Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

ANHANG.

Zwei frühe Erzählungen.

Es handelt sich bei den folgenden beiden Skizzen aller Wahrscheinlichkeit nach um die ersten erzählerischen Veröffentlichungen von Louise von Gall.


Memoiren eines Sperlings.

Vor allen Dingen muß ich Eines sagen, damit man mich nicht unrichtig beurtheile. Ich bin ein Philosoph. Ein Sperling – ein Philosoph! – Ja wohl – das ist ja eben das Unglück, daß dieses Niemand begreifen kann! Ich bin leider um ein Jahrhundert zu früh geboren.

Meine Gefährten verstehen mich nicht und ihre gemeine, geistlose Lebensweise ekelt mich an. Unsere Frauen oder Spätzinnen sind mir zuwider mit ihren kleinlichen Intriguen, und ich stehe oder fliege allein in der Welt. – Doch nun zu meiner Lebensgeschichte.

Von meinen Eltern weiß ich wenig zu sagen. Sie machten es, wie alle Eltern, sie fütterten mich so lange, bis ich allein mich ernähren konnte, und dann starben sie den Tod fürs Vaterland. – Man hatte nemlich unter den Menschen erklärt, die Sperlinge seyen schädliche Vögel und ein Fluch des Landes. Anspielung auf die »Spatzenkriege« seit Mitte des 18. Jh. Als erster überlieferter Spatzenkrieg gilt die Aussetzung eines Kopfgeldes gegen Spatzen durch König Friedrich II. von Preußen im Jahr 1744, um die Felder der Domänen vor den Spatzen zu schützen. Wegen der durch deren Dezimierung verursachten starken Ausbreitung der Insekten wurde dieses Kopfgeld jedoch bald wieder abgeschafft. Gleichwohl folgten andere Herrschaften diesem Beispiel. Noch für den Zeitraum 1816 bis 1845 werden aus Westfalen ähnliche Kämpfe gegen die Sperlinge berichtet. Da wurden sie denn, als sie frische Luft auf dem Rande des Daches schöpften und in traulichem Gespräche auf dem Schornstein wandelten, von ein Paar luchsaugigen Jünglingen erlegt.

Einige Zeit darauf bezog ich die Universität Göttingen. Ich hatte mir nemlich ein Nest dicht vor dem Fenster eines Professors erbaut, der wegen des starken Tabakrauchens seine Fenster immer offen ließ – und da kam denn die Weisheit in Wolken gehüllt zu mir heraus, und drang in mein Nest. Aber Göttingen gefiel mir nicht. Es ist kalt und unheimlich, und die Sperlinge sind dort fürchterlich zudringlich. Sobald ich mein Nest auf einen Augenblick verließ, um mir Nahrung zu suchen, umringten sie mich in Schaaren, quälten mich mit ihrer Conversation und sahen mit neidischen Augen auf jedes Körnchen Hafer, das ich verschluckte.

Ich flog nun nach Wien. Die Reise war lang, aber unterhaltend. Da ich mehrere Sprachen verstehe, – ich nenne hier nur die Menschen- und die Schwalbensprache – sammelte ich mir überall Notizen und kam um Vieles klüger in der Kaiserstadt an. Menschen und Vögel sind dort lustig und guter Dinge. Beyde haben vollauf zu leben, und wenn der Vorrath zu Ende geht, sehen sie mit einer Sorglosigkeit dem kommenden Tage entgegen, daß mein zum Ernste gestimmtes Gemüth diese Lebensphilosophie bewunderte. Und gewöhnlich wird dieses Vertrauen ihnen belohnt.

Von den Wiener Sperlingsmädchen kann ich nicht viel Rühmliches sagen; sie sind außerordentlich eitel und kokett. Als sie ihre Netze nach mir, dem Fremdling, auswarfen, sagte ich, um ihnen gleich jede Hoffnung zu benehmen: »Bemüht Euch nicht! An mir ist Euere Kunst verloren – ich bin ein Philosoph.« Da sahen sie sich alle verwundert an, schüttelten die Köpfe und flogen davon. Die Ärmsten! Sie hatten mich nicht verstanden und wußten nicht einmal, was ein Philosoph ist.

