalb auch bei Wilhelm Unruhe um Agnes ein; nachdem acht Tage in hoffnungsloser Pein verflossen, sah sie beinahe eben so blaß und mager wie ihr Vater aus. Wilhelm drang mit Bitten in sie, sich zuweilen einige Stunden Nachtruhe zu gönnen. Er sagte das absichtlich bei ihrem Vater, weil er wußte, daß dieser ihn unterstützen werde. Und so geschah es auch; Herr von Stein erhob die gesunde Hand vor Agnes und beschwor sie mit rührenden Blicken, Wilhelm nachzugeben und die Nächte abwechselnd mit ihm zu wachen. Diesem Flehen mußte Agnes nachgeben und sich ins Nebenzimmer zurückziehn, aber sie that es mit dem festen Vorsatz, an der Thüre lauschend zu verweilen und nicht zu schlafen. Was ist aber ein solcher Vorsatz bei einem jungen Mädchen, in dessen Augen seit einer Woche kein anderer Schlaf als der eines unwillkührlichen minutenlangen Einnickens kam. Als sie sich einen Fauteuil in die Nähe der Thüre gerückt und ihre müden Glieder darin ruhen ließ, kam ungefragt der Schlummer über sie. Aber sogleich begann sie zu träumen.

Sie stand auf einem großen, unübersehbaren Felde, ein Fruchtfeld, wie sie es nur in Ungarn gesehen; das Korn umwogte sie bis über die Schultern, sie stellte sich auf die Fußspitzen, um mit den Augen irgend einen Gegenstand zu erfassen, aber so weit sie blicken konnte, sah sie nichts als volle, nickende Aehren und ermüdet, immer denselben Gegenstand zu sehen, schloß sie die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, war die Scene um sie verändert, die vollen Aehren verschwunden, das Korn niedergetreten – ein wüstes und verwüstetes Feld – nur hier und da ragte ein Kreuz hervor, ein schwarzes Kreuz mit weißer Inschrift. – Agnes sandte die Blicke weit aus, und überall war es wüst und überall ragten Kreuze empor, und Thränen entstürzten ihren Augen und sie rief jammernd: »Das ganze schöne Land ein Kirchhof!«

Und sie beugte sich nieder, um den Namen auf dem zunächststehenden Kreuze zu lesen. Mit groben Pinselstrichen war das ungarische Wappen, drei Ströme, drei Berge, daneben ein anderes Adelswappen abgebildet, darunter stand: »Für's Vaterland, Elisabeth!«

Agnes ging weiter. Vom nächsten Kreuze glänzte ein Doppeladler, in seinem Schnabel hielt er einen Zettel mit den Worten: »Für mich, Albert!«

Auch auf diesem Kreuze war noch ein anderes Wappen, das des Todten, aber nicht wie bei dem ersten neben dem Landeswappen, sondern tief darunter.

Agnes ging weiter nach einem andern Kreuze – hier war nur ein Wappen und zwar das ihrige – das Wappen, das nur ihr Vater und sie noch führten, denn sie war die Letzte ihres Stammes.

Als sie erwachte, stand der ganze Traum ihr noch hell vor den Sinnen und sie sah darin nur eine Bestätigung des bevorstehenden Todes ihres Vaters.

Als sie wieder ins Krankenzimmer trat, sie mochte ungefähr zwei Stunden geschlafen haben, stand Wilhelm, über ihren Vater gebeugt, an dessen Lager. Der junge Arzt konnte ihren leichten Schritt auf dem Teppich nicht vernehmen, und so beobachtete sie die Gruppe eine Weile. Das Gesicht ihres Vaters konnte sie nicht sehen, weil Wilhelms Kopf es ihr verbarg. Wilhelm hatte seine Augen noch weiter offen als gewöhnlich, die Blicke, die er auf des Kranken Antlitz richtete, waren so intensiv aufmerksam und beobachtend, als wolle er im Hirne seines Patienten lesen. Um seinen kleinen, wie immer fest geschlossenen Mund lag ein Zug unaussprechlicher Traurigkeit, aber jener Traurigkeit, die jeden Trost verschmäht, weil sie zu unverstanden sich wähnt, jene Traurigkeit, die der Stolz gebiert und die nachher wieder des Stolzes festeste Stütze wird. So wie jetzt war seine Seele noch nie in Gegenwart von Agnes auf sein Antlitz getreten.