Da lobe ich mir die Sperlinge in Berlin, wohin ich mich nach einem dreymonatlichen Aufenthalt in Wien begab. Die haben doch etwas gelehrte Bildung, wenigstens thun sie so, und das ist ja auch Alles, was man von den Frauen verlangt. Wozu tiefere Bildung? Dafür sind wir da. O mein Gott, ich bin vielleicht der Einzige auf Erden von meinem ganzen Geschlechte, der diese Bestimmung des männlichen Sperlings erkennt. Aber nur Geduld, in einem Jahrhundert wird es besser werden.

Auch Berlin verließ ich nach einigen Monden, ich wollte das Meer sehen. An der Küste angekommen, schwang ich mich auf die höchste Spitze eines Mastes. Das Schiff stieß ab.

Es war zwar nicht meine Absicht gewesen, mein Vaterland zu verlassen, nun kam mir aber der Gedanke einer Seereise mit einem Male so lockend vor, daß ich ihm nicht widerstehen konnte, und ich fuhr mit – bis London.

Dort in der großen, volkbelebten Stadt gefiel es mir. Die englische Sprache hat auch so viele Ähnlichkeit mit unserer Sperlingssprache, daß ich mich ganz heimisch fühlte. Aber ich verlor bald – unbegreiflicherweise – so viele Federn, daß ich, um nicht ganz kahl zu werden, schleunigst nach Deutschland zurückkehrte. – Und wirklich, da wuchsen mir die Schwingen wieder herrlich, die kleinen Federn kamen – und nach einigen Wochen war ich wieder ein so schmucker Vogel, wie je.

Auch in München machte ich einen kleinen séjour. Aber die Einförmigkeit der dortigen Conversationen gab mir wenig Hoffnung, meine Kenntnisse zu erweitern, und das ist doch der einzige Zweck meiner Reisen. Es werden dort nemlich nur zwey Themas verhandelt: Bier und Kunst. Von etwas Anderem sprechen die Münchner nicht.

Dieß erinnert mich an einen Berliner Professor, der immer von Kunst und Natur sprach und mich unbeschreiblich damit langweilte. Es ärgerte mich auch. Die Kunst, das ist ein Thema, das ich ihm mit allen seinen Variationen gerne gönnen will; aber die Natur – was versteht ein Berliner Professor von der Natur! – Die Natur, das ist mein Reich. Da könnte ich darüber sprechen und schreiben, will es aber nicht thun, um den Menschen den letzten Rest davon, den sie noch in sich haben, nicht zu verleiden. Ich weiß zwar nicht, ob sie darin gleichen Geschmack mit mir haben, aber für mich ist das beste Mittel, mir eine Sache zuwider zu machen – wenn man sie recht breit erörtert. Das ist auch natürlich. Ich fliege über Alles hinweg, und die Menschen gehen Schritt vor Schritt. Darum sind sie auch in allen Dingen so umständlich, und diese Eigenschaft soll immer mehr bey ihnen überhand nehmen.

Ich war nun des Reisens müde, und hatte genug von der Welt gesehen, obgleich uns Vögeln von der Natur vorzugsweise das Reisen erleichtert ist. Unsere Flügel tragen uns kostenfrey, wohin wir wollen. Wir brauchen keinen Paß, keinen Koffer, keinen Reisesack, kein Dictionnaire, um die Namen der Speisen darin zu suchen, wenn wir in einem fremden Lande Hunger haben.

Nie war Jemand inniger von unsern Vortheilen durchdrungen, als ein gewisser Herr von Zahlhas, der ein Gedicht »Das Glück des Vogels« von Johann Baptist Ritter von Zahlhaas, genannt Neufeld, (1787-1870), einem österreichischen Schauspieler, Sänger, Dichter, Übersetzer, Librettisten, Theaterregisseur und -direktor. Das Gedicht wurde von Karl Keller vertont. darüber machte, welches mir einst ein Student in Berlin am Fenster vordeclamirte. Hier ist es:

Wie hat's ein Vogel doch so gut!
Die ganze Welt ist sein!
Hat immer munt'res, leichtes Blut,
Hat immer frischen, frohen Muth –
Ein Vogel möcht' ich seyn!

Er fliegt, er fliegt! – O Seele du!
Was kannst du mehr – sag' an!
Er fliegt, und schaukelt sich im Nu
Dem Himmel und der Erde zu,
Hinaus – hinab – hinan.

Er flieht sein warmes Bettchen frey,
Er wählt sich frey die Braut;
Hat immer Kleider schön und neu,
Und daß sein Tisch gedecket sey,
Das ist dem Herrn vertraut.

Sein Armstuhl ist der schwanke Zweig,
Die Sonn' ist seine Uhr,
Sein Spiegel ist der klare Teich,
Sein Haus und Hof und Königreich
Die herrliche Natur.

Er braucht kein Dach und keinen Herd
Und keiner Lampe Licht,
Und keinen Harnisch und kein Schwert,
Und Eins, was mehr als Alles werth:
Er braucht des Menschen nicht.

Ich suchte mir nun einen festen Wohnsitz aus. Meine Wahl fiel auf eine der Fensterecken eines alten Hauses in einer kleinen süddeutschen Stadt, deren Namen ich Euch nicht nenne, damit man mich wegen meiner ausgezeichneten Eigenschaften nicht fängt, denn meine Freyheit geht mir über Alles, wenn es auch nur Vogelfreyheit ist. – Dieses Fenster zog mich besonders an durch einen schönen Frauenkopf, den ich dahinter gewahrte, umgeben von blendend weißen Gardinen. Da die erste Jugendzeit hinter mir liegt, und ich mich immer mehr einem stillen, beschaulichen Leben widme, ist mir das Interieur meines Nestes eine Hauptsache. Darum ist es auch mit höchstem Comfort eingerichtet. Das habe ich mir in England, an den Fenstern der fashionablen Häuser vorüberfliegend, abgesehen. Hinein durfte ich nicht, denn fest verschlossen sind dem Fremdling dort alle Räume. Die zweyte Sache, worauf ich einen großen Werth lege, ist eine schöne Aussicht. Wo hätte ich nun eine schönere finden können? Auf der einen Seite – wenn ich in das Freye sah – reizende Berge und Wälder und den Rhein, den stolzen, herrlichen Rhein; auf der andern Seite die Aussicht, oder vielmehr die Einsicht, in das niedlichste Mädchenzimmer. O ich bin ein beneidenswerther Mann!

Eines Morgens lehnte meine kleine Dame sich zu ihrem Fenster heraus und gewahrte meine Garçon-Wohnung. Schon glaubte ich mich verloren – aber nein! freundlich das Händchen nach mir ausstreckend, sagte sie: »Fürchte dich nicht, du Kleiner! Ich werde dich nicht verjagen. Bleibe bey mir und freue dich deines Lebens, so wie ich.« Dabey näherte sie mir immer mehr ihr Händchen – nun ging es mir über den Scherz. Ich flog aus meinem Neste auf einen Vorsprung des Daches, und zwitscherte von da aus recht verbindlich mit ihr. Ich liebe und schätze die Frauen, aber Eines lasse ich mir nicht von ihnen gefallen – fangen lasse ich mich nicht!

Die Kleine zürnte mir nicht ob meiner Flucht. Sie lachte nur und sagte freundlich: »Gehe nur wieder in dein Nest, kleiner Mann. Nun, da ich deine spröde Natur kenne, werde ich dich nicht mehr incommodiren.« Dann schloß sie das Fenster, und verließ bald nachher das Zimmer.

Ich interessirte mich nun täglich mehr für die Kleine. Sie war fast immer allein, nur zuweilen wurde sie von einer ältlichen Frau besucht, die sie Tante nannte. Gottlob! das ist auch ein Vortheil der Vögel, daß sie keine Verwandten haben. Nichts Schrecklicheres kann ich mir denken, als vom Schicksal mit einer großen Familie begabt zu seyn. So viele Tanten und Oheime und Vettern und Basen, mit denen man nicht im Geringsten harmonirt, wenn nicht der Zufall ein gutes Werk thut. Da sind wir Vögel ein glückliches Volk. Keine andere Verwandte, als die wir uns selber wählen – unsere Frau! Und selbst dieses ist ein Glück, nach dem ich niemals streben werde, denn ich liebe es Herr in meinem Neste zu seyn. Und wer versichert mir, daß das Sperlingsmädchen, welches ich wähle, nicht einen herrschsüchtigen Charakter hat? – Und dann ist noch ein Übelstand: wir Vögel haben in unserm Neste nur Ein Appartement, und ich muß meiner Studien halber durchaus zuweilen allein seyn. Wo sollte da nun meine Gemahlinn sich aufhalten? Wenn ich ihr ein eigenes Nest bauete, würden die Sperlinge darüber zwitschern. Nein, besser allein und frey. Doch nun zurück zu meiner Kleinen.