Die Krankheit ihres Vaters würde zwischen ihr und dem jungen Arzte ein Bündniß der vertraulichsten Freundschaft geschlossen haben, wenn Vertraulichkeit, oder was man gewöhnlich Gemüthlichkeit nennt, überhaupt im Wesen Wilhelms gelegen hätte. Das Merkwürdige bei ihm war, daß er sich nie einen Zwang auferlegte aus Rücksicht für Andere, aber Keinem vergönnte, in seine eigene Freiheit einzugreifen. In seinem Urtheil über Menschen sprach er sich ganz offen über Jeden und bei Jedem aus, ebenso über Regierungen, öffentliche Charactere und politische Tendenzen; war aber die Rede von Religiosität, von Liebe, von Freundschaft, kurz von allem Jenem, was unbedingt außerhalb der Region des Verstandes liegt, so schwieg er ganz still und beobachtete nur, wie die Andern sich dabei vernehmen ließen. Agnes traute ihm aber tiefes Gefühl zu, weil sie bei ihm, dem sonst so spöttischen und höhnischen Manne, bei solchen Unterhaltungen nie einen Zug dieser Art in seinem Gesichte entdeckte. Viel hatten sie natürlich in dem Krankenzimmer nicht gesprochen, aber doch zuweilen, als die ersten bangen Tage in des Kranken Zustand keine Aenderung hervorgebracht, hatten Agnes, Elisabeth und Wilhelm sich auf seinen angedeuteten Wunsch um sein Bett gesetzt, und da war manchmal trotz der gedrückten Stimmung eine ziemlich lebhafte Unterhaltung zu Stande gekommen. Wilhelms Urtheil imponirte Agnes in einem Grade, wie bisher Niemandes; die gemeinschaftlichen Dienste am Krankenbette, die Dankbarkeit für sein ununterbrochenes Bleiben und vor Allem seine ärztliche Bedeutung beugten Agnes' sonst so sprödes Gemüth in tiefer Demuth und kindlichem Vertrauen vor ihm. Sie empfand eine gewisse Scheu vor ihm, aber vielleicht auch desto mehr Ehrerbietung, sein junger Mund wurde für sie in diesen traurigen Tagen ein priesterliches Orakel. Der Arzt, der mit uns einen geliebten Kranken pflegt, ist ja immer der Prophet unseres höchsten Schicksals.

Am sechzehnten Tage – es war ein sonnenheller Morgen, Wilhelm hatte das Fenster geöffnet, weil der Kranke es wünschte, die schöne unvergleichliche Herbstluft des ungarischen Landes wehte wie Wohlgeruch in das Zimmer – Agnes verließ es auf einen Augenblick, um sich umzukleiden, Wilhelm und Elisabeth waren bei dem Kranken – da wiederholte sich der Schlaganfall!

Als Agnes kam, vernahm sie nur noch des Vaters letzte Athemzüge, dazu zwitscherten die Vögel und ferne, ganz ferne vernahm man die Töne des »Debreczin Magyar,« von einer Zigeunerbande in der letzten Schenke des Dorfes gespielt.

Als Wilhelm leise sagte: »Er hat vollendet,« ertönte kein Ruf aus Agnes' Mund, keine Thräne trat in ihr Auge, sie wandte nicht den Blick von dem Antlitz des Vaters, nur ihre beiden zusammengepreßten Hände preßten sich noch fester. Elisabeth, die an der andern Seite des Bettes stand, wagte nicht sich zu rühren, Wilhelm aber, der neben Agnes stand, machte eine ihrer Hände los und hauchte leise einen Kuß darauf. Dann ließ er sogleich ihre Hand wieder los, als bereue er diesen Ausbruch seines sonst so streng verschlossenen Gefühls. Aber dennoch hatte dies Zeichen von Theilnahme von ihm Agnes äußerlich ins Leben zu rückgerufen – obgleich ihr Herz noch todt blieb, bei dem Vater, der ihr Alles in Vergangenheit und Zukunft gewesen. Ja, ihr Alles, sie hatte eben keine einzige liebe Erinnerung, keine einzige Hoffnung außer ihm!

Sie wandte sich jetzt aber ab, weil ihre Füße sie nicht mehr trugen, sie ließ sich von Wilhelm an den nächsten Sessel führen, und da kam denn Elisabeth und kniete vor sie hin und weinte und schluchzte aus tiefer Brust, und Agnes legte ihr die Hand auf den Scheitel und strich ihre Locken aus der Stirne, wie man es einem betrübten Kinde thut, indem sie keinen Blick von des Todten Antlitz wandte. Ihre Züge waren auch wie die einer Todten, nur die glänzenden Augensterne verriethen Leben, aber kein Zucken der Wimper, kein Zittern des Mundes kündete von ihrem Unglück.

Wilhelm beobachtete sie eine Weile, dann sagte er so weich und mild, wie der Ton seiner Stimme nie gewesen:

»Es ist besser, liebes Fräulein, Sie gehen ein wenig ins andere Zimmer. Soll Elisabeth Sie begleiten, oder wollen Sie allein sein?«

»Wie sie will,« sagte Agnes mit einer Stimme, die keiner ihrer Freunde für die ihrige erkannt haben würde; »wie sie will – aber – man muß mich nicht verhindern wiederzukommen – wenigstens noch einmal!«

»Gewiß nicht,« sagte Wilhelm und bot ihr den Arm. Sie schüttelte den Kopf, auch auf Elisabeth stützte sie sich nicht und ging fest und still dahin, wo man es haben wollte. Elisabeth blieb aus Bescheidenheit zurück, Agnes bemerkte es gar nicht, sie war ja doch allein auf der Welt!



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