Eines Morgens – ihr Fenster stand gerade offen wegen der schönen, warmen Frühlingssonne – erhielt sie einen Brief. Nachdem sie ihn gelesen, küßte sie ihn mehrmals, aber ganz heimlich und verstohlen, als ob sie sich dessen schäme. O du Arme, dachte ich, du liebst – wie bedauere ich dich! Nun ist es aus mit der Fröhlichkeit! – Und dem war wirklich so. Sie war von nun an entweder überspannt lustig, oder niedergeschlagen und traurig. Stundenlang konnte sie ohne Beschäftigung da sitzen in stummem Sinnen vor sich hinblicken, oder die übertriebensten Phrasen declamiren, und ihr Gesang am Clavier hatte nun auch so etwas Ergreifendes, daß es mir meine Nerven, die ohnehin schwach sind, sehr erschütterte.

Eines Tages kam sie in Thränen aufgelöset und schluchzend in ihr Zimmer, und warf sich weinend auf den Divan. Nach einiger Zeit erhob sie sich und ging an das Fenster, um ihre brennenden Augen abzukühlen. Sie bemerkte mich, wie ich mit traurigen Blicken sie von dem Fensterbret betrachtete, und als ahne sie, daß ich sie verstehe, sagte sie mit weicher Stimme zu mir: »Du guter Vogel, siehst mich so traurig an, als verstündest du meine Leiden. Dir will ich sie klagen, ich habe ja sonst Niemand auf der weiten Welt. Er ist fort – verstehst du mich, liebes Vögelein? Er ist fort – und nun ist Alles aus – Glück und Freude und Lust und Leben.« – Sie fing wieder an zu weinen. Ich bewegte meine Flügel, als Zeichen der Theilnahme; sie verstand mich falsch und sagte: »Ach ja – könnte ich fliegen, wie du – dann flöge ich ihm nach, weit, weit ins ferne Land, wohin sie ihn verjagt mit ihrer Härte. Er war ihnen nicht reich genug – der strenge Vater und die böse Tante haben mir ihn fort getrieben. – Ach lieber, lieber Vogel, wie bin ich so unglücklich!« – Mir brach fast das Herz im Mitgefühl. Lange Zeit war sie nun traurig und sprach selten mehr mit mir, und dann sagte sie auch nur immer: »Ach, könnte ich nur fliegen, wie du!« – Zuletzt sagte sie auch das nicht mehr.

Nun kam der Winter, und ich streckte selten mehr den Kopf zu meinem wohlverwahrten Rest heraus und gab mich gänzlich meinen Studien hin. Als die Kälte anfing nachzulassen, war ich einst von einem kleinen Spazierflug zurückgekehrt, und saß sinnend auf dem Fensterbret, als das junge Mädchen an das Fenster trat. Sie war blaß und ernst und hatte einen weißen Kranz in den Haaren und einen Schleyer übergeworfen. Lange sah sie die Gegend an, indem sie sagte: »Lebe wohl, du schöner Rhein! Lebt wohl, ihr Blumen und Berge! – ich sehe euch zum letzten Mal. Und auch du, lieber, kleiner Sperling – wir trennen uns nun für immer! Oder folge mir, wenn du willst, und wenn ich gestorben bin – was hoffentlich bald geschieht – so fliege zu meiner ersten, einzigen Liebe, nach dem fernen Griechenland, und sage ihm: ich sey gestorben – um ihn!« –

Sie wurde unterbrochen. Ein großer, ernsthafter Mann, mit einem funkelnden Stern auf der Brust, kam herein und sagte, indem er ihr die Hand küßte: »Ich konnte mir nicht versagen, Sie selbst in Ihrem Zimmer abzuholen. – Hier hat also meine künftige Gemahlinn gewohnt!« – Es schien mir, als zucke ein leiser Spott um seine Lippen. – Sie hatte nichts davon bemerkt. »Ist es denn schon Zeit?« fragte sie schüchtern. – »Ja wohl, meine schöne Braut, der Priester wartet unten auf uns – kommen Sie.«

Er gab ihr den Arm. Noch einmal drehte sie das Köpfchen nach mir – dann sah ich sie nicht wieder.

Folgen mochte ich ihr nicht – denn mir ist nur wohl bey Glücklichen. Wäre sie hier geblieben, ich hätte sie nicht verlassen, auch im tiefsten Schmerze nicht. Aber folgen und nachfliegen dem Unglück – das wäre sehr unphilosophisch gehandelt.

Ludwig Leo.


 << zurück weiter >>